Peter Dabrock u.a.: Unverschämt schön

Vage

Neue evangelische Sexualethik
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Trotz einiger Schwächen zeigt dieses Buch, in welche Richtung eine evangelische Sexualethik zu entwickeln ist.

Einen gemeinsamen Entwurf für eine zeitgemäße evangelische Sexualethik haben die fünf Autorinnen und Autoren vorgelegt. In drei Kapiteln möchten sie eine Ethik entwickeln, die aus der Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition und den Einsichten der Humanwissenschaften lebensnahe Orientierungen entwickeln und zudem kirchliche Handlungsfelder umreißen sollen.

Zunächst repräsentiert der Text den Mainstream gesellschaftlicher Meinungsbildung: Sexualität ist ein Feld menschlicher Selbstentfaltung und ein Bereich, in dem Glück und Erfüllung erfahren werden. Beides generiert die Kriterien, die über die Zulässigkeit und die Akzeptanz unterschiedlicher Praktiken entscheiden: Solange Sexualität auf Glück und Erfüllung ausgerichtet ist und auf gegenseitigem Respekt und Zustimmung erfolgt, ist gegen ihre Ausübung nichts einzuwenden.

Indem der Text im Wesentlichen diese Kriterien übernimmt, verabschiedet er sich zugleich von einem institutionen- oder ordnungsorientierten Zugang, der legitime Sexualität an die Ehe binden wollte. Die der Gewinnung von Kriterien vorgeschaltete biblische Grundlegung führt dabei etwas in die Irre: Während nämlich der Dialog mit den außertheologischen Wissenschaften vorrangig deskriptiv orientiert ist und so die herrschende Praxis analysierend nachvollzieht, scheinen die Passagen zur biblischen Grundlegung auf den ersten Blick normative Kriterien entwickeln zu wollen. In der Durchführung zeigt sich aber schnell, dass mit dem Bild von der Treue Gottes ein hermeneutischer Zugang gewonnen ist, der es ermöglicht, erkennbar von der Gegenwart geleitete Schwerpunktsetzungen in der Zusammenschau des Schriftzeugnisses zu legitimieren. Dabei ist ausdrücklich hervorzuheben, dass die Autorinnen und Autoren weit davon entfernt sind, unkritisch und vor allem unhistorisch Aussagen der Schrift in die Gegenwart übertragen zu wollen.

Es wäre aber vielleicht doch ehrlicher gewesen, diese Aneignung des emanzipatorischen Erbes der Neuzeit für die eigene Tradition der Schriftauslegung stärker als eine solche herauszustellen. Darüber hinaus sollte auch nicht verschwiegen werden, dass gerade die Texte des Neuen Testaments zwar nicht explizit, aber durch ihre Konzentration auf die Naherwartung und die dadurch gegebene Geringschätzung der Fortpflanzung durchaus auch einen leib- und sexualitätsfeindlichen Grundzug haben. Dennoch bleibt es das Verdienst der Studie, die Bedeutung der Gegenwart und die in ihr leitenden Orientierungsmaßstäbe Selbstbestimmung, Partizipation, Inklusion herausgestellt zu haben

So findet sich in den Einschätzungen zur Homosexualität, zur Sexualität im Lebenslauf, zur Pornografie und zur nicht mehr exklusiven Bindung der Sexualität an Ehe und Fortpflanzung viel Zustimmungswertes. Das kann aber nicht verdecken, dass es doch fragwürdig erscheint, ob eine so am Einzelnen orientierte Zugangsweise dem notwendig sozialen Phänomen der Sexualität wirklich gerecht wird. Es ist dabei sicherlich nicht zufällig, dass unter der Hand sich immer wieder ein an der Ehe orientiertes Kriterium in die Argumentation einschleicht, nämlich die Maßgabe, dass die Wahrnehmung von Sexualität an der gegenseitigen Liebe und der Dauerhaftigkeit der Beziehung orientiert sein sollte.

Auch hier ist dieser Erweiterung des Kriterienkatalogs vollumfänglich zuzustimmen, allerdings bleibt fraglich, ob die Distanzierung von einer institutionenorientierten Zugangsweise zur Sexualität dann noch in dem vorgestellten Maße aufrechterhalten werden kann.

