Anrührend

Evangelische Missionsgeschichte

Über die evangelische Missionsgeschichte haben viele Menschen eine entschiedene Meinung, aber nur wenige verfügen über die dafür eigentlich nötigen Kenntnisse. Vor kurzem konnte ich zwei ausgewiesene Historiker mit dieser simplen journalistischen Frage in Bedrängnis bringen: Wie viele evangelische Missionare gab es eigentlich? Das wussten beide nicht zu beantworten. Meine eigenen Recherchen führten zu diesem doppelten Ergebnis: Genaue Zahlen sind schwer zu bekommen, aber es waren erstaunlich wenige Männer und Frauen. Was aber wenige Aktivisten bewirken können, haben vor allem die Herrnhuter – in ihrer Kirchenlitanei pflegten sie zu bitten: „Bewahre uns vor unseligem Großwerden!“ – bewiesen. Sie waren die Ersten, die von Deutschland aus nach Übersee aufbrachen – nicht zuletzt, weil die Leiden der Plantagensklaven in der Karibik sie erschüttert hatten.

Nun hat Andreas Tasche, ein ausgewiesener Kenner der Herrnhuter Mission, eine entscheidende, aber geheimnisumwölkte Episode herausgegriffen und mit geradezu detektivischem Spürsinn erforscht. Es gab nämlich einen Moment, da schien Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, das große pietistische Genie, ganz nach Nordamerika umsiedeln zu wollen. Warum? Und weshalb kam er doch wieder zurück? Dazu war in der bisherigen, umfassenden Forschung zur Herrnhuter Mission wenig zu finden. Wie nun Tasche diese vermeintlich nebensächliche Lücke füllt, führt zu einer Reihe von unerhörten Geschichten, die er so spannend erzählt, dass man ebenso gebildet wie unterhalten wird. Dazu tragen auch die zahlreichen Abbildungen bei.

1722 kamen die ersten böhmischen Glaubensflüchtlinge auf Zinzendorfs Gut an; 1727 wurde die Herrnhuter Brüdergemeine gegründet; 1732 nahm sie die Missionsarbeit auf; nachdem Zinzendorf zur Karibikinsel St. Thomas gereist war, besuchte er 1738/9 auch Nordamerika und – keine Selbstverständlichkeit – überlebte diese fromm-lebensgefährlichen Abenteuer. 1741-43 unternahm er eine zweite Reise. Jetzt schien er für immer bleiben zu wollen. Seine möglichen Motive sagen viel über den Charakter der frühen evangelischen Mission aus. Da war die Sehnsucht, in einer Neuen Welt von vorn zu beginnen: ohne die politischen Konflikte und sozialen Machtstrukturen (zum Beispiel die Standesregeln) der Heimat. Da war zudem der Wunsch, im gelobten Land der Religionsfreiheit das eigene Glaubensleben ohne die Anfeindungen der lutherischen Staatskirche und der pietistischen Konkurrenz aus Halle zu gestalten – mit all dem, was damals als skandalös galt (zum Beispiel Frauen im Leitungs- und Verkündigungsdienst). Lange wurde ein weiteres, höchstpersönliches Motiv geheim gehalten: Zinzendorfs Liebe zu seiner jungen Mitarbeiterin Anna Nitschmann, die das Verhältnis zu seiner Ehefrau Erdmuth Dorothea schwer belastete. In Amerika, so schien er heimlich gehofft zu haben, würde er mit Anna öffentlich ein gemeinsames Leben führen können.

Tatsächlich gelangen Zinzendorf einige Missionserfolge. Besonders hervorzuheben ist die Begegnung mit den mächtigen Chiefs der sechs Irokesen-Nationen am 17. August 1742 – tatsächlich „auf Augenhöhe“. Doch letztlich gab es zu viele Schwierigkeiten: Zinzendorf sprach kaum Englisch; seine Gegner machten Stimmung gegen ihn; den Siedlern blieb der deutsche Aristokrat mit seiner manchmal überzuckerten Frömmigkeit fremd. Hinzu kamen Nachrichten über Krisen und Konflikte der Brüdergemeine in Europa. Zinzendorf kehrte also zurück.

Tasche erzählt eine ferne, in vielem befremdliche und zugleich anrührende Geschichte. Sie zeigt, wie viele Merkwürdigkeiten und Zufälle über den Verlauf der Missionsgeschichte entschieden. Und sie macht deutlich, dass die frühe evangelische Mission nicht zuletzt von diesem Motiv angetrieben war: Europamüdigkeit.

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Foto: EKDKultur/Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.


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