Die Reginische Methode
Vor nahezu 200 Jahren hat die Badenerin Regine Jolberg 256 Kinderpflegen und eine Ausbildungsstätte für Kleinkinderpflegerinnen gegründet. Die soziale Not im 19. Jahrhundert und der Wunsch, diese zu lindern, motivierten sie dazu. Erinnerung an eine außergewöhnliche Frau von Adelheid von Hauff, Religionspädagogin aus Heidelberg.
Kinder in die Mitte!“ So hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 2020 seine „Handreichung für Evangelische Kindertageseinrichtungen“ überschrieben. Eingangs spricht der Text von einem Paradigmenwechsel: „Die bisher überwiegend im Kontext der Familie verbrachten ersten Jahre des Aufwachsens und der frühen Bildung werden mehr und mehr zu einer institutionalisierten Form der Kindheit, die in Betreuungseinrichtungen verbracht wird.“ Ein Paradigmenwechsel hatte bereits 180 Jahre zuvor im 19. Jahrhundert stattgefunden, als die ersten Kindertageseinrichtungen entstanden. Eine dieser Einrichtungen wurde 1840 von der aus Baden stammenden Regine Jolberg gegründet. Viele ihrer damaligen Erkenntnisse korrespondieren mit den heutigen Inhalten der Handreichung der EKD.
Regine Jolberg wird am 30. Juni 1800 in Frankfurt als drittältestes Kind des in Heidelberg ansässigen wohlhabenden Juden David Zimmern (1767–1845) und seiner Ehefrau Sara geborene Flörsheim (1777–1832) geboren. Während ihre Brüder in der jüdischen Religion unterwiesen werden, wächst sie – wie das in jüdischen Familien für Mädchen üblich war – ohne religiöse Erziehung auf. Der christlichen Religion begegnet sie 1814 in einem Heidelberger Pensionat, das sie zur Vertiefung ihrer Bildung besucht. 1821 heiratet sie den Juristen Josef Leopold Neustetel. Nach dessen frühem Tod ehelicht sie 1826 Salomon Jolberg. Zuvor hatten die beiden sich zusammen mit den Töchtern aus erster Ehe taufen lassen. Doch auch Jolberg stirbt früh.
Zweimal verwitwet, widmet sich Regine Jolberg ab 1829 ganz der Erziehung ihrer beiden Töchter. Das elterliche Vermögen ermöglicht ihr, ohne eigenes Einkommen zunächst mit ihren Töchtern in Stuttgart und ab 1832 im Haus ihres Vaters in Heidelberg zu leben. Auf der Suche nach einer sinnvollen Aufgabe zieht sie 1839 vorübergehend erneut nach Stuttgart und hält dort Kontakt mit Vertretern der Basler Mission. Eine ihr angetragene Aufgabe als Hausmutter im Missionshaus in Basel lehnt sie entschieden ab. Während einer Reise nach Straßburg besucht sie das aus Heidelberg stammende Pfarrersehepaar Fink in Leutesheim bei Kehl. Hier lernt sie die Strickschule von Friederike Fink kennen. Weil die Kinder der armen Landbevölkerung aufgrund der Berufstätigkeit ihrer Mütter weitgehend sich selbst überlassen und großen Gefahren ausgesetzt sind, versammelt Fink die Kinder im Pfarrgarten und übt mit ihnen stricken. Aufgrund einer Risikoschwangerschaft muss Fink die Strickschule jedoch aufgeben. Sie fragt bei Regine Jolberg an, ob diese die angefangene Aufgabe weiterführen könne. Regine Jolberg weiß sofort: „Das ist die Aufgabe, nach der ich suchte.“ Als auch ihr Vater ihrem Plan zustimmt, mietet sie in dem kleinen Dorf Leutesheim ein Häuschen und zieht mit ihren Töchtern dorthin. Die Kinder strömen zu der „Tante“, die ihnen Geschichten erzählt, mit ihnen singt, strickt und spielt. Doch als mit Friedrich Lammert ein neuer Pfarrer die Pfarrstelle übernimmt, kommt es zu ersten Schwierigkeiten.