Insgesamt scheint hier zu sehr eine Konzentration auf das selbstbestimmt handelnde, im Vollbesitz seiner Urteilsmöglichkeiten stehende Individuum gegeben zu sein – verbunden mit der Idee, dass sich soziale Beziehungen, in denen sich Sexualität immer abspielt, gleichsam von selbst durch die Ausrichtung am Selbstbestimmungsrecht durch alle ergeben. Dieser Grundgedanke hätte in seiner Plausibilität zumindest stärker begründet werden müssen. So aber bleibt eine häufig über das Ziel hinausschießende Glücks- und Liebesrhetorik, die von den Schwierigkeiten, Intimbeziehungen symmetrisch und ohne den von außen herangetragenen Druck, diffusen Erwartungen zu genügen, nur wenig berichtet

Dass es sich bei Intimbeziehungen um sehr verletzliche Beziehungen handelt, die nicht nur durch das Recht und die Moral, sondern auch durch die Modellierung der inneren Kriterien einer solchen Beziehung selbst geschützt werden müssen, bleibt zu wenig reflektiert. Insgesamt läuft sich die Diskussion immer wieder darin fest, gegen eine vermeintliche Leib- und Sexualitätsfeindlichkeit die Freiräume für deren Ausleben zu schaffen. Möglicherweise aber greift dieser – um es noch einmal zu betonen: sympathische! – emanzipative Grundzug, der vorrangig auf den Abbau von Schranken konzentriert ist, zu kurz, weil die Frage nach den Möglichkeiten der Verwirklichung von Selbstbestimmung, und damit die Frage nach deren sozialer Realität, zu sehr am Rande stehen.

So bleibt der Entwurf in manchen Punkten doch vage und versteckt Schwierigkeiten hinter einer nicht immer überzeugenden Wortwahl, die manchmal sehr technisch, dann aber wieder fast flapsig oder gewollt leger klingt – etwa wenn man es zwischen Rahel und Jakob knistern hört oder wenn davon die Rede ist, dass auch im Zeitgeist der Geist wehen kann. Schön wäre es gewesen, wenn die breiten, in der Sache aber nicht so weiterführenden Ausführungen zu den Humanwissenschaften stärker zurückgeschnitten worden wären und der Ausarbeitung der interessanten Ansätze und vor allem deren präziserer Zusammenschau mehr Platz eingeräumt worden wäre. Dennoch zeigen diese Ausführungen, in welche Richtung eine evangelische Sexualethik zu entwickeln ist.

PeterDabrock/Renate Augstein/Cornelia Helfferich/Stefanie Schardien/Uwe Sielert: Unverschämt – schön. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015, 176 Seiten, Euro 14,99.

Reiner Anselm

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Weitere Rezensionen

Kein Mensch ist illegal

Unter Schafen

Starkes Benefizalbum
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"Kein Mensch ist illegal" ist Statement und Hörabenteuer, ob Rap-Diktion oder Gitarren-Talking.

Der Biss aufs seelenlose Klischee schmerzt, auch bei denen, die sich mundvoll Rock’n’Roller nennen. Und es sind Gespräche, die wir führen. Nehmen wir den Bildhauer, Maler, was auch immer. Nicht berühmt, aber auskömmlich arriviert in der Stadt, in der er partiell schillernd lebt, zumindest in seiner Alterskohorte. Mit Ende fünfzig greift er wieder zur Gitarre. Wie früher. Ist in Bands, deren Gigs dank Partnerinnen und nostalgisch mitgealterten Bekannten verlässlich besucht sind. Rolling Stones-Dino Keith Richards gilt als Referenz, musikalisch und als Künstlertyp.

Sensibel, egoman, aber kreativ – und deshalb angeblich berechtigt unterm Anstandsradar – wie man selber, ganz Stereotyp im Bürgerschafspelz. Sprich mit solcherart Späterweckten über Benefizprojekte wie die Doppel-CD „Kein Mensch ist illegal“, und dich springt plötzlich Schärfe an: Das sei doch alles Masche, es gehe immer nur um Frauen und Kohle, in diesem Benefizfall also darum, via Compilation neue Käufer zu finden. So kann man das sehen mit dem Rock’n’Roll. Erzählenswert ist das jedoch nur, weil es psychologisch interessant ist. „Alles Affen“, würde eine Freundin empört dazu sagen, wobei ausgerechnet jene intuitiv wohl mehr Verständnis für derlei Altruismus hätten, wie Primatenforscher Frans de Waal jüngst wieder darlegte.

Aber lassen wir die Bonobos getrost beiseite: „Kein Mensch ist illegal“ mit 36 Tracks ist eine Wucht, bärenstarke Compilation und Leistungsschau von aktuellem Deutsch-Pop/Rock/Rap und mehr zugleich. 100 Prozent der Einnahmen bekommen „Pro Asyl“ und das Netzwerk „Kein Mensch ist illegal“. Ein Sampler, der Position gegen die Abschiebepolitik bezieht und sich mit denen auf der Flucht solidarisiert und flugs zwei Tonträger brauchte, weil so viele bei dem Projekt von „Unter*Schafen Records“ mitmachen wollten. Herbert Grönemeyer und „Die Goldenen Zitronen“ hatten davon gehört und kamen von selbst, auch „Ton Steine Scherben“ sind mit einem Track vertreten.

