„Ich will das Auto nicht wegnehmen“

Gespräch mit der Podcasterin, Bestseller-Autorin und Verkehrsexpertin Katja Diehl über soziale Gerechtigkeit, eine schöne Zukunft mit viel weniger Autos und den Hass
Zwei alte Sportwagen in einem verwilderten Hinterhof in Berlin
Foto: Stephan Kosch

zeitzeichen: Frau Diehl, Sie ernten bei Lesungen, aber auch in den Sozialen Medien wegen Ihrer Positionen zum Auto gelegentlich scharfe Kritik. Was hören Sie da für Aussagen?

KATJA DIEHL: Ich war neulich auf einer Konferenz an einem Stand der DB Regio, da kam ein Mann wie eine Rakete auf mich zugeschossen, zeigte auf mein Buch und sagte im lauten Tonfall, ich habe es fast als Anschreien empfunden, von jetzt auf gleich: Was das mit dieser neuen Mobilität denn soll, ÖPNV mache immer Minus, wie ich mir das im ländlichen Raum vorstelle und so weiter. Das ist mein Leben. Ich habe keine Ahnung, wer er ist, was ihn jetzt getriggert hat. Aber es ist nicht social media, es ist das Leben, man kann online und offline nicht mehr trennen. Insgesamt aber fand ich es ganz gut, dass solche Leute mal live dabei sind.

Begreifen Sie das als persönlichen Angriff?

KATJA DIEHL: Ich versuche natürlich, das nachzuvollziehen, weil ich eine sehr den Menschen zugewandte Person bin. Und ich selber begegne dem Hass ja auch nicht mit 
Gegenhass, weil ich Hass als Konzept schon nicht verstehe. Warum sollte ich Menschen hassen? Was bringt mir das? Oder was bringt das der Person, die ich dann hassen würde? Das Größte, was ich sagen kann: Du bist mir egal. Das ist schon die höchste Strafe überhaupt. Aber ich gebe praktisch meine gesamten Einnahmen für meinen Selbstschutz aus, auch bei Online-Angriffen. Ich würde gerne in einem Land leben, wo ich geschützt werde durch den Staat, durch die Justiz, wie auch immer. Aber das kann ich mir lange herbeiwünschen, das passiert hier nicht.

Gibt es auch ernsthafte Argumente von solchen Leuten?

KATJA DIEHL: Manche sagen, sie seien aufs Auto angewiesen, das ist der eine Part. Da sage ich immer: Aber wir haben doch immer mehr Autos, die sich immer weniger bewegen und trotzdem immer größer werden. Da ist doch was falsch. Wenn das eine biologische Entwicklung wäre, würde man sagen, es ist Krebs. Der zweite Part ist, dass Leute sich einen großen Dodge Ram kaufen mit V8-Motor, der ordentlich blubbert. Die sagen dann, das sei ein Hobby und keine Mobilität. Sie möchten es nicht gerne als Mobilität geframt wissen. Denn wenn sie nur Mobilität haben wollten, würde vielleicht auch ein Punto genügen. Das Dritte ist tatsächlich, dass manche Leute keine Alternativen haben: keine Barriere­freiheit, kein sicheres Gefühl im öffentlichen Raum, und das Vierte, dass oftmals ja sogar Fliegen billiger ist als Bahnfahren. Das ist das Argument Bezahlbarkeit.

Was ist die Folge?

KATJA DIEHL: Wenn man diese vier Sachen nicht erfüllt sieht, dann geht man ins Auto, denn man hat überall Straßen, überall Abstellmöglichkeiten, man kriegt sogar noch Geld 
vom Staat. Ich will den Leuten nicht das Auto wegnehmen, sondern ich will die gesellschaftlichen Missstände abschaffen. Und das verstehen manche gar nicht.

Ihre Mission ist eher eine gerechte Gesellschaft, und das Auto ist ein Haupthindernis. Verstehe ich das richtig?

KATJA DIEHL: Ja, und das Auto ist natürlich etwas sehr Emotionales, weil es durch Werbung, Verkehrs­politik, Funk und Fernsehen überall ist. Wenn ein Kind geboren wird, erlebt es Autos auf Spielplätzen, es gibt diese Wackelautos vor den Supermärkten, da wirft man einen Euro in das Auto. Das Auto ist überall um uns herum. Menschen, die heute geboren werden, kennen die Welt vor dem Auto gar nicht. Ich bin in den 1970er-Jahren geboren und habe wirklich noch so eine Dorfjugend gehabt, wo wir Tage in den Sommerferien von morgens bis abends ohne Erwachsene waren. Das ist für heutige Kinder wahrscheinlich völlig unvorstellbar. Ich habe heute einen Postfachschlüssel abgeholt und bin zweimal Kindergruppen begegnet, die komplett in Warnwesten gekleidet waren. Ich sehe das und denke einfach nur: Oh mein Gott, was machen wir mit denen?

Das Auto ist eine sehr emotionale Geschichte in Deutschland. Ist es in anderen Ländern ähnlich?

KATJA DIEHL: Ich glaube, diese Emotionalität ist überall ähnlich. Es geht ja nicht um Mobilität, sondern um Lebensstil, um das größte mitnehmbare Statussymbol.

Sicher, das Auto hat sehr viel mit Selbstbewusstsein zu tun.

KATJA DIEHL: In meinem ersten Buch habe ich Menschen kennengelernt, deren Eltern hier als Gastarbeiter*innen herkamen oder auch hierher geflüchtet sind. Sie sind jetzt die zweite Generation, in Deutschland geboren, und wollen auch ein großes Auto fahren, weil sie Rassismus erfahren in Deutschland, obwohl sie hier geboren sind. Sie denken sich: Wenn ich einen dicken BMW, Mercedes oder was auch immer fahre, dann bin ich angekommen, dann kann ich den Leuten zeigen, ich habe es zu was gebracht. Das ist auch ein trauriges Bild, was wir als Deutschland da vermitteln.

Das Auto ist in dem Fall ein Ausweis dafür, angekommen zu sein?

KATJA DIEHL: Mir hat neulich eine Frau einen Brief geschrieben, sie hat gesagt: Dank Ihres Buches habe ich jetzt endlich verstanden, dass ich wütend sein darf. Sie ist eine schwarze Frau mit zwei Kindern, ihr Mann ist aus Syrien geflüchtet. Sie will nicht Auto fahren. Sie wird aber in Berlin, da, wo sie wohnt, ständig mit Rassismus konfrontiert, weil sie zu Fuß geht mit zwei schwarzen Kindern. Ihr Mann will unbedingt ein dickes Auto haben, weil er als Deutscher anerkannt werden will. Sie meinte, sie hätte immer eine Wut und eine Traurigkeit in sich, und jetzt würde sie verstehen, was dahintersteckt.

Das Auto ist gleichzeitig ein Synonym für Freiheit geworden in den vergangenen Jahrzehnten, oder?

KATJA DIEHL: Ja, freie Fahrt für freie Bürger. Ich denke, wir konnten uns ja auch alle nicht vorstellen, dass das Nichtraucherschutzgesetz mal Fakt wird. Wenn ich mir überlege, dass früher sogar beim Arzt geraucht wurde und im Krankenhaus auf den Zimmern und im Flugzeug und in der Bahn! Die Situation habe ich sogar noch mitbekommen, da musste man immer durch diese Raucherabteile möglichst schnell durch, weil man sonst so ekelhaft stank, obwohl man selber nicht raucht. Mittlerweile sagen alle: Ehrlich gesagt, war es gar kein Verlust. Ich glaube, so werden wir irgendwann auch auf das Auto schauen. Vielleicht gibt es irgendwann ein Nichtautobesitz-er*innenschutzgesetz. An der Straße, wo ich in Hamburg wohne, stinkt es so sehr nach Abgasen! Ich bin mir relativ sicher, dass ich durchaus auch mal Lungenkrebs haben könnte, ohne dass ich je geraucht habe.

Die Abhängigkeit, gerade auf dem Land vom Auto ist ein Argument, das immer kommt. Und kostet es nicht wirklich viel Geld, wenn wir auch auf dem Land den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ausbauen?

KATJA DIEHL: Natürlich. Aber das Auto kostet ja auch richtig viel Geld. 149 Milliarden Euro im Jahr an Folgekosten, hat die Allianz errechnet. Dazu gehören die acht Verkehrstoten jeden Tag. Der Leiter einer Notfall­station hat mir mal gesagt: Wer gegen das Tempolimit sei, solle mal einen Tag hier Dienst machen. Denn es sind ja junge Menschen, die die meisten Unfälle machen. All das sind Dinge, die rauben mir Nerven und Zeit, dass wir so tun, als wenn das Auto ein total gutes Produkt sei, was sich von selber finanziert und trägt. Das ist, was die FDP immer sagt, das Argument mit dem freien Markt. Dabei ist das Auto am weitesten weg vom freien Markt. Wenn alle die realen Kosten von Autos zahlen müssten, dann hätten wir eine super Bahn und andere Alternativen längst bekommen. 

