Achsen-Zeit

Die (Neu-)Entdeckung des soziologischen Romans
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Die Rückkehr nach Reims

Ein großartiges, erfindungsreiches Buch, das einen mutigen Gattungstwist hingelegt hat: Roman/Erzählung plus Soziologie. Klar: Die soziologische Sichtweise war als Erzählhaltung auch in deutlich früheren Romanen und Erzählungen weit verbreitet, hier aber wird sie als Deutungskunst explizit thematisiert und ihre Stärke gefeiert und ihre Grenzen markiert. Und wer hat’s erfunden? Nach den prächtigen, opernsatten und die Diversität feiernden Inszenierungen während der Eröffnungs- und Schlussfeier der Olympischen Spiele in Paris fällt die Antwort nicht schwer: natürlich ein Franzose. Didier Eribon, Schüler des großen Michel Foucault und zugleich Autor einer denkstarken Biographie über den eigenen Lehrer. 

Dieser Gattungstwist hat einen Trend ausgelöst. Und: Ich bin ein Fan dieser Literatur. Deshalb ist die Stimmhöhe im folgenden Text hoch. Es ist eine schlecht kaschierte Werbung. Was von meinem Vater bleibt. Von José Henrique Bortoluci. Eine Hommage an den Vater, der über Jahrzehnte monatelang in seinem LKW in Brasilien, diesem riesigen Land, auf Achse war und nur selten seinen Sohn und seine Ehefrau zu Gesicht bekam.

Lesen wir hinein: Wörter sind Straßen. Mit ihnen verbinden wir die Punkte zwischen der Gegenwart und einer Vergangenheit, zu der wir keinen Zugang mehr haben. Wörter sind Narben, die Überreste der Erfahrungen beim Zuschneiden und Zusammennähen der Welt, bei Zusammenflicken ihrer Teile, beim Zusammenklammern dessen, was auseinanderzureißen droht. Wörter waren die Geschenke, die mir mein Vater in meiner Kindheit in seinem LKW mitbrachte. Sie existieren für sich – Fahrersitz, Transamazônica, LKW, Fernstraße, Amazonaswelle, Belém, Heimweh –. oder fügten sich zu Geschichten über eine Welt zusammen, die mir viel zu groß erschien.

Und dann eine Reflexion, die mich gepackt hat. Wie erzählt man die Lebensgeschichte eines einfachen Menschen? Herausgefordert werde ich vom Schweigen der Quellen, der Auslöschung der Zeugnisse derer, die die Welt erbauen, die ihre Geschichte mit Händen und Füßen schreiben, mit gesprochenen und gesungenen Worten, mit Schweiß und geschundener Haut.

Oralität wird gefeiert

Als Soziologe ist die Antwort relativ einfach. Die Oralität wird gefeiert, der Vater zum Gespräch geladen. Kursiv gesetzt, präsentiert der Autor kleine, gefangennehmende Erzählungen des Vaters, die ihn plastisch vor Augen stellen. Dieses Buch ist eine Studie in Empathie, ganz frei von falscher Scham, von Vorwürfen, von Emanzipationsallüren, grundiert von tiefer Zuneigung. 

Wir lernen die Vorgeschichte kennen – der Nachname verweist auf Italien, auf die Sprache des Katholizismus und mit ihr sind die patriarchalischen Codes mitgereist. Als größte Sünde wird die Faulheit ausgemacht. Knapp formuliert: Kirche, Rathaus und Bordelle bildeten eine Art politische Heilige Dreifaltigkeit des Landesinneren: Katholizismus, patriarchale Männlichkeit und lokaler politischer Machismus.

LKW-Fahrer im Brasilien jener Jahre haben keinen nine-to-five-Job, sondern die Arbeitstage dauern mindestens von vier Uhr in der Früh bis achtzehn Uhr am Abend. Täglich, bitteschön. Und überall droht das Schuldengespenst, denn die LKW-Fahrer sind ihre eigenen Unternehmer und müssen die Schuldenlast der teuren Trucks stemmen. Drogen wie Speed stehen auf dem täglichen Speiseplan. Mit einer Formulierung, die an Marshall McLuhan erinnert, schreibt Bortoluci: Viele Fahrer betrachteten ihren LKW als Zuhause oder als Erweiterung ihres Körpers. Und trotzdem sind die Feiertage, die oft im Führerhaus verbracht werden, von tiefer Einsamkeit geprägt. Aber auch das gehört zum Lebensstil: Es bilden sich Freundschaften zwischen den Truckern, ein festes Band der Solidarität wird geknüpft. Sitzt ein Truck im Dreck und Matsch fest, wird geholfen, oft tagelang. Termindruck hin oder her.

Und dieser Vater war dabei, als die viertausend Kilometer weitreichende Fernstraße quer durch Brasilien gebaut wurde, mit dem Ergebnis: Die Fernstraße zerriss die Territorien von 29 indigenen Völkern, was zu Massakern, Vertreibungen, Kinderprostitution und der Zerstörung jahrtausendealter Kulturen führte. Mit einer im Jargon Heideggers siedelnden Formulierung schreibt Bortoluci: Der Wald ist in die Fernstraße verbaut, dieses lebendende Mahnmal unserer Katastrophen. Einen Vorwurf an den Vater? Nein. Aber der Sohn deutet die Krebserkrankung seines Vaters (Darmkrebs ist ein häufig auftretender Krebs bei Truckern) so: Wie die Zerstörung des Waldes, verkörpert Krebs das Evangelium des Wachstums um jeden Preis. 

Schamfrei beschrieben

Das späte Leiden des Vaters wird schamfrei beschrieben. Vater und Sohn verbringen viel Zeit miteinander – auch in der kafkaesken Maschinerie der Krankenhäuser, wo der Körper meines Vaters (…) durch das medizinische Wissen zersplittert wurde, um punktgenau helfen zu können. Der Lebenswille des Vaters und der scherzhafte Trotz garantieren zumindest die Illusion von Einheit: Ich bin eine Umweltkatastrophe – sagt er im Scherz und meint das klebrige organische Material, dass sich in seinen geriatrischen Windeln sammelt.

Das ist die eminente Stärke des Buches: Individuelles Leid, das Ringen und das Schicksal einer Figur, fasst uns Lesende an, leibt Mitgefühle ein, kann sogar Trauer auslösen. Der Soziologe Bortoluci wird, so der herrliche Perspektivenwechsel, von den Erzählungen seines Vaters selbst gelesen, denn häufig muss er erfahren, dass das soziologische Vokabular nicht hinreicht, um das zu beschreiben, was er hautnah erlebt. Nicht zufällig zitiert Bortoluci Susan Sontags Essay Das Leiden anderer betrachten, der die Vorstellung hinterfragt, dass Bilder vom fremden Leid, wie sie beispielsweise in Zeiten bewaffneter Konflikte die Zeitungen überschwemmen, eine Quelle des Mitgefühls mit echter politischer Kraft sein können. Dieser Roman (sofern man die Gattungsbezeichnung beibehält) zeigt: Es sind vor allem individuelle Lebensschicksale, die Empathie einleiben und politisch wirksam werden können.

 

Kleines Nachwort:

Im Juli erschien von Papst Franziskus der Brief über die Bedeutung der Literatur in der Bildung. Ein starker Text.

Es ist eine Feier des Lesens und der Literatur (Vergleiche die kluge Besprechung von Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung vom 12./13. August €). Literatur, so der Papst, ist die Agentur der Verlangsamung, die sogar oft einen besseren Dienst leistet als ein (flüchtig hingeworfenes) Gebet. Der Papst deutet mit alten Traditionen das Lesen als Wiederkäuen, zeigt sich als Kenner avancierter Diskurse, feiert die Horizonterweiterung und die Faszination, vom Text gelesen zu werden (Rezeptionsästhetik), gibt sich als Anhänger tragischer Figuren zu erkennen. Im Hintergrund steht der Inkarnationsgedanke: Gott wurde Mensch mit allen Stärken und Schwächen irdischer Existenz. Seibt erinnert mit dem Romanisten und Kulturwissenschaftler Erich Auerbach daran, dass erst durch das Christentum menschliches Leid auch der kleinen Leute tragödienfähig wurde. Das freilich ist nur die halbe Wahrheit, denn das Christentum ist mit der Idee von Ostern Tragödienkritik.

 

Lesetipps:

José Henrique Bortoluci: Was von meinem Vater bleibt. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Maria Hummitzsch, Berlin 2024.

Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Aus dem Französischen von Sonja Fink, Berlin 2024.

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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