Ansonsten nur neueste Ware: Durchstartende Newcomer wie AnnenMayKantereit und Trümmer, Etablierte wie Farin Urlaub von den Ärzten, Deichkind, Jan Delay, Frittenbude, Thees Uhlmann und Tocotronic mit „Prolog“ vom frischen „Roten Album“. Dazu viele aufrechte (Punk-)Rocker von Kraftklub, k.i.z., Love A und Madsen bis zu den Boxhamsters sowie viele, viele Entdeckungen. OK Kid („Stadt ohne Meer“) mischen Indierock und Rap-Flow, Marcus Wiebusch von Kettcar konstatiert wortstark „Jede Zeit hat ihre Pest“, Marteria zeigen eine „Welt der Wunder“ und Fiva sagt „Das Beste ist noch nicht vorbei“.

„Kein Mensch ist illegal“ ist Statement und Hörabenteuer, ob Rap-Diktion oder Gitarren-Talking. Ein toll kompiliertes Album, dessen Grundbeat Love A formulieren: „Nur wenn jemand mal aufgestanden ist, darf er sich setzen – darum bleiben hier so viele Stühle leer.“ Affengeiles Album, absolut State of the Art, Bonobo-sympathisch.

Kein Mensch ist illegal. Doppel-CD, Unter*Schafen Records/Al!ve-AG.de 2015.

Udo Feist

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David Nirenberg: Antijudaismus

Penibel

Über die Kultur des Westens
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Hat sich das so genannte westliche Denken vor allem in Auseinandersetzung mit und Ablehnung des spätantiken „jüdischen“ Denkens herausgebildet?

Die Geschichte menschenfeindlichen Ungeistes unterscheidet zwischen kirchlichem „Antijudaismus“, auf den dann spätestens seit dem Zeitalter der Aufklärung ein quasi naturwissenschaftliches Weltbild, der rassistische „Antisemitismus“ folgte.

Nun will der in Chicago lehrende und forschende Historiker David Nirenberg in einem soeben erschienenen Buch "Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens" nachweisen, dass wesentliche Strömungen „westlichen“ Denkens schon im Ansatz judenfeindlich sind – etwa der moderne, mit Edmund Burke einsetzende Konservativismus. Bekanntlich wollte Burke – in dieser und nur in dieser Hinsicht ein Vorläufer Hannah Arendts – zeigen, dass die Menschenrechte, sofern sie weniger als die Rechte eines der Bürger eines realen Staates sind, ihren Namen nicht verdienen. Bekanntlich war Edmund Burke einer der schärfsten zeitgenössischen Kritiker der Französischen Revolution. „Wir müssen deshalb fragen“, so Nirenberg, „warum verstand – oder zumindest, warum kritisierte – Burke die Revolution, in solchen jüdischen Begriffen?“ Tatsächlich hatte Edmund Burke die Prediger der französischen Revolution als „schmutzige (im Original hieß es: „jüdische“) Geldmakler“ beschrieben, die miteinander wetteiferten, „wer das Elend und den Verfall, worin sie ihr Vaterland durch verderblich Ratschläge gestürzt hatten, mit falscher Münze und nichtswürdigen Papieren am besten würde heilen können.“ Nirenbergs Kritik, die Burke des Antisemitismus zeiht, verwundert deshalb, weil dieser Autor in seiner quellengesättigten "Anderen Geschichte des westlichen Denkens" ansonsten darauf besteht, strikt zwischen „Antijudaismus“ und modernem Rassenantisemitismus zu unterscheiden. Nirenberg, der sich als Erforscher der „Intellectual History“ vor allem mit den Beziehungen von Juden, Christen und Muslimen im Mittelalter befasst, beabsichtigt mit seinem neuen Buch nicht weniger, als nachzuweisen, dass sich das so genannte westliche Denken vor allem in Auseinandersetzung mit und Ablehnung des spätantiken „jüdischen“ Denkens herausgebildet habe. Um diesen Nachweis zu führen, schlägt Nirenberg einen weiten, stets penibel recherchierten Bogen von der paganen Antike über die frühe Kirche, von der Stellung der Juden im christlichen Mittelalter bis zur Reformation, von Aufklärung und idealistischer Philosophie bis zu Karl Marx‘ historischem Materialismus.