Ich höre das von meinen nun erwachsenen Kindern, aber auch von Gleichaltrigen dieser Generation: Die haben häufig gar keine Lust mehr, einen Führerschein zu machen, die leben allerdings auch in der Stadt. Dennoch: Erkennen Sie da eine Trendwende bei der jungen Generation?

KATJA DIEHL: Nein, wenn man auf die Zahlen schaut, zeigen die nicht, dass weniger Menschen den Führerschein machen, sondern später. Auch weil er bis zu 5000 Euro kostet. Das ist natürlich eine Investition, die man erst einmal haben muss. Das will aber auch umgekehrt heißen: Weil 14,2 Millionen Deutsche in Armut leben, sind da viele ausgeschlossen vom Führerscheinsystem, erst recht vom Auto. Die Trendwende ist noch lange nicht geschafft.

Mich beeindruckt in Ihrem Buch, wie Sie darstellen, dass durch das Auto auch die soziale Vereinzelung gestärkt wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass gerade das die Leute aufregt. Sie schreiben, es gehe ein Raunen durch den Saal, wenn Sie das bei Lesungen sagen.

KATJA DIEHL: Ja. Ich habe auch Angst vor der Reaktion im Publikum. Ganz klar. Ich habe auch nicht so klar formuliert, wie ich eigentlich wollte, weil ich weiß, wenn ich die Wahrheit ausspreche, dass da immer auch ein Backlash kommt. Früher hat man gesagt, die Straße erzieht die Kinder ein Stück weit immer mit, weil die Kinder sich auf der Straße bewegt haben und nicht zu Spielplätzen gefahren worden sind, sondern vor der Haustür gespielt haben oder im Innenhof. Da sind ihnen immer auch Menschen begegnet, die nicht in die Lebensrealität der Eltern gehörten. Das konnte einem nicht Angst machen, weil man die Menschen erlebt hat. Aber heute ist das anders. Sogar mit dem Camper ist es eine Vereinzelung. Das ist ja am Ende eine sehr vereinzelte Hotelform.

In anderen Verkehrsmitteln, also außerhalb des Autos, hat man mehr Kontakt?

KATJA DIEHL: Ja, in der Bahn etwa, die ich unglaublich gerne fahre, habe ich immer diese Zufallsbegegnungen, diese Kurzzeitbeziehung zu Menschen, die neben mir sitzen oder die ich so mitbekomme. Wenn wir aber alle in unseren Fahrgastzellen sitzen und nebeneinander herfahren, haben wir das nicht. Man kann Spaß haben mit Leuten, mit denen man an der Ampel steht, am liebsten sind mir Kinder im Lastenrad, weil die so wach sind und nicht hinten im Auto wieder einschlafen. Man hat Augenkontakt, man hat das Gefühl, man ist Teil dieser Welt, durch die man sich bewegt. Und man ist natürlich auch Teil einer Welt von menschlichem Maß. Man macht jetzt nicht 100 Stundenkilometer. Was kriegt man bei solchen Geschwindigkeiten im Auto von der Umwelt mit? 

Da ist das Auto eindeutig ein Verlust.

KATJA DIEHL: Ich glaube schon, dass uns ein Autoverzicht auch guttun würde. Witzigerweise fahren wir im Urlaub wieder Auto, da wollen wir einen Cappuccino in der Sonne trinken, auf einem tollen Marktplatz, vielleicht in Venedig. Dann sage ich, aber Venedig ist doch autofrei. Letztes Jahr habe ich mir den Gag erlaubt, alle Leute, die mir erzählt haben, ich war im Urlaub, zu fragen: Konnte man da gut parken? Da war häufig die Reaktion: Warum fragst du mich, ob man da gut parken konnte? Doch dann haben sie gemerkt: Na ja, weil wir einen Parkplatz im Alltag total wichtig finden, aber im Urlaub genau das Gegenteil suchen. Und das heißt doch, es zieht uns irgendwie schon in diese andere Welt, weg vom Auto.

Warum ist die Autolobby mit ihren Verbrennern dennoch so stark in der Politik? Oder anders gefragt: Wie kann man diese Macht brechen? Das scheint ja ein Kontinuum zu sein seit Beginn der Bundesrepublik.

KATJA DIEHL: Man müsste alle Zutrittskarten zum Verkehrs­ministerium ungültig machen, denn die Autolobby geht da ja ein und aus. Die haben natürlich die Kontakte, die NGOs nicht haben. Und es gibt bis heute nur Autogipfel. Es wurde vollmundig versprochen, dass es Mobilitätsgipfel geben soll, und bis heute hat das nicht stattgefunden. Es ist doch so: Wenn ich in einen Raum gehe, wo lauter Barbaras sind, die mir alle ihre Barbara-Geschichte erzählen, dann denke ich natürlich, die Welt ist Barbara. Die Auto­konzerne schauen vor allem auf das, was sie behalten wollen. Im Elektro­motor werden viel weniger Teile verbaut, er ist viel wartungsärmer und viel einfacher herzustellen. Nicht zuletzt deswegen hat China darauf verzichtet, eine Verbrenner­automaschine selber zu entwickeln. Die machen sofort alles voll 
elektrisch, und sie sind mittlerweile Marktführer.

Die deutschen Autokonzerne haben die E-Mobilität also verschlafen. Oder haben sie die Sache nicht ernst genommen?

KATJA DIEHL: Ja, so ist es. Der erste Autogipfel bei Bundeskanzlerin Angela Merkel war 2011, da wurden für 2020 eine Million Elektroautos versprochen. Dann gab es danach immer wieder Autogipfel, aber die deutschen Autokonzerne haben sich schlafen gelegt und haben gedacht: Pff, die Leute werden immer Brumm-Brumm haben wollen.

Jetzt gab es ungefähr hundert Jahre lang eine Autoorientierung in der Gesellschaft, auch mithilfe der Politik. Wird das Umsteuern sehr viel schneller gehen?

KATJA DIEHL: Wir bewegen uns wahrscheinlich aus dem Blickwinkel der deutschen Autoindustrie in Richtung Desaster. Aber wir brauchen eine disruptive Zerstörung, dass wir auch Dinge hinter uns lassen. Das Witzige ist ja, dass die Autoindustrie mal mit Elektro-, Dampf- und Verbrennermotoren angefangen hat. Am Anfang waren Dampf und Elektro sehr viel wichtiger als Öl. Dann kam die fossile Autolobby, denn in Amerika gab es diese total ausgefächerten Einfamilien­hausstandards. Das ist von da nach hier gekippt. Dieses ganze Leben kommt nicht nur von der Autolobby, sondern es ist eine Art Lebensstil, der sehr ressourcenintensiv ist. Die Menschen stecken im wahrsten Sinne im fossilen Hamsterrad fest.

Dennoch: Gibt es eigentlich auch Momente, in denen Sie ein Auto genossen haben? Vielleicht einen schönen, alten Oldtimer in einem Museum oder mal mit dem Cabrio im Sommer durch 
die Gegend zu fahren?

KATJA DIEHL: Doch. In der Toskana bin ich mal mit einem kleinen Auto gefahren und habe auf Campingplätzen genächtigt. Da dachten alle italienischen Muttis: Die arme, dünne deutsche Frau ist verlassen worden – ich wurde abends immer bekocht, ich war Teil der ganzen italienischen Familie, dann gab es acht Gänge. Das war toll. Aber das war nicht das Auto, sondern eher die Möglichkeit mit dem Auto. Auf Island habe ich eine unglaubliche Lässigkeit im Umgang mit dem Auto erlebt, dauernd wurde man mitgenommen. Es war ganz natürlich, Fahrgemeinschaften zu bilden. Da haben sich Einheimische wie Tourist*innen 
gleichermaßen an den Rand der Straßen gestellt, und du wurdest immer mitgenommen.

Zum Abschluss: Kommen Sie sich manchmal vor wie Don Quichotte oder Sisyphos?

KATJA DIEHL: Ja.

Was motiviert Sie dennoch weiterzumachen? 

KATJA DIEHL: Manchmal habe ich dieses Gefühl: Das hat ja einfach überhaupt keinen Sinn, was ich mir da antue. Ich werde das wahrscheinlich selber gar nicht erleben, all die Vorteile einer Welt ohne Autos. Tatsächlich ist es etwas in Sachen Gerechtigkeit, was mich da antreibt. Ich sehe die vielen Menschen, die ausgeschlossen sind von diesem Autosystem. Jetzt haben wir diese Klimakatastrophe, und trotzdem ändert sich nichts. Der Anlass für mein neues Buch war der große Shitstorm im Februar letzten Jahres, mit vielen Morddrohungen. Es klingt jetzt ein bisschen simpel, aber es ist dieses Gefühl: Es ist das Richtige, was ich mache, lass die doch reden! Aber es ist natürlich nichts, was ich anderen empfehlen würde, denn ich bin erstaunt, wie krass der Gegenwind ist. Durch den Hass und meine Herabwürdigung durch andere habe ich mir ein dickes Fell aufgebaut. Das ist natürlich nicht nur gesund. Aber es hilft, über manchen Sachen zu stehen.

 

Das Interview führte Philipp Gessler am 21. Mai per Videokonferenz.

 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"