Leiderfahrungen

Stefan Zweigs Vermächtnis

In seinem Buch Unser Geist ist Weltgeist entdeckt Karl-Josef Kuschel den Jahrhundertautor Stefan Zweig (1881–1942) neu. In dichter und informierter Weise zeichnet Kuschel den Lebensweg und die Werke Zweigs vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen nach. Zweig war als engagierter Intellektueller, vielgelesener Autor und nicht zuletzt als Jude eng verknüpft mit dem Schicksal seines Europas.

Die Konflikte und Tragödien des aufstrebenden Nationalismus und kriegerischen Wahns gingen durch seine Person hindurch. Offenbar begriff er schon früh, dass er stellvertretend eine geistige Arbeit leisten muss, um die erstarkenden zerstörerischen Kräfte zu bannen – oder, wie er es einmal in einem Vortrag 1932 ausdrückte, Europa von Hass und Misstrauen zu „entgiften“. Beispielhaft steht hierfür seine intensive und kritische Auseinandersetzung mit seinem Judentum, die Kuschel als einen Kampf zwischen identitärer Enge und „Weltbürgertum“ beschreibt.

In seinem Frühwerk beschäftigt sich Zweig insbesondere mit den Leiderfahrungen seines Volkes. Eine Deutung dieses Leidens liegt für ihn in der Anschauung, dass das Hindurchgehen durch das Leiden einen Sieg des Geistigen bedeute – und das Wachhalten übernationaler und humaner Wahrheiten. Zweig selbst hatte zeitlebens ein sehr freies Verhältnis zu seinen jüdischen Wurzeln. Immer stärker wurde es sein Anliegen, das Judentum aus jedweder Enge herauszuführen, insbesondere einer religiösen oder nationalistischen.

So überwindet Zweig auch seine eigene anfängliche Kriegsbejahung und -begeisterung zu Beginn des Ersten Weltkrieges und gelangt zu einem entschlossenen Pazifismus und Internationalismus. Auslöser für diese Wende war seine Tätigkeit als Kriegsreporter, als er im Sommer 1915 die Kriegsgräuel in Galizien aus nächster Nähe wahrnahm. Der Schleier der Kriegsverblendung riss. Als er auf der Rückreise die Wiener Zeitung in die Hand bekam und die dortige Sicht auf den Krieg las, musste er feststellen: „Da standen alle die Phrasen von dem unbeugsamen Siegeswillen, von den geringen Verlusten unserer eigenen Truppen und den riesigen der Gegner, da sprang sie mich an, nackt, riesenhaft und schamlos, die Lüge des Krieges!“

Derart geläutert, suchte er nun auch nach literarischen Wegen, den Geist wieder auszurichten auf die Entgiftung von Zerstörungsgeist und Nationalismus. In seiner „Jeremias“-Tragödie von 1917 entzieht er alle Vereinnahmungen Gottes für Kriegsbegründungen und militanten Nationalismus den Boden. So heißt es: „Abtut Gottes Namen vom Kriege, denn nicht Gott führet Krieg, sondern die Menschen! Heilig ist kein Krieg, heilig ist kein Tod, heilig ist nur das Leben.“ So wirbt er auch darum, das Heil nicht in einem Staat oder Sieg zu suchen, sondern im Geistigen, im Erbauen einer „Unbesiegbarkeit“ im Inneren, im Unsichtbaren. Das gilt auch für die Pläne zur Errichtung eines jüdischen Staates, denen er kritisch gegenüberstand. Denn für Zweig werden die Juden nicht durch einen Staat, sondern den gemeinsamen, universalistischen Geist zusammengehalten. Der Auftrag des Judentums bestehe demnach im Weltbürgertum, im „Auftrag zu transnationaler menschlicher Solidarität und als ‚ewige Revolte‘ gegen jedweden Gedanken an einen Nationalstaat mit dessen verhängnisvollen Zielen“ (Kuschel). Trotzdem war für ihn die Frage der Auswanderung nach Palästina eine Gewissensfrage des Einzelnen. Es gibt für ihn offenbar zwei Wege des Judentums: einer mit nationaler Tendenz und einer mit kosmopolitischer.

Kuschel gelingt es mit seinem Zweig-Buch, Parallelen zwischen der Zeit Zweigs und der heutigen aufzuzeigen. In beiden Zeiten, so Kuschel, stehen die „Ideale von Europäer- und Weltbürgertum“ in Gefahr, „geschändet zu werden“. Indem Kuschel die geistige und humane Kraft des Werks und Lebens Zweigs sichert und neu vor Augen führt, soll eine Gegengeschichte zum wiedererstarkenden Nationalismus samt Verfeindungen Raum greifen. Es wird deutlich, wie schnell und leicht nationalistische Ressentiments die Köpfe und Herzen von Menschen ergreifen und zum Exzess ausarten können. Der Firnis der zivilisierenden Humanität ist dünn. So geht es heute besonders darum, die universal gültige Menschlichkeit zu verteidigen.

Als Zweigs Vermächtnis führt Karl-Josef Kuschel die Schlusspassage seines 1934 erschienen Werkes Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam an: „Immer werden jene vonnöten sein, die auf das Bindende zwischen den Völkern jenseits des Trennenden hindeuten und im Herzen der Menschheit den Gedanken eines kommenden Zeitalters höherer Humanität gläubig erneuern.“

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Stefan Seidel

Stefan Seidel ist Theologe und Psychologe und als Leitender Redakteur der evangelischen Wochenzeitung DER SONNTAG in Leipzig tätig. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Entfeindet Euch! Auswege aus Spaltung und Gewalt“ (Claudius-Verlag München).


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