Dabei zeigt sich, dass das, was Nirenberg als „Antijudaismus“ bezeichnet, wesentlich den Überlegungen und Argumentationen vor allem griechischsprachiger, später lateinischer Autoren, etwa des Kirchenvaters Augustinus entstammt – Argumentationen, die sich immer wieder auf den Apostel Paulus beziehen, der damit zum Ursprung des Antijudaismus wird. War es doch der Völkerapostel Paulus, der den zu bekehrenden Heiden die Juden als „Feinde(n) um Euretwillen“ nahegebracht hatte. In seinen Analysen der Briefe des Apostels stellt Nirenberg dabei ganz richtig fest, dass Paulus – anders als ihn später die Gnostiker verstehen wollten – keineswegs ein radikaler, wohl aber ein „gemäßigter“ Dualist war, für den die „falsche Aufmerksamkeit“, so Nirenberg „für die Welt von Gesetz, Buchstabe und Fleisch von großer, sogar tödlicher Gefahr“ gewesen seien. Seine ähnlich vorgehenden Untersuchungen der Evangelien übergehen indes alle das systematische Problem, ob es jenes Judentum, gegen das sich Paulus und die Evangelisten, und der spätere westliche Antijudaismus angeblich gewendet hatten, in der gemeinten, beschworenen Form im augusteischen Zeitalter überhaupt schon gegeben hat. Dann aber zeigt sich, dass der Autor jenen „Antijudaismus“, den er als systematischen Grundzug des westlichen Denkens nachweisen will, bereits voraussetzt. So übergeht er den Umstand, dass auch das im engeren Sinne „jüdische“, also doch antike/spätantike rabbinische Denken, gegen das sich das Christentum profilierte, stark – wie vor allem Daniel Boyarin gezeigt hat – von griechischen Denkfiguren geprägt war.

Indem Nirenberg eine vergleichsweise starre Gegensätzlichkeit von „griechischem“ und „jüdischem“ Denken postuliert, nimmt er das Ergebnis seiner Untersuchungen von Anfang an vorweg und übergeht alle Forschungen, die im Judentum selbst Züge griechischen Denkens nachgewiesen haben; ganz zu schweigen davon, dass für jüdische Gemeinschaften in der Antike die griechische Septuaginta vermutlich von größerer Bedeutung war als die, erst Jahrhunderte später akzeptierte, masoretische hebräische Bibel. In den letzten Abschnitten seiner Studie geht Nirenberg der Frage nach, ob und – wenn ja – in welchem Ausmaß dieses antijüdische westliche Denken mit zum Holocaust geführt habe, ohne es doch als monokausale Ursache zu benennen: „Ich glaube aber,“, so Nirenberg abschließend, „dass ohne diese tiefe Ideengeschichte der Holocaust unvorstellbar war und unerklärlich ist... Die ‚jüdischen‘ Ängste, die Deutschland und viele seiner Nachbarn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts heimsuchten, (...) waren vielmehr die Folge einer Geschichte, die die Bedrohung durch das Judentum in einige Grundmuster des westlichen Denkens eingeschrieben hatte, dieser Bedrohung in jedem Zeitalter eine neue Form gab und viel zu vielen Bürgern des 20. Jahrhunderts bei der Deutung ihrer Welt half.“

David Nirenberg: Antijudaismus. C. H. Beck Verlag, München 2015, 587 Seiten, Euro 39,95.

Micha Brumlik

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David Leavitt: Späte Einsichten

Großartig

Eine Flucht nach Amerika
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Leavitt hat einen beeindruckenden Roman geschrieben, der beleuchtet, wie sich Verborgenes nach oben kämpft.

Geraten die Bahnen des Lebens ins Wanken, fällt es schwer, die Untiefen der Seele im Zaum zu halten. In David Leavitts Späte Einsichten, im Original The Two Hotel Francforts, begegnen sich zwei Paare im Lissabon des Sommers 1940 und sortieren sich neu, während sie gemeinsam auf die rettende Schiffspassage nach New York warten. Die Charaktere fliehen doppelt – vor den Nazis, aber vor allem vor sich selbst, und verstecken sich hinter einer Fassade, bis die Komödie in einer Tragödie endet. Pete Winters, ein aus dem Mittleren Westen stammender Autohändler und seine jüdische New Yorker Ehefrau Julia treffen nur scheinbar zufällig auf das Künstler-Ehepaar Edward und Iris Freleng, er amerikanischer Jude, sie Britin. Beide veröffentlichen unter einem Pseudonym Kriminalromane.

Während Leavitt in den Teilüberschriften „Irgendwo“, „Anderswo“, „Nirgendwo“ und „Überall“ andeutet, seine Geschichte könnte überall und zu jeder Zeit spielen, steht die historische Kulisse als verheißungsvolles Symbol: Europa steht am Abgrund, Lissabon ist „ein Landungssteg, eine Warteschleife, eine Durchgangsstation“. Oberflächlich umgibt den Ort eine scheinbare Leichtigkeit. Intellektuelle bevölkern die Esplanaden, flanieren am Strand oder plaudern genügsam bei Creme-Törtchen.

Auf den Leser mag die Leichtigkeit nicht so recht überspringen, denn Lissabon ist auch eine Art Styx, eine Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Um sich herum spürt Edward „nichts als Leiden und Furcht“. Abertausende Flüchtlinge kämpfen verzweifelt um Schiffspassagen und Reisepapiere, denn nach der Kapitulation Frankreichs ist die Stadt das letzte Tor zur Freiheit. Lissabon ist Sinnbild für Heimatverlust und Flucht, Schwebe und Durcheinander, Gefahr und Untergang bei heiterer Musik. All das verkörpern auch Leavitts Charaktere.

Pete fühlt sich zunehmend erdrückt von der Last, Julia zu beschützen und ihre ausufernden Nörgeleien zu ertragen. Er verfällt stattdessen Edward. Als dieser ihn verführt, nimmt er ihm zuvor die Brille ab: „Damit du wahrheitsgemäß sagen kannst, du hättest es nicht kommen sehen“, so Edward. Pete stolpert sozusagen symbolisch blind in die Affäre. Iris duldet dies, nur Julia darf nichts erfahren, denn das würde sie zerstören. So spielt „eine dreiköpfige Commedia-dell´Arte-Truppe (…) einem ahnungslosen einköpfigen Publikum eine Komödie vor“. Julia bleibt dennoch nicht verborgen, dass der Gatte ihr entgleitet.

Aber Angst wird entweder hinter Selbsttäuschung versteckt oder in Absinth ertränkt, Trauer wird mit Heiterkeit überspielt, Unsicherheit im Motor gesellschaftlicher Konventionen erstickt und Krieg mit „Haute-Couture-Gasmaskenhaltern“ modisch geschmückt. Und zur Ruhigstellung werden Barbiturate gereicht. Unter der Oberfläche aber bleibt Unbequemes versteckt, so auch zwei verleugnete Kinder – Julias unehelicher Sohn und Iris' autistische Tochter.

Auch Edwards wiederkehrende depressive Episoden sind für Iris mehr ein Zeichen seines Genies als ein Leiden. Jahrelang führten die beiden ein „Vagabunden-Dasein“ in Erste-Klasse-Hotels. Auf ihr Drängen hin zogen sie stets weiter, im Versuch, vor seinen Problemen zu fliehen.

Am Ende ist Julia die einzige, die nicht schauspielert. Mit der Flucht aus ihrer Pariser Wohnung hat sie die Freiheit verloren, die sie mit der Flucht vor ihrer Familie nach Frankreich einst gewonnen hatte. Ihre jüdische Herkunft und Verwandtschaft möchte sie abschütteln, aber beides haftet an ihr. Julia sieht bereits in den Abgrund, als Pete sich von ihr entfernt und ihr jede Hoffnung auf Rückkehr nimmt: „Man entkommt nicht. Niemals“, klagt sie, kurz bevor sie sich schließlich vom Dach stürzt.

Leavitt hat einen großartigen Roman geschrieben, der beleuchtet, wie sich Verborgenes nach oben kämpft. Er glänzt mit schöner Sprache und erzeugt mit gut platzierten Motiven aus der griechischen Mythologie und mit in poetisch-romantisch verpackten unerwartet aufblitzenden Aggressionsäußerungen düstere Stimmungen inmitten eines belanglosen Rausches. Überall finden sich phantasiereiche Vergleiche und Bilder, starke Symbole und entzückende Details. Ein Meisterwerk auf 300 Seiten, das dem Leser viel Stoff bietet, Rätsel aufgibt und zum Nachdenken anregt.

David Leavitt: Späte Einsichten. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015, 304 Seiten, Euro 20,–.

Katharina Lübke

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Cord Aschenbrenner: Das evangelische Pfarrhaus

Anschaulich

Über das evangelische Pfarrhaus
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Dieses Buch ist kein weiterer Überblick über die Geschichte des evangelischen Pfarrhauses von Luther bis heute. Stattdessen veranschaulicht es diese Geschichte an einem einzelnen, zeitlich und örtlich beschränkten Beispiel.

Bücher über das evangelische Pfarrhaus gibt es viele. Im selben Maße, wie im Verlaufe des 20. Jahrhunderts die Pfarrhauskultur verloren ging, ist eine – nicht selten verklärende – Erinnerungskultur rund um das evangelische Pfarrhaus entstanden. Das Buch des Journalisten Cord Aschenbrenner reiht sich in diese Erinnerungskultur ein. Es fügt ihr aber auch eine neue, ungewöhnliche Facette hinzu, die das Buch aus der übrigen Pfarrhausliteratur heraushebt: Aschenbrenner erzählt die Geschichte des evangelischen Pfarrhauses im Spiegel einer deutsch-baltischen Familiengeschichte – der Geschichte der im 18. Jahrhundert von Thüringen nach Estland verpflanzten Familie Hoerschelmann.

Aus den reichen familiengeschichtlichen Quellen und unter Hinzuziehung der einschlägigen Forschungsliteratur zur Geschichte des Pfarrhauses und des deutschen und baltischen Protestantismus formt Aschenbrenner eine eingängige Erzählung, die den Leser unterhält, belehrt und bewegt. 1768 siedelte der erste Hoerschelmann nach Estland über und begründete zusammen mit seinem Bruder eine verzweigte Pastorendynastie, die bis ins 20. Jahrhundert im Baltikum lebte. Das Buch folgt den Schicksalen der Familie in den Umbrüchen der Moderne bis in die Gegenwart. In einer Reihe von persönlichen Porträts werden einzelne Hoerschelmanns – Männer wie Frauen – mit ihrem Leben und Wirken vorgestellt und in ihre Lebenswelt eingeordnet. Deutlich wird, wie schnell die Hoerschelmanns Teil der deutsch-baltischen Kultur wurden und sich zugleich um die Öffnung dieser Kultur für die Moderne und um die Verständigung mit Esten und Russen bemühten. Auch das Familienschicksal im 20. Jahrhundert, vor allem in den Weltkriegen, die das östliche Europa völlig umgestalteten, wird ausführlich behandelt. Historische Exkurse geben Hintergrundinformationen, die ein vertieftes Verständnis der Familiengeschichte ermöglichen. Dazu tragen auch Bilder, Karten und eine Stammtafel bei.

Leider verzichtet der Verfasser darauf, zusammenfassend über seine Quellenbasis zu informieren und seine Verarbeitung der Quellen kritisch zu reflektieren. Gerade aber, wenn es um familiengeschichtliche Nachrichten geht, muss man sich bewusst sein, dass diese Quellen oftmals nur einen Ausschnitt zeigen und zudem die Erinnerung aus bestimmter Perspektive wiedergeben und geradezu konstruieren. Wenigstens ein paar, die Danksagung und Auswahlbibliographie erläuternde Bemerkungen zur Quellenlage und zur Quellenkritik hätte es darum geben müssen.

Was den Titel Das evangelische Pfarrhaus und die Werbung auf dem Buchumschlag betrifft, die behauptet, es gehe im Buch um „Macht und Mythos des deutschen Pfarrhauses von Luther bis in die Gegenwart“, so ist zu bemerken, dass das Buch von einer einzelnen Pastorenfamilie und ihrer Verflochtenheit mit dem Schicksal des deutsch-baltischen Protestantismus von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts handelt. Gerade das ist die Stärke des Buchs: Nicht einen neuen Überblick über die Geschichte des evangelischen Pfarrhauses von Luther bis heute zu geben, sondern an einem einzelnen, zeitlich und örtlich beschränkten Beispiel diese Geschichte zu veranschaulichen. Dadurch wird deutlich, welche historische und kulturelle Bedeutung das Pfarrhaus und der deutsch-baltische Protestantismus hatten – und welchen Verlust ihr Verschwinden bedeutet.

Cord Aschenbrenner: Das evangelische Pfarrhaus. Siedler Verlag, München 2015, 368 Seiten, Euro 24,99.

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Christian Albrecht/Reiner Anselm: Teilnehmende Zeitgenossenschaft

Spannend

Zeitgeistverliebte Protestanten
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25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist es an der Zeit, das Klischee des zeitgeistverliebten Protestantismus einer historischen Tiefenprüfung zu unterziehen.

Einem landläufigen Klischee zufolge sind Protestanten Zeitgeistverliebte. Schließlich scheint es kaum einen gesellschaftlichen Trend zu geben, der nicht früher oder später auch seine religiös-theologische Untermauerung oder Anverwandlung erhält. Und Kirchentage, so hört man dann weiter, dienten vor allem als Messen für Trends in Sachen zeitgemäßer Religionskultur.

So richtig es ist, skeptisch gegenüber diesen, nicht zuletzt in gelehrten Feuilletons immer wieder zu hörenden Stimmen zu bleiben, so wenig darf übersehen werden, dass (fast) jedes Klischee irgendwo seinen Anhaltspunkt in der Wirklichkeit findet. In Sachen Protestantismus darf man, zumindest für die Tage der alten Bundesrepublik, sagen, liegt dies an seiner bisweilen ausdrucksstarken, mentalen Differenz zum kirchlich verfassten Katholizismus. Das ist in einer zutiefst bi-konfessionellen Gesellschaft auch nicht weiter verwunderlich. Demgegenüber ist es 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung an der Zeit, das Klischee des zeitgeistverliebten Protestantismus einer historischen Tiefenprüfung zu unterziehen. Der hier anzuzeigende Band, der von Christian Albrecht und Reiner Anselm herausgegeben wurde, bildet den Auftakt zu einer Reihe, die den Wirkungen der Religion in der Bundesrepublik in historischer und analytischer Perspektive nachgehen möchte. Im Vordergrund steht dabei Rolle, die der vielfältig verfasste und vernetzte Protestantismus in den ethischen Debatten der Frühphase der alten Bonner Republik, also in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, gespielt hat. Dabei eint die Autorinnen und Autoren – Theologen, Juristen, Historiker, Sozialwissenschaftler, Jüngere und bereits Etablierte –, dass man von „dem“ Protestantismus genauso wenig reden kann, wie es Sinn haben würde, ohne Fokus auf einzelne Akteure, auch innerhalb breiterer Bewegungen, dem konkreten Einfluss protestantischer Mentalitäten auf die Spur zu kommen.