Erste Schwierigkeiten
Weil ihm Jolbergs kleine Einrichtung ein Dorn im Auge ist, muss sie 1843 bei der Oberschulkonferenz in Karlsruhe die Errichtung einer Kleinkinderbewahranstalt beantragen. Entgegen der Erwartung von Lammert, wird ihr Antrag von höchster Stelle genehmigt. Jolberg kreiert für ihre Einrichtung den Namen Kinderpflege, weil kleine Kinder wie Pflänzchen sind, die gepflegt und nicht nur aufbewahrt werden müssen. Als auch die Nachbardörfer ihre Kinder in die Kinderpflege in Leutesheim schicken wollen, fasst Jolberg den Plan, junge Frauen für den Beruf der Kleinkinderpflegerin auszubilden. Sie sollen nach ihrer Ausbildung an weiteren Orten Kinderpflegen errichten. Aber erneut werden ihr Steine in den Weg gelegt, weil sie ohne zuvor eingeholte behördliche Genehmigung mit ihrer Ausbildungsstätte beginnt. Beharrlich schreibt sie Briefe an den Großherzog und erhält 1846 die Nachricht, dass ihre Ausbildungsstätte überhaupt keiner Genehmigung bedürfe, da sie Frauen im Alter zwischen 14 und 30 Jahren ausbilde und die Schulpflicht für diese Altersgruppe nicht mehr bestehe.
Offiziell markiert das erste Jahresfest am 17. Oktober 1846 den Beginn der Bildungsanstalt für Kinderpflege. Jolberg ist zugleich Hausmutter und Vorsteherin. Obwohl die ausgebildeten Frauen keine Diakonissen sind, führt sie 1847 eine einheitliche Kleidung (Tracht) ein. Ein Jahr später beginnt Jolberg mit einer „Sonntags-Erbauung“ für Kinder, dem so genannten Kinderkirchlein, einem Vorläufer des Kindergottesdienstes. Während der Revolution in Baden (1848/49) muss die Bildungsanstalt Leutesheim verlassen. Nach der Zwischenstation in einem Gasthaus im Nachbardorf Langenwinkel findet sie 1851 in einem Schlösschen in Nonnenweier ihre endgültige Heimat. Als Jolberg am 5. März 1870 stirbt, hinterlässt sie eine Ausbildungsstätte für Kinderpflegerinnen und 256 von ihr gegründete Kinderpflegen an diversen Orten in Baden, vereinzelt auch in anderen Landesteilen und sogar in Afrika.
Pfarrer als Hausvorstand
Die Ausbildungsstätte nennt sich anfangs auch „Kinderpflege“ und ab 1853 „Mutterhaus für Kinderpflege“. Erst nach dem Beitritt zum „Kaiserswerther Verband“ am 10. Juli 1917 wird daraus das „Diakonissenhaus Nonnenweier“. Mit diesem Beitritt ändert sich die Leitungsstruktur der Einrichtung. Entsprechend den Grundordnungen der mit der Kaiserswerther Generalkonferenz verbundenen Diakonissenmutterhäuser bilden ein Pfarrer als Vorsteher und eine ihm untergeordnete Oberin als Vorsteherin den Hausvorstand. Die von Jolberg gewünschte weibliche Leitung geht damit verloren. Erst seit 25 Jahren steht wieder eine weibliche Leitung dem Mutterhaus vor. Gegenwärtig gibt es nur noch wenige Diakonissen im Mutterhaus in Nonnenweier. Die Bildungsanstalt selbst ist zur „Evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik Regine Jolberg“ in Lahr (Baden) geworden und wird gegenwärtig von einem Theologen geleitet.
Als junge Witwe macht Regine Jolberg das „Muttersein“ zu ihrem Beruf. Sie liest und reflektiert die Schriften der damals bekannten Pädagogen Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und ist doch überzeugt, dass sie ihre Kinder nach der ihr eigenen „Reginischen“ Methode erziehen möchte. Für die Erziehung ihrer Kinder entwirft sie eigene Regeln. Großen Wert legt sie auf das Einhalten bestimmter Ordnungen, zu denen zum Beispiel das Aufräumen von Spiel- und Arbeitsgeräten gehört. Sport ist für Jolberg von zentraler Bedeutung. Ihre Kinder sollen gymnastische Übungen machen, sie sollen tanzen und singen und den aufrechten Gang üben. Die soziale Komponente spricht sie mit der gegenseitigen Hilfe ihrer Töchter an. Selbstverständlich ist das Lernen mit allen Sinnen. Die wirksamsten Erziehungsmittel aber sind Heiterkeit und Festigkeit. Jolberg ist überzeugt: Nur in einer heiteren, dem kindlichen Gemüt angemessenen Umgebung kann nachhaltig erzogen werden. Sie ist darin mit dem von ihr hochgeschätzten Philanthropen Jean Paul (1763–1825) einig, für den Freudigkeit und die damit verbundene Heiterkeit zum Umgang mit Kindern gehören.
