Würdigung

Erinnerung an Peter Härtling

Dieser weit über vierhundert Seiten starke Band versammelt die späten Gedichte Peter Härtlings und hebt diesen so vielseitigen Autor noch einmal als bedeutenden Lyriker hervor. Peter Härtling, geboren 1933, hat sich bis zu seinem Tod 2017 gegen schwere Erkrankungen und mit den Erfahrungen des Alterns die Zeit für Gedichte genommen, die sämtlich nicht wie die Produkte eines Schreibzwangs anmuten. Ediert sind sechs Einzelbände ab dem Jahr 2000, dazu Gedichte aus Büchern und bisher unveröffentlichte. Der Band An den Ufern meiner Stadt ist von Klaus Siblewski sorgfältig und mit einem ausführlichen Nachwort herausgegeben.

In diesem Nachwort skizziert Siblewski Härtling als einen durch Krieg und Flucht bereits in seiner Kindheit schwer belasteten Menschen: Der Vater war in der Kriegsgefangenschaft umgekommen, und die Mutter hatte sich das Leben genommen, als der Junge gerade 13 Jahre alt war. Peter Härtling begann alsbald im Jahr 1946 mit dem Schreiben. Doch sollte es einige Zeit dauern, bis er nach für ihn selbst unbefriedigenden Prosaversuchen die Lyrik als die Form für sich entdeckte, in der er sich gegenübertreten konnte.

Die Gedichte des vorliegenden Bandes ziehen kein Resümee und intendieren keine in Vers gebundenen Vermächtnisse; sie sind durchweg nicht der Schnee von gestern, sondern der „Schnee von heute“. Sie lehnen sich zwar an die immer angesagten Themen des Alters wie Werden und Vergehen, Tod und letzte Momente an, sie wollen aber nie vor dem Leser etwas nur thematisch abhandeln.

In der Gegenwart von Wort und Rezipient können sie so zum Sprachereignis werden – in offener oder in Reim gebundener Form, aber nie in zergliederter Prosa. Denn auch als gebundene Rede sind sie im Gespräch, sind Anrede und Erwiderung. Auch liefern die Verse keine frömmelnde Dichtkunst, auch keine Anschlussbemühung an Psalmen und Kirchenlied, aber sie sind offen für Gott an den humanen Grenzen des im Alter nicht mehr zu leugnenden Zusammenhangs von Leben und Verlust. Der Lyriker ist mit ihnen in „ … Gedanken unterwegs, aber schlecht zu Fuß“.

Der literarische Kosmos Härtlings, seine Romane und Dramen, die großen Biografien deutscher Dichter und Komponisten des 19. Jahrhunderts, das politische Engagement des Schriftstellers etwa beim Kampf gegen die Startbahn West und seine Beziehungen zu literarischen Weggefährten wie Günter Kunert, Günter Herburger und Christa Wolf kommen hier in vielen Texten zur Sprache.

Ein Gedicht an Christa Wolf sucht die Kollegin in dem geschichtlichen Augenblick auf, in dem ihre Rede im November 1989 auf dem Alexanderplatz die ganze Erwartung, die Hoffnung und den Mut der Bürgerbewegung zur friedlichen Revolution rhetorisch verbindet und dabei die Agitation vermeidet. Auch Härtling engagiert sich und hofft auf die Nachgeborenen: „Sie / kommen, sie kommen nach und leben, was wir / aus Angst vergaßen, verdarben, verwarfen.“

Dem Autor von Kinderbüchern und -liedern begegnen wir in Abzählreimen, die keinem pädagogischen Impetus folgen, sondern dem, was Spielfreude und Mutterwitz gerade eingeben. Sie wollen einladen: Du Menschenkind darfst Kind bleiben. So vermeiden diese Gedichte eine Verklärung der Kindheit, aber helfen zur Klärung der eigenen Befindlichkeit durch Erinnerung an frühe Jahre. Auch die späte Liebe wird nicht verklärt und modisch in Weihereden mit dem Wort Reife gebunden. Vielmehr laden sie zur Liebe ein: „Komm in meinen Schlaf, Liebste, / Du warst schon lange nicht / mein Gast.“

Doch bei aller Bindung und Verbindung lösen sich die Texte auf originelle Weise von dem, was gewesen, aber nicht verloren ist: „Ich kann meine Schrift nicht mehr lesen / Ein Glück, dass es früher geschrieben / selber weiß, was es meint.“

Für diese späten Gedichte ist es nicht zu spät. Das Buch stellt eine schöne Würdigung, einen Nachruf und Dank für das dar, was nicht nur literarisch Interessierte an Peter Härtling gehabt haben und noch haben dürfen, und ist ein Zeugnis „nachgetragener Liebe“.

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