Inspiration

Über Nächstenliebe

Braucht es das eigentlich noch: eine theologische Begründung für die Nächstenliebe, für diakonisches Handeln der Kirchen? Ist nicht die Zuwendung zum Nächsten von Anfang konstitutiver Teil christlichen Lebens? Haben nicht reichlich fachkundige Frauen und Männer, Theoretikerinnen und Praktiker aus dem Bereich der Ethik, das Thema hinlänglich beleuchtet? Und sind nicht überhaupt die Zehn Gebote, die Bergpredigt und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter Begründung genug?

Dass die Moderne wohl doch nach mehr verlangt, zeigt einmal mehr Peter Bartmann in seinem Buch „Nächstenliebe. Das biblische Gebot – eine Inspiration für heute“. Darin nimmt der Autor eine Einordnung der biblischen (selbstverständlich auch der jüdischen) Grundlagen und der theologischen Reflexionen in die allgemeine europäische Geistesgeschichte vor und fragt nach den Unterschieden zwischen Kants kategorischem Imperativ beziehungsweise der so genannten Goldenen Regel und dem biblischen Liebesgebot.

Bartmann selbst verbindet in seiner Person Theorie und Praxis diakonischer Arbeit: Seit 2010 leitet der evangelische Theologe und Gesundheitsökonom in der Diakonie Deutschland das Zentrum Gesundheit, Rehabilitation und Pflege. Ehrenamtlich arbeitet er auch als Pfarrer im Gemeindedienst. Promoviert hat er über die Grundfragen christlicher Liebesethik. Thematisch daran angelehnt ist nun sein neues Buch. Es basiert auf der Überzeugung des Autors, dass ein ausgebauter Sozialstaat ebenso wie Caritas, Diakonie und andere karitative sowie humanitäre Organisationen „auf tönernen Füßen“ stünden, wenn sie nicht „durch die persönliche Haltung der Nächstenliebe über die Konfessions- und Religionsgrenzen hinweg getragen würden“.

Entsprechend untersucht Bartmann sowohl die individuelle, aus einer persönlichen Gottesbeziehung erwachsende als auch die organisierte/institutionalisierte Form der Nächstenliebe, wobei er die erstere als eine Art Impulsgeber für die letztere ausmacht: Aus der intuitiven, individuellen oder, wie Bartmann auch sagt, „charismatischen“ Einsicht in die Notwendigkeit des Engagements für den Mitmenschen folgt eine Einsicht in die Notwendigkeit der Organisation eines solchen Engagements. Damit verbunden sind Bartmann zufolge nicht nur die Gewinnung und Qualifizierung von Personal und die Beschreibung der Leistungen, sondern auch die finanzielle und rechtliche Absicherung. All diese Faktoren, die wohl unter dem Stichwort Professionalisierung zu subsummieren wären, haben in der organisierten Diakonie seit ihren Anfängen vor nunmehr 176 Jahren nach und nach Einzug gehalten. Im Jahre 2024 sind sie bei den Sozialwerken beider großer Kirchen selbstverständlich.

Wie aber den Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte zu begegnen ist, dem zunehmenden wirtschaftlichen Druck, unter dem der Sozialbereich steht, und vor allem dem Personalmangel, ist damit nicht geklärt. Mit welchen (christlichen) Argumenten lassen sich in Zeiten wachsender Kirchenferne Menschen für die diakonische Arbeit gewinnen – und zwar unabhängig von finanziellen Anreizen? Es wäre verdienstvoll gewesen, wenn Bartmann sich deutlicher diesen aktuell drängenden Fragen zugewandt hätte.

Stattdessen ist sein Buch eher ein Beitrag zur Selbstvergewisserung von Fachleuten und Führungskräften in der Diakonie, die nach den theoretischen Grundlagen ihres Handelns fragen. Ob Bartmann jedoch mit seinem Buch neben diesen professionellen „Diakonikerinnen“ und „Diakonikern“ auch den Altenpfleger/die Krankenschwester in einer Pflegeeinrichtung oder in einem kirchlichen Krankenhaus erreicht, dürfte wohl zu bezweifeln sein. Schade. Wo doch gerade diese Menschen „Inspirationen“ für ihren Knochenjob in der Nächstenliebe gut gebrauchen könnten.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Theologie"

Weitere Rezensionen