Als Erzieherin ihrer Töchter formuliert Jolberg immer konkretere Erziehungsziele. Dazu hält sie in ihrem Tagebuch fest: „Ich will meine Kinder zu wahren Christen erziehen suchen, ihr Herz zu echter Frömmigkeit, ihren Geist mit nützlichen Kenntnissen bereichern, ihren Sinn einfach erhalten, ohne die Eitelkeit des Lebens. Ihre Seele, ihren Körper will ich möglichst ohne schädliche äußere Einwirkung sich entwickeln lassen, die Kräfte stärken und den Willen frei machen, dass sie ohne sich gezwungen zu fühlen, das Gute erkennen und zu wählen im Stande sind.“
Jolberg ist überzeugt, dass die Anlagen der Kinder sich nur entfalten können, wenn die Erzieherin ihre freie Entfaltung durch äußere Vorgaben nicht verhindert. Großen Wert legt sie auf die Entwicklung des je eigenen Selbstbewusstseins. Sie leitet die Kinder an, übt aber keinen Druck aus. Positives Verhalten der Kinder verstärkt sie durch Belohnung. Denn sie weiß, Lob bewirkt mehr als Tadel. Zur Erziehung und Bildung gehört für die tiefreligiöse Frau aber auch die religiöse Erziehung. Dabei ist ihr wichtig, dass den jungen Menschen keine fremde Erkenntnis aufgezwungen wird. Die Einsicht in das Wesen der Dinge soll dem kindlichen Entwicklungsstand entsprechend in den jungen Menschen heranreifen.
Die Badenerin gründet sowohl Kinderpflegen für die Betreuung und Erziehung von Kleinkindern als auch eine Ausbildungsstätte für Erzieherinnen, die bei ihr Kinderpflegerinnen heißen. Sie selbst hat dafür nie ein Studium oder eine Ausbildung absolviert. Selbststudium und ihre Erziehungspraxis als Mutter zweier Töchter und einer Pflegetochter kennzeichnen die Gründerin eines großen Werkes. Sie selbst drückt es als Leiterin der Bildungsanstalt für Kinderpflegerinnen gegenüber den auszubildenden Frauen so aus: „Wollen wir ein Kind kennen lernen, so müssen wir eben erst längere Zeit im Umgange mit ihm stehen. Erst müssen wir seine Liebe gewinnen, damit es nicht durch Schüchternheit gebunden ist, sich uns so zu zeigen, wie es ist. Alsdann müssen wir es beobachten in seinem kindlichen Tun und Lassen, sehen, wofür es Neigung und Abneigung hat; sein Temperament, seine natürlichen Anlagen, alles tritt endlich nach und nach hervor. Da sehen wir mit Erstaunen, was wir früher nicht geahnt, wie schon ein ganzer Charakter sich vorfindet.“
Liebe über allem
Erziehung soll nichts anderes, als die von Gott gegebenen Keime vor Schaden bewahren und dazu beitragen, dass sich die von Gott gegebenen Anlagen entwickeln können. Dabei wird sich zeigen, dass jedes Kind anders behandelt werden muss: „eins mit der größten Nachsicht, weil es schüchtern und verzagt ist und sein Selbstvertrauen gestärkt werden muss, ein anderes mit Ernst wegen seiner Flüchtigkeit und Anlage zu Leichtsinn, wieder ein anderes mit Strenge wegen seiner Anlage zu Lügen und heimlichen Ränken.“ Jolberg ist überzeugt, alle Erziehung führt nur dann zum Ziel, wenn Kinder in ihrer Individualität gesehen werden, denn „selbst die christliche Saat wird nicht fruchten, wenn wir nicht Rücksicht auf das ursprünglich Gegebene zu nehmen verstehen. Wer es leicht nimmt, richtet die Kinder nur ab, erzieht sie aber nicht“. Allem übergeordnet aber ist die Liebe. Ihren Erzieherinnen prägt sie ein: „Legt euer Amt nieder, wenn die Liebe erloschen ist.“
Bei all dem ist für sie von bleibender Bedeutung, dass die Familie und nicht die öffentliche Einrichtung der erste Ort ist, an dem erzogen werden soll. Da die sozialen und wirtschaftlichen Nöte im 19. Jahrhundert jedoch eine die Entwicklung des Kindes fördernde Erziehung weitgehend verhindern, muss es Einrichtungen geben, in denen professionell erzogen wird.
Jolbergs Initiative hat eine religiöse, intellektuelle und soziale Komponente. Der Tagesablauf in ihren Kinderpflegen ist entsprechend strukturiert.
