Den Lebensalltag, der sich neben der Literatur abspielt, will Navid Kermani bedenken: Jeden Tag eine Betrachtung aus unmittelbarer Erfahrung, ein Jahr lang. Es ist ein schweres Jahr: die Mutter gerade gestorben, die Ehe gescheitert, das Kind erkrankt lebensgefährlich. So kreisen die Gedanken immer wieder um Abschied und Trennungsschmerz, um Elternliebe, Elternangst. Aber Alltag ist eben auch und Weltgeschehen zugleich: Kläffende Hunde, Verkehrsmeldungen, der Kapitalismus, das hässliche Köln, die Diktatur im Iran, Psychosen, Sex, Religion, Filme, Lesereisen und sehr Vieles mehr werden in 365 Miniaturen bedacht. All das begleitet von Leseerlebnissen (angeblich) bislang ungelesener Autoren von A bis S, vor allem solchen, die autobiografisch unterwegs sind. Péter Nádas und Julien Green bekommen viel Raum.
Sehr persönlich reflektiert Kermani seinen ja nun gar nicht so alltäglichen Lebensalltag, beharrt aber darauf, mit dem erzählenden Ich nicht identisch zu sein. Einer Frau legt er seine Überlegungen in den Mund, einer iranisch-stämmigen Intellektuellen, gibt sich mit der weiblichen Perspektive aber nicht viel Mühe. Über weite Strecken vergisst sie sich beim Zuhören.
Warum auch nicht Kermani selbst zuhören? Er ist klug, und Eva Mattes liest meisterhaft: Drei, vier Stunden lang ist das Zuhören ein Genuss. Aber dann geht es noch fast zwanzig Stunden lang immer so weiter. Ermüdung stellt sich ein. Kermani merkt es selbst und behauptet, dass es so sein muss: viel Langeweile, um endlich auf einen Satz zu stoßen, der ins Herz trifft. Nun, Spitzensätze gibt es in diesem eigenartigen literarischen Projekt bis zum Schluss. Sie lassen sich beim Hören nur nicht anstreichen.
Angelika Obert
Angelika Obert ist Pfarrerin im Ruhestand in Berlin. Sie war bis 2014 Rundfunk- und Fernsehbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb).