Vom Erzählen

In Liebe und Freiheit

Einleitungen beschränken sich zumeist auf den Hinweis freier Erfindung oder der freien Bezugnahme auf dieses oder jenes Ereignis. Die Einleitung, die Rafik Schami seinem Buch voranstellt, ist eine sehr persönliche aus den Jahren 2014/2015, in deren Mittelpunkt die Bibliothek seines bibliophilen Vaters im Sommerhaus der Familie nördlich von Damaskus steht – einst umfangreich und kostbar –, plötzlich, durch einen Raketenangriff, vernichtet, auf sechs Ex­emplare geschrumpft. Seine Schwester Samar schickt sie ihm nach Deutschland.

„Der sechste Band war der unauffälligste, dessen Titel mich sofort gefangen nahm. Wenn du erzählst, erblüht die Wüste. Das Buch war handgeschrieben. Weder am Anfang noch am Ende stand ein Autorenname. Nur, wie es bei solchen handgeschriebenen Büchern üblich war, das Datum der Niederschrift: Ostern 1890. Das ist ein deutlicher Hinweis, dass der Kopist oder Kalligraph ein Christ war. Der Autor bleibt im Dunkeln […] es ist […] wahrlich ein Roman, nur nicht nach europäischem Muster. Anscheinend nahm sich [der Autor] die legendäre Scheherazade zum Vorbild, um in einem Buch Perlen der arabischen Erzählkunst zu versammeln und durch eine ungewöhnliche Rahmenhandlung zu verbinden.“

In Erinnerung an seinen Vater und unter dem Eindruck der Kraft dieses Buches hat sich Rafik Schami zum Übersetzer dieses verzaubernden Geschichtenalmanachs gemacht. Dabei wiederholt sich für ihn jene Erfahrung, die ihn Jahrzehnte vorher schon beschäftigte, „dass manche Kammer und manches Kämmerlein der Sprache im Haus der neuen Sprache für einen, der als Erwachsener erst mit ihr in Kontakt kam, verschlossen bleiben“.

Dessen ungeachtet, gelingt Rafik Schami mit diesem fein gewirkten, strahlend vielfarbigen Geschichten-Teppich ein prismatisches Kunstwerk, in dem so ziemlich alles Weh und Ach, alles souverän Tugendhafte und schrecklich Schmerzliche, alles Tölpelhafte und Sehnsuchtsbesessene eines Menschenlebens in Gedanken, Worten und Werken zur Sprache kommt – wohlweislich immer eingebunden in ein „Es war einmal …“, das niemandem zu nahe tritt und doch allen, die dafür bereit sind, die Augen öffnet über Mut und Macht, eigenständiges Denken und fürsorgliche Vereinnahmung, Freiheit und Verstrickung.

Erzählt werden alle Geschichten in einem besonderen Kontext: Prinzessin Jasmin ist nach dem Tod ihrer Mutter in tiefer, chronisch anmutender Trauer und Depression versunken. Ihr Vater, der kluge König Salih, tut alles, um seiner Tochter zu helfen. So kommt eines Tages der aus fremdem Land stammende Hakawati (Geschichtenerzähler) Kamar an den Hof des Königs. Sein Angebot an König und Prinzessin lautet, an zehn Abenden hintereinander Geschichten zu erzählen und von den Zuhörenden weitere erzählen zu lassen. Gelingt es ihm damit, Prinzessin Jasmin wieder in die Gemeinschaft und in das Leben zurückzuführen? Hakawati Kamar nutzt dafür keinen gesondert geschützten Raum, sondern lädt Jasmin in einen großen Saal des Palastes – gemeinsam mit vielen anderen, die dort spontan ihre Geschichten erzählen: ein Kutscher, ein Lautenspieler, eine Lehrerin, ein Metzger, ein Pfarrer … An jedem der zehn Abende wird frei erzählt – so, wie es Hakawati Kamar schätzt als besondere Kultur dieses Landes, in dem er zu Gast ist und das Prinzessin Jasmin einmal lenken und leiten soll. Hier hat er „gelernt, wie gut die Freiheit den Ideen und Worten tut. [...] Nur im Schutz der Freiheit können Gedanken zu laut ausgesprochenen Worten werden.“ Mit diesen Sätzen umreißt Rafik Schamis Erzähler jenes hehre Ideal, das allerorten Sehnsucht in unterschiedlich erfahrener Wirklichkeit ist. Hier wird es in liebevoller Diktion für zehn Abende zum Sesam-öffne-Dich der hörenden und erzählenden Gemeinschaft und zur Erlösung der Verzweifelten. Was für ein warm funkelnder Zauber.

Wenn du erzählst, erblüht die Wüste ist ein hoffnungsvoll menschliches Buch, dessen Kraft sich doppelt ausbreitet – zu allen, die sich im Stillen daran freuen, wie zu denen, die sich einladen lassen, die Freude an der fantastischen Fabulierlust in Freiheit unmittelbar zu teilen und die Geschichten in Gemeinschaft, im wechselseitigen Vorlesen zu genießen.

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