Paulus hätte nicht Halt gemacht

Das Gift autoritärer Parteiung – Erinnerungen aus Korinth
Sahra Wagenknecht, Gründerin und Namensgeberin des BSW, am 29. Juni 2024 in Potsdam.
Sahra Wagenknecht, Gründerin und Namensgeberin des BSW, am 29. Juni 2024 in Potsdam.

Anlässlich des Artikels von Horst Gorski aus der vergangenen Woche über die missliche Diskurskultur in Deutschland reflektiert Eve-Marie Becker, Professorin für Neues Testament in Münster, anhand Parteiungen und Spaltungen in Korinth, von denen in der Bibel die Rede ist, über die Konfliktkultur unserer Tage und plädiert für eine Klärung grundlegender Inhalte.

Die Frage: „Wie politisch darf die (evangelische) Kirche sein?“ mutiert neuerdings zunehmend in die Frage: Wie parteipolitisch darf die (evangelische) Kirche sein? Sind AfD-nahe Pfarrer in Ostdeutschland und andernorts willkommen? Oder eher Pastorinnen der Nordkirche oder pensionierte Vizepräsidenten des EKD-Kirchenamtes in Hannover, die nun dem BSW angehören? Die Bischofskonferenz der VELKD hat im März dieses Jahres klar vor der AfD gewarnt. Zugleich bekennt sich qua Mitgliedschaft der frühere Leiter des Amtes der VELKD zum BSW. Der Meinungsstreit über Parteisympathien und -zugehörigkeiten trennt – ähnlich wie es in den Lagerbildungen der USA seit Jahren zu beobachten ist – Familien und Gemeinden. Schismatische Zustände drohen. Wer gibt hier Orientierung, und wer führt zusammen? Erhitzte Gemüter und Rechthaberei, Selbstüberhebung und Stigmatisierung jedenfalls sind der Nährboden für die Vergiftung der Gemeinschaft. Die Berufung darauf, der einen „richtigen“ Parteiung anzugehören, stiftet Zerwürfnis und beendet das Gespräch.

Spaltungen und Parteiungen gab es schon im entstehenden Christentum. Als Neutestamentlerin denke ich sogleich an Paulus und die Korinther. In dieser Gemengelage versuchte der Apostel die Konflikte zu versachlichen und die Kernthemen in Korinth zu identifizieren, bei denen offenbar länger angestauter Diskussions- und Klärungsbedarf herrschte, der zu Entzweiung geführt hatte. Dazu gehörten ganz praktische Fragen der Lebensführung (zum Beispiel: „Wer soll wann wie heiraten dürfen?“), aber auch theologische Grundfragen, die die christliche Gemeinschaft wesenhaft betrafen (zum Beispiel: „Kann Auferstehung überhaupt geglaubt werden?“) oder eben direkt Parteiprogramme, die sich an Personen festmachten: ‚Ich gehöre zu Paulus, ich zu Kephas, ich zu Christus.‘ Dispute hatten sich aufgetürmt. Von Einheit und Gemeinschaft konnte, als Paulus den 1. Korintherbrief schrieb, schon kaum mehr die Rede sein. Was also war zu tun?

Viele Kontroversen

Der Apostel greift zunächst viele Kontroversen so auf, dass die dahinterstehenden Sachfragen erkennbar werden können: Worum geht es eigentlich beim Thema Ehe? Wer ist betroffen? Was sagt Christus? Was können wir sagen? Paulus bearbeitet die Kontroverse zweitens so, dass er symmetrisch vorgeht. Er bedenkt das, was hier zur Diskussion steht, aus der Sicht aller, die betroffen sind: Frauen und Männer, Verheiratete, Unverheiratete, Witwen, Sklaven, Freie und so weiter. Denn die christliche Gemeinschaft ist plural, und genau darin liegt ihre resiliente Stärke und ihre Anziehungskraft für die, die nicht wissen, ob sie dazu gehören dürfen. Paulus setzt drittens auf die intellektuelle Kompetenz im pluralen Stimmengewirr. ‚Stopp: Hört einmal zu! Woraufhin lebt Ihr eigentlich? Bedenkt die Kürze der Zeit! Wie könnt Ihr trotz Verschiedenheit miteinander in der Zeit, die bleibt, leben? Könnt und solltet Ihr nicht einander helfen und dem, der schwach ist, zuerst beistehen?‘ Paulus erinnert viertens daran, dass die Gemeinde nicht um ihrer selbst willen da ist: Sie verkörpert Christus – nichts weniger als das. Auferbauung der Gemeinde – in Anerkennung ihrer verschiedenartigen Talente – dient der Präsenzmachung Christi in dieser Welt.

Und wofür Christus in dieser Welt steht, lässt Paulus nicht offen: Es ist die Liebe (agape), die Gott und Christus mit der Gemeinde und in der Gemeinde untereinander verbindet. Erkenntnis bläht auf. Liebe sucht das Beste für die Andere/den Anderen. Ohne die Liebe ist letztlich alles Streben sinnlos, vergeblich, der Zerstörung anheimgegeben – sogar im wohlgemeinten Lebensraum Christus-orientierter Existenz. Denn nur die Liebe kann die Grenzen des Glaubens oder Hoffens auf Gemeinschaft mit Gott hin überschreiten.

