Vielleicht wäre es bei dieser Buchrezension einmal angebracht, persönlich zu beginnen: Ich wohne in der Innenstadt Berlins, das gemeinsame Auto von meiner Frau und mir steht monatelang unbewegt am Straßenrand, manchmal gibt es Standschäden. Wir bewegen uns die meiste Zeit mit Fahrrad oder U-Bahn durch die Stadt. Seit Jahren diskutieren wir, das Auto abzuschaffen. Meine alte Mutter lebt am Stadtrand einer mittelgroßen Stadt in einer Eigenheimsiedlung. Hätte sie das Auto nicht, verlöre sie fast jede Mobilität. Meine Schwiegereltern wohnen in einem Dorf auf dem Land. Sie müssen mehrere Kilometer mit dem Auto fahren, um Lebensmittel einkaufen zu können. Im Dorfkern hat der Tante-Emma-Laden zugemacht, es gibt keinen Bäcker, die letzte Kneipe wird wohl bald schließen.
Wer Katja Diehls Raus aus der AUTOkratie gelesen hat, versteht, dass diese Erfahrungen nicht individuell, irgendwie besonders oder gar sehr persönlich sind, sondern in der einen oder anderen Form viele Menschen betreffen – jeder kann solche Geschichten erzählen: Das Auto und unsere auf das Auto basierende Verkehrs- und Lebensweise führen nicht nur zu einer umfassenden Abhängigkeit von den „Stahlschachteln“, wie Diehl an einer Stelle ihres Buches so schön schreibt, sondern auch zu Absurditäten. Sie fallen einem jedoch erst auf, wenn diese scheinbaren Selbstverständlichkeiten einer auf das Auto ausgerichteten Gesellschaft einmal aus einer anderen Perspektive betrachtet werden. Und das gelingt der Bestseller-Autorin und Bloggerin ziemlich gut.
Eine ihrer Grundthesen: „Wenn wir die Autos aus unseren Wohngebieten räumen, werden diese zu Lebensräumen mit vielen Freundschaften und sozialer Sicherheit.“ Denn, so Diehl, Autos zerstörten nicht nur die Umwelt und führten zu einer katastrophalen Klimabilanz. Auch die soziale Struktur unserer Gesellschaft werde geschädigt, es finde weniger Austausch zwischen den Menschen statt. Und wer etwa behindert, arm, alt oder aus anderen Gründen nur unter schlechteren Bedingungen das Auto nutzen könne, verliere in unserer Auto-dominierten Gesellschaft massiv an Lebenschancen. Eine Gesellschaft ohne oder mit viel weniger Kraftfahrzeugen könne, ja müsse deshalb auch eine gerechtere werden.
Die Auto-Fixiertheit der Bundesrepublik Deutschland zu überwinden, das ist zwar ein großes Unterfangen, gar revolutionär, aber Diehl macht Mut, es anzupacken. „Es gibt unfassbar viele Vorbilder, denen nachgeeifert werden kann. Ideen dürfen geklaut und Ideengeber:innen auch mal kontaktiert werden. Wie hast du das gemacht? Ich will das auch! Das kann ein guter Aufschlag sein, um selbst eine kleine Revolution zu starten. Denn weniger scheint es nicht zu sein, wenn wir weniger Wagen wagen.“
Dies ist der leichte Ton, den Diehl in ihrem Buch anschlägt. Es ist fast ein Plauderton, der aber nicht in die Irre führen sollte, denn zugleich ist ihr Buch durchaus faktenreich – Fakten, die einem zum Teil die Haare zu Berge stehen lassen. Wie diese Stelle beispielsweise: „Aktuell kommen auf jeden Menschen zwischen 0 und 120 Jahren in Deutschland 0,6 Autos. Nur maximal zehn Prozent der Pkw bewegen sich gleichzeitig, es stehen immer mindestens 90 Prozent irgendwo rum (nicht selten im Weg oder im öffentlichen Raum oder beides zugleich). Würden alle Deutschen in alle Autos steigen, blieben alle Rückbänke leer. Im beruflichen Pendelverkehr liegen wir aktuell bei einem Besetzt-Grad von 1,057 Personen“ (siehe auch das Interview mit zeitzeichen).
So ist Diehl alles in allem ein gut lesbares, faktenreiches und kluges Buch gelungen. Es zeigt: Deutschland muss und kann sich fortentwickeln zu einem Land, das mit viel weniger Autos sehr viel besser fahren (sorry für das platte Wortspiel!) würde. Dazu braucht es aber Mut.
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.