Jeder Tag beginnt mit Gesang, Gebet und dem Erzählen einer biblischen Geschichte. Da in den Kinderpflegen alles unterbleiben soll, was dem kindlichen Gemüt entgegensteht und die Freude bei den Kindern an ihrer Entfaltung hindert, folgt auf die sprachorientierten Phasen das Spiel. Es soll in den Sommermonaten weitgehend im Freien stattfinden.
Wiederum ihren eigenen Überlegungen entstammt eine fragmentarische Anweisung zum Anschauungsunterricht. Sie hat diese für die Ausbildung ihrer Kinderpflegerinnen entworfen und nur in ihren persönlichen Unterrichtsmaterialien festgehalten. Drei Punkte spricht sie an:
Erstens: „Kinder beobachten alles und fragen gerne; da bieten sie selbst den Stoff zur Unterhaltung dar. Das ist eben die Kunst, einfach belehrend ihnen zu antworten, sie zum Denken anzuregen und so ihre Tätigkeit und die Besprechung richtig zu leiten. Das Leben bringt viel Gelegenheit, mit Kindern zu reden; z. B. der Sonnenaufgang und -untergang, die Tages-, Jahres- und Festzeiten; eine Taufe, eine Hochzeit, ein Todesfall, ein Gewitter, die Ernte, ein Besuch; an alles können wir unsere Belehrungen anknüpfen. Solch ein Unterricht weckt die Geisteskräfte der Kinder und ist vielseitiger als der regelmäßige Unterricht in der eigentlichen Schule; er fesselt ihre Aufmerksamkeit viel mehr und lehrt uns ihre Gedanken verstehen.“
Empathie ist Jolberg wichtig. Sowohl das Gefühl als auch das Denken des Kindes sollen einfühlsam stimuliert und zur Entfaltung gebracht werden. Wissen darf nicht rein verbal vermittelt werden, da sonst die Phantasie des Kindes überfordert würde. Vielmehr sollen die Alltagserfahrungen der Kinder in ihnen die Bilder hervorrufen, aus denen sich Erkenntnisse entwickeln.
Zweitens: „Wir müssen ihnen schöne Blumen oder Bilder zeigen, und was wir mit ihnen reden, durch den Ton der Stimme beleben, denn alles, was trocken ist, spricht sie nicht an.“ Jolbergs Erkenntnisse korrespondieren mit dem von dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896–1980) als Animismus bezeichneten Phänomen, nach dem unbelebte Gegenstände vom Kind als belebt wahrgenommen und animistisch gedeutet werden. In der frühkindlichen Entwicklung ist es die Zeit des anschaulichen Denkens.
Von der Erde in den Himmel
Und drittens: „Durch unsere fünf Sinne nehmen wir alle Eindrücke der sichtbaren Welt in uns auf, diese führen sie erst der Seele zu. So sollen wir denn die Sinne der Kinder zu bilden suchen durch anregende Fragen und ihre Eindrücke ordnen.“ In diesem dritten Punkt spricht Jolberg zunächst über das Lernen mit allen Sinnen. Daneben beschreibt sie mit knappen Worten eine Methode, die bei Sokrates (469–399 v. Chr.) ihren Ursprung hat. An das Kind gerichtete Fragen sollen sein Denken stimulieren und eigene Gedanken entstehen lassen.
Der Weg zum eigenen Urteil führt über die Anschauung. Das gilt auch für die religiöse Erziehung. Nach Jolberg soll aller Unterricht auf der Erde beginnen und im Himmel enden. Obwohl die religiöse Erziehung für sie von herausragender Bedeutung ist, geht es ihr niemals nur um die Vermittlung christlicher Inhalte. Sie hat das Kind als Ganzes im Blick und achtet in ihren Kinderpflegen stets darauf, dem Spiel genügend Raum zu geben. Dazu benötigen die Kinderpflegen sowohl Spielsachen als auch große, helle Räume und einen Spielplatz im Freien. Derartiges muss sie bei jeder Gründung von den Kommunen vehement einfordern. Sie moniert des Öfteren, dass der Mangel an Spielsachen die Kinderpflegerinnen dazu verleitet, die Kinder mit dem Lernen von Bibelsprüchen zu traktieren. Ursache dafür ist aber nicht die Methodenarmut der Kinderschwester, sondern die Kommune, die nicht die gewünschten Spielgeräte zur Verfügung stellt.
Nahezu zeitgleich mit Jolberg gründet Friedrich Fröbel (1782–1852) den so genannten Kindergarten. Obwohl Religion für beide eine große Bedeutung hat, ist ihre jeweilige Theologie und Christologie eine unterschiedliche. Aber das ist eine andere Geschichte.
Adelheid von Hauff
Adelheid von Hauff arbeitet als Lehrerin für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.