Freilich hatte Paulus keine Vorstellung vom Leben in einer (post-)modernen demokratischen Gesellschaft, in der sich subkutan autoritäre und destruktive Kräfte formieren, um Eindeutigkeiten herzustellen. Oder doch? Paulus kann keine Orientierung geben bei der Frage, ob ein evangelischer Christ/eine evangelische Christin besser Mitglied bei den Grünen, Roten, Schwarzen oder Gelben sein sollte. Ob AfD und BSW für Christen und Christinnen wählbar seien oder nicht, lässt sich kaum von Paulus her entscheiden. Der Apostel ist um die Mitgliedschaft in der christlichen Gemeinschaft besorgt. Die Kontaktpunkte der ecclesia mit der Gesellschaft „draußen“ waren zwar tagtäglich auch in Korinth gegeben, wurden von Paulus aber nur im Konfliktfall thematisiert. „Gleicht Euch nicht dieser Welt an!“ (Römer 12,2)

Paulus war Gemeindeleiter, kein Weltzeitpolitiker. Als solcher mühte er sich darum, dass die Gemeinden nach außen hin störungsfrei blieben, denn die politischen Gewalten sind – so war er sich bewusst – Machtgefüge eigener Art und daher zu fürchten (Römer 13,1-3). Der paulinische Umgang mit Parteiungen taugt also zunächst nur als Lehrstück für die Frage, wie sich das Leben innerhalb der christlichen Gemeinschaft ordnen und zusammenführen oder abstrakt: wie sich Kirchenpolitik gestalten lasse. Gleichwohl strahlt die paulinische Aufforderung zu einem ‚störungsfreien, frommen Leben‘ in der christlichen Gemeinschaft (1. Thessalonicher 4,11), das nach dem ‚Guten‘ als dem, was dem ‚Willen Gottes‘ entspricht, strebt, auf das christliche Leben in der Welt mit dem Ziel, ‚der Stadt Bestes zu suchen‘ (Jeremia 29,71. Timotheus 2,2), aus. Wie also kann der Christenmensch am besten so in der Welt leben, dass er auch dem Gemeinwesen dient und das Gemeinwesen – umgekehrt – der ecclesia Lebensraum gewährt?

Auferbauung des Bestehenden

Obstruktion und Revolution, Revanchismus und Restauration wären keine paulinischen Kategorien. Hätte der Völkerapostel gewusst, dass sich evangelische Kirchen einmal völlig unbehelligt und frei – so wie in der Bundesrepublik der Fall und wie nie zuvor in der Geschichte des Christentums möglich – würden entwickeln und entfalten können: Er hätte umso mehr für das universale Zeugnis der Liebe geworben, dessen die Welt ringsum bedarf. Der Apostel wollte Zusammenwachsen – nicht Zerstörung oder Aushöhlung kommunitärer Aufgaben, von denen auch christliches Leben betroffen wäre. Paulus hätte sicher nicht gegen etablierte und über viele Jahrzehnte hinweg verlässliche, freiheitliche politische Parteien wie SPD, CDU oder die „Ampelregierung“ mobil gemacht. Denn aus dem: „Prüft aber alles, das Gute behaltet!“ (1. Thessalonicher 5,21), geht auch hervor: Paulus suchte den Meinungsstreit nicht aus Gründen von Besserwisserei oder Populismus, sondern zum Zweck der Auferbauung des Bestehenden, und zwar trotz paradoxalen Wissens, dass diese Welt – und mit ihr wir – vergänglich sind (1. Korinther 7,31).

Und damit zurück nach Korinth: Die überklugen und wetteifernden Korinther waren – wie es scheint – nicht klug genug, nach versöhnter Verschiedenheit im Bestehenden zu suchen. Bald schon ließen sie sich von demagogischen Blendern, sogenannten Überaposteln, aufstören, weil deren message trendy und eindeutig klang. Was einst in Korinth ertönt haben mag: ‚Mit Paulus habt Ihr den schlechtesten Gemeindeleiter aller Zeiten!‘, klingt ähnlich wie das, was die namenspendende Gründerin des BSW wortreich in verschiedensten Talkshows und Debattenbeiträgen über die gegenwärtige Regierungsarbeit sagt. Im 2. Korintherbrief deutet sich an, wie die Korinther begannen, rattenfängerischen Botschaften nachzulaufen, die einfacher schienen als die intellektuellen Zumutungen, die ihnen Paulus abverlangt hatte. Neue Scheingemeinschaften entstanden – nunmehr gegen Paulus. Würden die Korinther die unterschiedlich gefärbten Demagogien samt ihren autoritären und revanchistischen Untertönen entlarven können?

Die Bitterkeit, mit der Paulus die Irrläufe der Korinther verfolgt, zeigt an, dass die Wege in nur wenigen Jahren weit geworden waren. Doch Paulus hätte nicht Halt gemacht. Im Lichte Christi – so war er, der selbst nicht herrschen, sondern dienen wollte, überzeugt – würden sich obstruktives Handeln, selbstmächtige Interessen und eigennützige Halb- oder Unwahrheiten so wie Demagogie und böse Verführung aufdecken lassen. Die Biographie des Paulus wie der 20. Juli 1944, an dessen 80. Wiederkehr wir dieser Tage gedachten, erinnern allerdings daran, wie hoch der Blutzoll werden kann. Leitplanken für die politische Orientierung (evangelischer) Christen sind also da, auch wenn sich aus dem Evangelium keine parteipolitische Programmatik ableiten lässt. Doch aus dem Wissen um die neue Weltzeit Gottes, die die ecclesia schon jetzt abbilden soll und kann, lässt sich zumindest die Kraft zur Unterscheidung dessen, was das Miteinander konstruktiv und dauerhaft zusammenführt, und dem, was Obstruktion beschert, gewinnen. Gerade vom Christenmenschen als ‚Kind des Lichts‘ (1. Thessalonicher 5,5) ist jene kritische Klugheit zu erwarten, die politische Disruption erkennt und auf deren Pfaden möglichst rasch kehrtmacht.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: privat

Eve-Marie Becker

Dr. Eve-Marie Becker ist Professorin für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität Münster und Mitglied im Kammernetzwerk der EKD und dessen Steuerungsboard.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"