Ein Neutestamentler, ein Kirchenhistoriker und ein Latinist, der über die Beschäftigung mit Philipp Melanchthon zum Direktor der Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt wurde, haben sich zu einem Projekt zusammengefunden. Es geht auf eine infolge der Corona-Krise mehrfach verschobene Fachtagung zurück. Das daraus hervorgegangene Buch umfasst einundzwanzig Aufsätze heterogener Art. Mit einiger Plausibilität werden „individuelle Stimmen“, „institutionelle Äußerungen“ sowie „Inszenierungen und Ereignisse“ voneinander unterschieden. Der Untertitel „Konstellationen im 20. Jahrhunderts“ bezieht sich auf die philosophiegeschichtliche Idee von Dietrich Henrich, die Entstehung neuer philosophischer Einsichten aus der Wechselwirkung verschiedener Gesprächspartner zu verstehen. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch aufs Ganze gesehen nicht um die Entschlüsselung solcher Konstellationen, sondern um ausgewählte Beispiele. Deren Auswahl verdankt sich in erster Linie den individuellen Interessen der Autorinnen und Autoren.
Der Versuch liegt nahe, die Intention dieses Bands an den Beiträgen der drei Herausgeber abzulesen. Martin Keßler knüpft an den Begriff der Konstellation mit folgenden Worten an: „Eine Konstellation verbindet das Allgemeine mit dem Besonderen in einem selektiven, punktuellen und exemplarischen Rahmen.“ Für dieses Vorgehen benutzt er einen im Verlag von Leo Klotz 1932 veröffentlichten Sammelband zu dem Thema Die Kirche und das dritte Reich. Dessen Besonderheit besteht darin, dass in ihm Vertreter der Kirche und der NSDAP gleichermaßen vertreten sind. Doch das wird nicht veranschaulicht. Vielmehr beschränkt sich die inhaltliche Würdigung des Bandes auf ein einziges Beispiel, nämlich die Verteidigung der neutestamentlichen Wissenschaft durch den Leipziger Theologen Paul Fiebig. Er verleiht seinem Plädoyer eine nationale Wendung, indem er die Wissenschaft vom Neuen Testament als unlöslich zum „Wesen und Ruhmestitel deutschen Geistes“ zählt. Zum Verhältnis von evangelischen Kirchen und Politik trägt das nicht besonders viel bei.
Stefan Alkier entzieht sich der Frage nach historischen Beispielen und macht sich stattdessen selbst zum Beispiel, indem er seine persönliche Einstellung zum Verhältnis zwischen evangelischer Kirche und Politik folgendermaßen darlegt: „Ich bin über das öffentliche politische und theologische Agieren Evangelischer Kirchen und universitärer Theologien in Deutschland maßvoll enttäuscht, aber nicht hoffnungslos.“ Deutlich gegen den Strom einer in Zustimmung wie Kritik verbreiteten Auffassung behauptet er, Kirchenleitungen und Fakultäten hätten „nicht nur den Armen, Erniedrigten und Beleidigten weitgehend ihre Stimme versagt, sondern auch der Schöpfung Gottes.“ Lediglich in einer Fußnote fügt er hinzu: „Immerhin haben christliche Kirchen und auch der Rat der EKD deutliche Kritik am politischen Abschottungskurs seit 2016 geleistet und auf Gemeindeebene wurde eine intensive und konkret hilfreiche Arbeit mit geflüchteten Menschen geleistet.“ Auch andere Aussagen erscheinen eher als unbedacht: Das gilt nicht zuletzt für die Rede von „der konsequenten Musealisierung der Lutherausgabe von 2017“. Natürlich ist Luthers Bibelübersetzung gemeint; doch zutreffender wird die Behauptung dadurch nicht.
Mit Dank kann man den Rückblick von Stefan Rhein auf das von ihm an entscheidender Stelle mitgeprägte Reformationsjubiläum von 2017 würdigen. Auch wenn er selbst eine noch engere Verzahnung von Staat und Kirche für wünschenswert hielt, beendet er seine Skizze doch mit der positiven Feststellung, dass gerade in der Konstellation von Staat, Kirche und Zivilgesellschaft das Reformationsjubiläum „öffentlich, diskursiv und aufgeklärt werden“ konnte.
Ausdrücklich hervorgehoben seien zum Schluss zwei Aufsätze, die eingefahrene Klischees gründlich korrigieren: Christoph Kähler schreibt über „Die Formel ‚Kirche im Sozialismus‘ – ein Vexierbild“ und Tim Lorentzen über „Die evangelische Konzilsidee im 20. Jahrhundert. Zur Revision einer Bonhoeffer-Erzählung“. Beide Texte sind im besten Sinn des Wortes aufklärend.
Wolfgang Huber
Dr. Dr. Wolfgang Huber ist ehemaliger EKD-Ratsvorsitzender, Bischof i. R. und Herausgeber von "Zeitzeichen." Er lebt in Berlin.