Arbeiten sich im ersten Teil des Bandes die Beiträge daran ab, welche konzeptionellen Strategien und Angebote protestantische Denker zu den Großthemen der damaligen Zeit – Sozialstaat, Demokratieverständnis, Fragen nationaler Identität im Angesicht der Teilung – beitrugen, stehen im zweiten, umfassenderen Teil konkrete Fallbeispiele im Mittelpunkt. Es geht um die Rolle der evangelischen Akademie Hermannsburg-Loccum bei der Integration der mehrheitlich protestantischen Ostvertriebenen, um den Einfluss evangelischer Rundfunkarbeit oder auch um die Bedeutung der protestantischen Sittlichkeitsbewegung für die Ehe- und Familienarbeit, sowie bei Initiativen zur sexuellen Aufklärung und zum Jugendschutz. Dem kirchlichen, auch kirchenoffiziellen Engagement zur Etablierung der Kriegsdienstverweigerung wird ebenso nachgegangen, wie anhand von Biographien heute kaum mehr erinnerter Größen, wie Werner Simpfendörfer und Friedrich Karrenberg gezeigt wird, dass individuelle, protestantische Identitätsvergewisserung in umfängliches öffentliches Tun mündete, etwa bei der Gestaltung von Gottesdiensträumen oder im Aufbau gesellschaftspolitischer Netzwerke.

Mit alledem wird dem Leser und der Leserin auf spannende Weise die Vielgestaltigkeit des Einflusses des Protestantismus in seinen individuellen, gesellschaftspolitischen und kirchlichen Ausprägungen in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten nahegebracht. Ein Aspekt, der in vielen Beiträgen des Bandes immer wieder zum Vorschein kommt, ist die zumindest für den Rezensenten einigermaßen überraschende Einsicht, wie sensibel, aber eben auch kritisch viele damalige Zeitgenossen bereits auf das reagierten, was Soziologen später unter den Begriff der Individualisierung fassten. Gesellschaftliche Individualisierungs- und Pluralisierungsschübe wurden in den eigenen Milieus nicht nur beobachtet, sondern zu gestalten versucht. Da-rin partizipierte der Protestantismus am Lernprozess einer sich erst langsam als demokratisch selbst verstehenden Gesellschaft; konservative wie bisweilen restaurative Gegenströmungen mit inbegriffen. Nicht nur in diesem Sinne lässt sich das eingangs erwähnte Vorurteil somit dahingehend korrigieren, dass es vielleicht weniger die Zeitgeistverliebtheit ist, die den Protestanten ausmacht, sondern eine stets auch mit Fehlern und Blindheit geschlagene, aber darin doch wachsame teilnehmende Zeitgenossenschaft.

Christian Albrecht/Reiner Anselm (Hg.): Teilnehmende Zeitgenossenschaft. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2015, 416 Seiten, Euro 59,–.

Christian Polke

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Alessandor Scarlatti: Vespro della Beata Vergine

Reiche Klänge

Vesper von Scarlatti
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Zu diesem Kunststück im Wortsinne kann man dem Ensemble und seinem Leiter Jochen M. Arnold nur gratulieren!

Bei Scarlatti denken viele Musikliebende sofort an eine Flut von Cembalosonaten und bei einer Vespro della Beate Vergine, einer Vesper für die selige Jungfrau, kurz einer Marienvesper, sofort an Claudio Monteverdi. Beides führt in die Irre, denn beim Komponisten der Musik dieser Aufnahme handelt es sich nicht um den Sonatenvielschreiber Domenico Scarlatti – 555 Cembalosonaten sind von ihm überliefert –, sondern um dessen Vater Alessandro (1660–1725). Und die Vesper für die selige Jungfrau ist nicht Monteverdis weltberühmte Marienvesper von 1610, sondern eine Zusammenstellung von sieben Psalmvertonungen Scarlatti des Älteren.

Alle Werke haben gemeinsam, dass sie für den Vespergottesdienst am Sonntagabend geschrieben sind. Gelegentlich findet in den beim ersten Hören etwas herb wirkenden Werken auch der Gregorianische Choral Verwendung – besonders kunstvoll im „Laudate Pueri“: Scarlatti komponiert ihn nicht als Melodiestimme im Vordergrund, sondern die Zeile Sit nomen dominum Dominum benedictum ex hoc nunc et usque in saeculum (deutsch: „Der Name des Herrn sei gepriesen, von jetzt an bis in Ewigkeit“) läuft hinter- bis untergründig im polyphonen Geflecht mit. Eine faszinierende Klangschichtung, die erst beim zweiten Hören auffällt und beim dritten dann schon sehnsüchtig erwartet wird. Immer wieder treten berückende Soli, Duette und Terzette aus dem prachtvollen Tuttiklang des achtzehnköpfigen Ensembles hervor. Die solistischen Partien werden alle aus den Reihen des Ensembles bestritten. Hier liegt die Quelle der großen Qualität der „Scarlattisten“: Die Sängerinnen und Sänger sind alles gestandene Solisten, lassen aber darob im Tutti keinerlei vordergründigen Geltungsdrang verspüren und verschmelzen dort zu einem einheitlichen, dabei zugleich individuell-lebendigen Klang.

