Übersichtlich

Kirche und Israel

Das Anliegen der Dissertation Christus praesens angesichts des Volkes Israel von Jennifer Ebert ist es, den sowohl für die Christologie als auch für die Gottesdienst- und Predigtlehre zentralen Gedanken der Vergegenwärtigung Jesu Christi in Verbindung zu setzen mit dem biblisch-theologischen Axiom, dass der Gott des Neuen Testaments und Vater Jesu Christi kein anderer ist als der Gott Israels. Die Verfasserin entfaltet ihre Gedanken konsequent in der Doppelperspektive von Dogmatik und Liturgik, weil es ihr nicht nur darum geht, welche Rolle Israel und der Gott Israels für die Christologie spielen, sondern auch darum, in welcher Weise das durch Gottesdienst und Liturgie geformte „implizite Glaubenswissen“ der Gemeinde von der Grundüberzeugung geprägt ist oder geprägt werden kann, dass es im christlichen Gottesdienst um den Gott Israels geht.

Zwar stellt die Autorin fest, dass Gottesdienst „zuallermeist nicht in der Gegenwart, sondern in der Abwesenheit Israels gefeiert wird“. Dennoch identifiziert sie positive Beispiele und Anknüpfungspunkte, die ihrem theologischen Anliegen gerecht werden.

Die Studie ist übersichtlich gegliedert: Auf die Einleitung und methodische Grundlegung folgen zwei Hauptteile. Im ersten Teil „Bestandsaufnahme und Analyse“ werden zunächst kirchliche Verlautbarungen und Kirchenverfassungen, dann neuere Gesamtdarstellungen der Dogmatik sowie gottesdienstliche Texte auf die Fragestellung hin untersucht. Im zweiten Teil „Dogmatische Reflexion“ werden Überlegungen zur Christologie entwickelt, gegliedert in die drei Abschnitte „Aspekte einer Christologie im Angesicht Israels“, „Israels Gegenwart“ und „Christus iudaeus praesens“. Beide Hauptteile werden jeweils mit einem zusammenfassenden Ausblick beziehungsweise einem Resümee beschlossen.

Jennifer Ebert stellt einerseits fest, dass „von den zwanzig Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland sechzehn mittlerweile ihre Grundlagentexte um einen expliziten Israelbezug ergänzt haben“ und sich somit „auf positive Weise zu Israel“ bekennen. Sorgfältig analysiert sie die unterschiedlichen Formulierungen, die die Landeskirchen gewählt haben, um den positiven Israelbezug zum Ausdruck zu bringen. Andererseits stellt sie jedoch fest: „Gerade in der Israelfrage ist die Kirche in ihren Verlautbarungen weiter als die akademische Theologie.“ Dies belegt sie anhand einer Analyse der Dogmatiken von Wilfried Härle, Eilert Herms, Wilfried Joest/Johannes von Lüpke und Gunther Wenz.

Im Hinblick auf den evangelischen Gottesdienst diagnostiziert sie eine gewisse Spannung zwischen dem im Gottesdienstbuch verankerten „Israelkriterium“ (Kriterium Nr. 7: bleibende Verbundenheit mit Israel als erstberufenem Gottesvolk) und dessen praktischer Umsetzung. So bemängelt sie zum Beispiel, dass unter den zwölf vorgeschlagenen Eucharistiegebeten nur in zwei Gebeten „Israel“ erwähnt wird. Auch unter den drei von ihr dokumentierten Beispielen für Gottesdienstliturgien, die im Kontext des heutigen Israels und dortigen Judentums gefeiert wurden (benediktinische Gemeinschaft an der Dormitio, evangelische Gemeinde an der Erlöserkirche, katholische Gemeinde Haifa), lässt nur eines das Bemühen um israel-theologische Adaptionen der Liturgie erkennen. Allerdings ist sich die Autorin durchaus der Komplexität einer israel-theologischen Gestaltung der Liturgie bewusst und unterstreicht zu Recht: „Israel wird im Gottesdienst nicht vergegenwärtigt, indem man Juden und jüdische Gottesdienste nachahmt.“

Insgesamt ist die Arbeit stark von den Impulsen bestimmt, die von den in den 1970er- und 1980er-Jahren vorgelegten systematisch-theologischen Entwürfen Paul van Burens und Dietrich Ritschls ausgegangen sind. So wird zum Beispiel van Burens Infragestellung der christlichen Verwendung des Messias-Titels und dessen Ersetzung durch die Rede vom „Diener Gottes“ und vom „Dienst an Israel“ kritiklos rezipiert.

Die Arbeit reiht sich in das zunehmende Bewusstsein innerhalb der deutschsprachigen systematischen Theologie (beispielhaft stehen dafür Reinhold Bernhardt, Ulrich Körtner, Christoph Markschies, Christoph Schwöbel) ein, sich der Aufgabe einer Christologie ohne expliziten oder impliziten Antijudaismus stellen zu müssen. Ob man allerdings mit der Autorin schon sagen kann, „die Arbeit erinnert an Selbstverständliches“, mag vor dem Hintergrund der alarmierenden Stellungnahme „Christlich-Jüdische Lehrinhalte in der theologischen Ausbildung“, die der Gemeinsame Ausschuss im Auftrag des Rats der EKD 2019 erstellt hat, doch eher bezweifelt werden.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: privat

Wolfgang Hüllstrung

Wolfgang Hüllstrung ist Kirchenrat und Landeskirchlicher Beauftragter für Christlich-Jüdische Beziehungen und Dialog in Düsseldorf.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Religion"

Weitere Rezensionen