Wie verhält sich ein Mensch, der erfährt, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hat? Um diese Frage kreist Bernhard Schlinks neuer Roman Das späte Leben: Martin, ein 76-jähriger Juraprofessor, seit zwölf Jahren mit einer über dreißig Jahre jüngeren Frau verheiratet und seit sechs Jahren Vater eines Sohnes, bekommt völlig unerwartet die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs mit einer Lebenserwartung von höchstens sechs Monaten.
Diese Mitteilung macht ihm sein Arzt an einem Frühlingsmorgen, nachdem er den Sohn in den Kindergarten gebracht hat. Die Natur um ihn herum erwacht zu neuem Leben, der Sohn David entwickelt sich mit jedem Tag körperlich, geistig und seelisch. Und sein Leben neigt sich rasch dem Ende zu. Er wird, wenn es gut geht, den Herbstbeginn erleben, das Erwachsenwerden des Sohnes nicht mehr.
Wie sich durch diese Nachricht Martins Ehe verändert, seine Beziehung zu David, wie sein gesamtes Leben umgestürzt wird, bildet neben der fortschreitenden Krankheit mit ihren Höhen und Tiefen den Inhalt des Buches und wird von Ulrich Noethen meisterlich erzählt. Ja, er erzählt. Nie hat man den Eindruck, er lese einen fertigen Text ab. Wenn er einzelnen Personen die Stimme leiht, hören wir ihm beim Nachdenken zu, beim Suchen nach den passenden Worten, nach dem angemessenen Tonfall. Und wenn er erzählt, hält er zwar Distanz, bleibt aber nie unbeteiligt.
Wie in Bernhard Schlinks Büchern oft, gibt es völlig unerwartete Wendungen. Von ihnen soll hier nicht geschrieben werden. Sie machen das Zuhören bis zum Schluss spannend. Bis zu einem Schluss, der uns Zuhörer nicht ungetröstet entlässt.
Jürgen Israel
Jürgen Israel ist Publizist und beratender Mitarbeiter der "zeitzeichen"-Redaktion. Er lebt in Neuenhagen bei Berlin.