Frauen sind die Norm. Während sonst meist Männer den Maßstab abgeben, wurde das herkömmliche Trauermodell primär an älteren Witwen entwickelt. Das erklärt einiges von dem, was an Klischees über Männertrauer herumgeistert. Etwa: schlechter Zugang zu eigenen Gefühlen, Schwierigkeiten über den Verlust zu reden.
Die Autoren Norbert Mucksch und Traugott Roser brechen diese defizitäre und tendenziell diskriminierende Perspektive auf. Im Spannungsfeld von biologischem Geschlecht, Gender, sozialen und kulturellen Normen verorten sie Trauer von Männern immer wieder neu, ohne endgültige Antworten liefern zu wollen.
Dass die Klischees schon geschichtlich fragwürdig sind, zeigt der unterschiedliche Umgang mit Emotionen in Romantik, Wilhelminismus oder in der NS- und Nachkriegszeit. Fast scheint es, als ob wir noch immer dabei sind, uns vom Schlagschatten des „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ zu erholen. Doch erzählt der US-amerikanische Trauerforscher Kenneth J. Doka in einem für das Buch geführten Interview über Familienbeerdigungen in seiner Kindheit: Seine spanisch-katholischen Onkel hätten ihn „hochgehoben und in den Arm genommen und gesagt: Weinen ist in Ordnung, es bedeutet nur, dass du die Person geliebt hast“. Dann hätten sie ihn „wieder auf die Füße gestellt“. Seine ungarisch-protestantischen Onkel dagegen hätten ihn an der „Schulter gepackt und gesagt: Sei stark!“
Ohne Wertung und prinzipiell ohne geschlechtliche Stereotypisierung kommt Dokas Skalierung mit den beiden Polen intuitive, gefühlsbetonte Trauer sowie instrumentelle, kognitiv-körperliche Trauer aus. Die Autoren schließen daran an, auch weil sie heteronormative Zuschreibungen obsolet macht. In neun sehr unterschiedlich gelagerten Fallbeispielen kommen Männer zu Wort, die gut traurig sein, weinen und reden können.
Eindrücklich liest sich die jenen Abschnitt einleitende Selbstbeobachtung des US-amerikanischen Psychoanalytikers Irvin D. Yalom: Ein Bild von seiner Frau – extra nach ihrem Tod beschafft – dreht Yalom irgendwann zur Wand. Wenn er es gelegentlich umwendet und gezielt anschaut, steigt „mehr Schmerz, als ich ertragen kann“, auf. „Ich weine laut. Ich weiß nicht, was ich tun soll. […] Meine Tränen fließen, während ich diese Zeilen schreibe, und ich halte inne, trockne meine Augen und schaue durch unser Fenster auf die Zweige der alten Eiche, die sich dem klaren blauen Himmel entgegenstrecken.“
Zugleich würdigen die Autoren den instrumentellen Umgang mit Trauer. Ja sie dringen geradezu darauf, dass im Kreis sitzen und über Gefühle reden nicht für alle geeignet ist. Trauerpilgern, Trauerwandern, körperliche Aktivität und seelische Verarbeitung in einem ist eine Möglichkeit der Trauerbegleitung, die noch mehr Aufmerksamkeit verdient. Absolut nachvollziehbar wird das am Exempel des Jakobswegs als Trauerweg beschrieben.
Weiterhin wird auf Trauer-Tattoos – besser „memorial tattoos“ – aufmerksam gemacht, werden Bilder, Songtexte und Filme für die praktische Arbeit mit trauernden Männern vorgestellt. Subkutan schleicht sich dabei Klischeeartiges ein, etwa bei der Empfehlung, man solle Männer in Kneipen zum Bier am Trauertresen einladen. Aber womöglich ist das so verkehrt wiederum auch nicht, angesichts der – oft mehrheitlich von Frauen besuchten – etablierten Trauercafés.
Den Autoren ist jedenfalls klar, dass sie sich als „Männer von Bildern und Vorstellungen männlichen Verhaltens in Trauersituationen nicht frei machen“ können. Bloß gut. Denn die unterschiedlichen Ansätze und Erfahrungen, der Verzicht auf Eindeutigkeiten, das bewusste Stehenlassen des unverrechenbar Individuellen machen gerade die Offenheit dieses Praxisbuchs aus, in dem „es nicht um Männertrauer geht, sondern um trauernde Männer“.
Sebastian Kranich
Sebastian Kranich ist Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen.