Weckruf

Die Christliche Rechte in Europa

Ein Buch zum richtigen Zeitpunkt: Der Blick auf die Verbindungslinien zwischen Demokratiefeindlichkeit und Religion war für den europäischen Raum noch unterbelichtet. Jetzt, da auch die extreme Rechte überall in Europa deutlich an Zustimmung gewinnt, stellt sich unweigerlich die Frage, welche Rolle dem Christentum dabei zukommt. Gehen das Erstarken des Rechtsextremismus und die Demokratie­skepsis, ja -feindschaft auch von Christinnen und Christen aus? Dieser Frage geht der vom Politikwissenschaftler Gionathan Lo Mascolo herausgegebene Band „The Christian Right in Europe“ nach, der im Verlag transcript open access erschienen ist. Der englischsprachige Band ist als digitale Version demnach auf der Website des Verlages kostenfrei erhältlich.

Wer an eine politisch relevante christliche Rechte denkt, hat wohl die USA vor Augen. In den 1960er-Jahren lehnten dort Teile der weißen (vor allem evangelikale) Christen die Aufhebung der race segregation ab. Die Gegnerschaft zu gesellschaftlichen Liberalisierungen setzte sich in den folgenden Jahrzehnten durch die christliche Abwehr von Abtreibungsrechten, feministischen Forderungen nach Gleichberechtigung oder der Gleichstellung von Homosexuellen fort. Heute sind es weiße, evangelikale Christen, die eine wichtige Wählerbasis von Donald Trump darstellen. Die Ablehnung von „Gender-Ideologie“ steht neben der Idee der Vorherrschaft einer weißen christlichen Nation.

Die amerikanischen culture wars seien in Zeiten der gesellschaftlichen Liberalisierungen, so eine These des Bandes, auch in Europa erkennbar. Eine immer stärker zunehmende Polarisierung von Gesellschaften sei Resultat dieser Entwicklung. Auch in Europa lasse sich eine Gleichzeitigkeit von fortschreitenden gesellschaftlichen Liberalisierungen vor allem im Bereich der Geschlechter- und Familienpolitik und einem Aufbegehren von Christen aus unterschiedlichen Konfessionen erkennen. Und auch für die christliche Rechte in Europa, die für die kulturelle Identität Europas beziehungsweise der Nationalstaaten das Christentum in Stellung bringt, gesellt sich die Abwehr gegen muslimische Migration als zweites zentrales Thema.

Der Band, der durch eine luzide und klar argumentierende Einleitung eröffnet wird, besteht hauptsächlich aus Länderstudien. Das einzige Thema, das vertieft in einem separaten Beitrag bearbeitet wird, ist der christlich konnotierte Anti-Genderismus. Das mag ein wenig überraschen, dass hier nicht noch weitere Themenfelder – sei es eben die Ablehnung von Migration, der verbreitete Kulturpessimismus, Antisemitismus oder die Bedeutung Israels für die religiöse Rechte – konzentriert vorgestellt werden.

Dagegen liegt der Fokus auf Länderstudien: Zunächst werden dabei drei Länder vorangestellt, deren Relevanz für die Eta­blierung einer christlichen Rechten in Europa hervorgehoben wird. In Russland, Polen und Ungarn wird unmissverständlich deutlich, welche politische Macht die religiöse Rechte dort bereits entfaltet. Anschließend wird in weitere 16 Länder eingeführt und für diese werden Ideen, Organisationen beziehungsweise Institutionen und Strategien der religiösen Rechten betrachtet.

Deutlich wird: Bei allen historischen und nationalen Spezifika, die die einzelnen Länder prägen, ist auch in Europa ein transnationales Momentum sichtbar. Denn die christliche Rechte agiert nicht auf nationale und konfessionelle Grenzen beschränkt, sondern transnational. Das wird in jedem einzelnen Beitrag deutlich: Es gibt europaweit inhaltliche und organisatorische Familienähnlichkeiten der christlichen Rechten. Viele Organisationen, in denen über die Ablehnung von Pluralität und Diversität Menschen mobilisiert werden, agieren über Landesgrenzen hinweg. Die Blaupause für Inhalte und erfolgreiche Strategien ist dafür wiederum die religiöse Rechte in den USA, an der sich orientiert wird und von wo Gelder nach Europa fließen.

Dieser Band ist lesenswert und wichtig, denn er legt einen scharfen analytischen Blick auf ein besorgniserregendes Phänomen in Europa, ohne dabei moralisierend zu dämonisieren. Die Texte machen deutlich, dass von etablierten Kirchen, der Wissenschaft und politischen Akteuren dem Erstarken der christlichen Rechten mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, aber auch Inhalte und Strategien dagegen entwickelt werden müssen. Ein Weckruf.

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Foto: Privat

Hans-Ulrich Probst

Hans-Ulrich Probst ist seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Praktische Theologie der Universität Tübingen und ist Mitglied der Evangelischen Landessynode in Württemberg. 


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