Warum haben wir keine Freude am Austausch von Meinungen, warum sind heute alle so dünnhäutig, und warum werden allerorten Meinungskorridore markiert? Der Hamburger Theologe Horst Gorski bedauert die mediale Debattenkultur unserer Tage und wirbt für mehr Freude am Diskurs.
Ich muss mal meinem Herzen Luft machen. Ich finde die vielen Gesprächsrunden, die ich im Fernsehen sehe, zumeist ganz furchtbar. Da werden ritualisierte Angriffe zum hundertsten Male aufgeführt, ohne dass Sachverhalte klarer würden. Und je nach aktuellem Thema gibt es jeweils einen eher unangefochtenen Meinungskorridor und von ihm definierte Abweichungen. Im Augenblick sind das die Waffenlieferungen an die Ukraine und die Stationierung von Tomahawk-Raketen auf deutschem Boden. Wer dafür ist, kommt eher ungeschoren durch die Gesprächsrunden und dessen Argumente werden wenig hinterfragt. Wer dagegen ist, wird heftig attackiert. Dass „friedensbewegt“ als abfällige Bezeichnung benutzt wird, zeigt, wie heruntergekommen unsere Diskurskultur ist.
Vielleicht bin ich altmodisch, aber meine Vorstellung von einer liberalen und deliberativen Demokratie ist, dass in ihr freie, offene und vernunftgerichtete Dialoge geführt werden. Journalisten stelle ich mir als Anstifter und Moderatoren solcher Dialoge vor. Aber wenn ich mich frage, wo ich im Fernsehen zuletzt eine vernunftgerichtete und an vernünftiger Sachklärung interessierte Diskussion gehört habe, dann muss ich lange suchen. Weit überwiegend scheint es um Krawall zu gehen, weil er Quoten bringt. Das wird dem Ernst unserer Lage nicht gerecht. Je ernster eine Lage ist, desto notwendiger braucht eine demokratische Gesellschaft unterschiedliche Meinungen, die miteinander ins Gespräch gebracht werden. Das ist keineswegs ein Plädoyer für Beliebigkeit, ganz im Gegenteil.
Ein Wort, das in letzter Zeit Karriere gemacht hat, ist „evidenzbasiert“. Damit ist gemeint: Auf der Grundlage von Fakten erscheint ein Urteil oder ein Handeln evident, also sich selbst erklärend und nicht anfragbar. Vielleicht sind es die vielen Fakes, die den Wunsch verstärken, durch Fakten Klarheit in der Urteilsbildung zu gewinnen und dies möglichst unwidersprochen zu tun. Evidenzbasiert zu argumentieren scheint dafür das Mittel der Wahl zu sein.
Sollen und Sein
Doch dabei kann man über das Ziel hinausschießen. Eine alte Regel in der ethischen Urteilsbildung lautet, dass man das Sollen nicht einfach aus dem Sein ableiten kann. Das heißt, aus bloßen Fakten ergibt sich nicht einfach eine Meinung oder Position. Vielmehr spielen an dieser entscheidenden Nahtstelle im Übergang von Fakten zur Urteilsbildung zahlreiche Voraussetzungen und Kriterien eine Rolle, deren Anwendung zu einem bestimmten Urteil führt. Es gehört zu aufgeklärten, vernunftgerichteten Dialogen dazu, über diese Voraussetzungen, Kriterien und ihre Anwendung Rechenschaft abzulegen. Nur dann werden Urteile dialogfähig und anschlussfähig an andere Urteile.
Deshalb: Warum freuen wir uns nicht, dass andere Menschen anderer Meinung sind als wir? Das ist doch das Beste, was uns in einer liberalen und deliberativen Demokratie passieren kann! Alle Meinungen werden gebraucht. Offenbar halten viele Menschen dies nicht aus, finden es zu sehr verunsichernd und möchten lieber Eindeutigkeit herstellen. Aber die meisten unserer aktuellen ethischen Konflikte sind nicht eindeutig auflösbar. Das gilt auch für die Frage der Waffenlieferungen und Waffenstationierungen.
Die Politik muss Entscheidungen treffen, ja. Aber sie muss ihre Entscheidungen begründen. Und in einer demokratischen Gesellschaft brauchen politische Entscheidungen gesellschaftliche Diskurse in der Vielfalt der Meinungen. Offenbar ist das schwer auszuhalten. Viele scheinen Angst zu haben, dass dann alle Meinungskatzen grau werden und jeder alles behaupten kann. Angst also vor dem Trumpismus. Aber aus Angst vor dem Trumpismus keine vernunftgerichteten Dialoge mehr zu führen, sondern sich auf scheinbare Evidenzen zurückzuziehen, kann nicht die Lösung sein. Dann gäben wir auf, was die Demokratie uns als Erbe der Aufklärung schenkt.
„… noch nicht erlöste Welt“
Ja, es braucht Faktenklärungen. Es braucht Meinungen, Positionen, ethische Urteilsbildung und Haltung. Haltung ganz besonders. Aber es braucht eben auch den Ausweis, welche Voraussetzungen und Kriterien wie angewandt wurden, um zu Meinungen, Positionen, ethischen Urteilen und Haltungen zu kommen. Nur dann können verschiedene Meinungen in Dialog gebracht werden.
Wir leben und handeln in der „noch nicht erlösten Welt“, wie die Barmer Theologische Erklärung von 1934 sagt. Die Kirche „erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten“. (Barmen V) Es gibt also auch eine Verantwortung der Regierten! Diese Verantwortung kann nur gemeinsam wahrgenommen werden. Und dazu braucht es unterschiedliche Meinungen und Menschen. Wie gut, dass es sie gibt!
Horst Gorski
Dr. Horst Gorski ist Theologe und war unter anderem von 2015 bis Juli 2023 theologischer Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtsbereiches der VELKD in Hannover.