Außen und innen

Hania Ranis fesselnde Reisen

"Ghosts“ lässt viele Lesarten zu: als intimer Einblick, fiktives Erkunden oder gar esoterisch auf einer Skala von C. G. Jung bis zu autochthonem Animismus. Vor allem aber ist das Album der Pianistin und Komponistin Hania Rani aka Hanna Raniszewska hinreißend schön, so eingängig wie fesselnd tief. Zwischen sich als Person und Künstlerin macht sie selbst indes keinen Unterschied. Durch und mit Musik kommuniziere sie, und die sei für sie ein Ganzes. Grenzen und oder starre Genres akzeptiere sie da nicht, sagt die 32-Jährige.

So fließt denn auch alles, und wie! Rani, die seit ihrem Solodebut Esja (2019) bereits viermal einen Fryderyk – Polens wichtigsten, nach Frédéric Chopin benannten Musikpreis – erhielt, ist der Risen Star der Neoklassik, die Neue Musik und repetitive Minimal-Music-Muster, Am­bientlandschaften, Elektronica und Postrock verbindet. Auf sieben der 13 Tracks singt sie auch, spoken oder balladenhaft, sanft zwar, jedoch fest, etwa im titelgebenden „Dancing with Ghosts“ mit dem kanadischen Singer- / Songwriter Patrick Watson. Das Piano setzt darin zugleich Melodieperlen und Herzschlag auf Synthie-Schichten im Streichersound, die unscharf-präzisen „Seelen“-Lyrics mit einigem existenziellen Kick Rampen bauen: „In the fire, in the night / We will be dancing like ghosts apart / Will you be dancing tonight?“ Song mag man diese Lieder nur ungern nennen, schon eher Explorationen. Sie umkreisen Liebes- und Weltverhältnisse und bieten dem Hörer Raum.

Bei Ranis Konzerten zögert das Publikum oft beim Applaus, als gelte es, den Zauber nicht zu brechen. Ähnlich ist auch das mit Drone-Akzenten eröffnete Album aufgebaut, Höhepunkt das elfminütige „Komeda“ mit rollendem Plucker-Synthie-Beat, das viel Fahrt aufnimmt und zu famosen Klavierlinien und Korg-Akkorden stampfend dringlich wird. Eine jazzige Weltgeburt, dem legendären Pianisten Krzysztof Komeda gewidmet. Das mit dem Neoklassiker Ólafur Arnalds detailfreudig entwickelte „Whispering House“ markiert auch eine Art konzeptioneller Mitte, indem es wie Rani in Amsterdam selbst einmal ein Haus mit solch dünnen Wänden bewohnt, dass es Geräusche von außen ebenso fluten wie jene von innen, ob die nun aus dem Körper oder der Seele stammen. Diese Lesart mag man erotisch nennen, wobei deren Welt- und Lebensbegehren selbst den Tod umfasst, etwa in „Moans“ („In the fire where a tree groans / Fallen down with flames / We’ve decided sing a sweet song / Is it a song of death?“) „Hello“ zu Beginn mit kickendem Elektrobeat, funkelnden Piano-Schwärmen und Kratzern, die an „Djed“ von Tortoise erinnern, passt zu dieser Lesart ebenso wie der Text „Here I Am“ von Olga Tokarczuk als Liner Notes. Und einige der Tracks hätten durchaus in der Chill-out-Area des Negev-Festivals Supernova laufen können – das großartige Album erschien an demselben Tag, an dem das Festival begann.

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