Zu diesem Kunststück im Wortsinne kann man dem Ensemble und seinem Leiter Jochen M. Arnold nur gratulieren! Die Scarlattisten setzen in ihren tiefschürfenden und lebendigen Interpretationen aufs Feinste das um, was Scarlatti selbst im Jahre 1706 in einem Brief über seine Kompositionsweise schrieb: Man könne in der Musik Dissonanzen und Konsonanzen wie „Farben vermischen“, ja, wie „Licht und Schatten in der Malerei“ kontrastieren, die „ohne die Vermischung der gedachten regelmäßig und künstlich gebrauchten Farben niemals vollkommen seyn kann“.

Alessandro Scarlatti: Vespro della Beata Vergine.Gli Scarlattisti Leitung: Jochen M. Arnold Spektral-CD 15142

Reinhard Mawick

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Volker Reinhardt: Luther, der Ketzer

Zwiespältig

Rom und die Reformation
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Lutherkritiker dürften sich durch dieses Buch in ihrer Haltung bestätigt fühlen.

Das 500-jährige Reformationsjubiläum schickt sich an, ein Medienereignis zu werden. Vorboten sind zahlreiche Bücher und Broschüren, die zurzeit den deutschen Buchmarkt überschwemmen. Neben erbaulichen und (vermeintlich) humorvollen Schriften zu Luther, Kinderbüchern, Comics und Lutherbrevieren, kirchenpessimistischen Gegenwartsdiagnosen und protestantischen Selbstfindungsbüchern treten Neueditionen von Schriften und eine Vielzahl an Lutherbiographien. Insbesondere letztere erheben den Anspruch, Martin Luther so zu zeigen, wie er noch nie gesehen worden ist. Dem kann sich auch das Werk von Volker Reinhardt nicht entziehen, wenn auf der Banderole behauptet wird: „Geheimakte Luther. Vatikanische Quellen decken auf, was in der Reformation wirklich geschah.“ Es riecht nach verstaubten Akten, mysteriösen Quellen und sensationellen Funden, die in einem uralten Schrank der römischen Inquisition aufbewahrt und erstmals geöffnet worden sind.

Dem Autor, Historiker in Fribourg und exzellenter Kenner des Renaissance-Papsttums, könnte ein solcher Coup gelungen sein! Diese Begeisterung wechselt allerdings bei der Lektüre schnell in Enttäuschung. Wie das Literaturverzeichnis bestätigt, wird keine einzige neue Quelle erschlossen. Stattdessen arbeitet Reinhardt mit den von Theodor Brieger und Paul Kalkoff seit 1884 publizierten Depeschen des Nuntius Aleander, zieht die seit 1892 edierten Nuntiatur-Berichte aus Deutschland heran und bedient sich der seit 1901 vorliegenden Deutschen Reichstagsakten. Diese und weitere Quellen, die Generationen von Luther- und Reformationsforschern als Grundlage für die wissenschaftlich-differenzierte Sichtweise auf den römischen Prozess um Luther dienten, sind somit alles andere als geheim.

Spannend – besser spannungsreich – ist die sich an Luthers Leben abarbeitende und in glänzendem Stil verfasste Biographie gleichwohl. In aller Deutlichkeit erzählt der Autor die Geschichte aus römischer Perspektive und liest die Reformation als ein deutsch-italienisches Missverständnis. Letztlich – so Reinhardts These – sei die Reformation nicht eine religiöse Angelegenheit (Luthers reformatorischer Erkenntnisprozess wird gänzlich ausgeklammert), sondern eine kulturelle und politische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Italien gewesen. Der Kulturgegensatz mit seinen nationalen Tönen, den die deutschen Humanisten vorweggenommen hatten und den Luther nur aufnehmen musste, habe als „Clash of Cultures“ zu beiderseitigen Vorurteilen, Unverständnis und letztlich zur Kirchenspaltung geführt. Historiographisch erinnert diese Sichtweise an eine Synthese aus nationaler und ultramontaner Lutherdeutung des ausgehenden 19. Jahrhunderts

Zur Stärke des Buches zählen die Darstellungen der Päpste mitsamt ihren politischen Hintergründen zu Luthers Zeit. Beeindruckend ist das Einfühlungsvermögen, mit dem sich der Autor in die päpstlichen Nuntien Cajetan (Augsburg 1518), Aleander (Worms 1521) und Vergerio (Wittenberg 1535) hineinzuversetzen versteht. Demgegenüber bleiben die Versuche, auch Luthers Perspektive auf Begegnungen mit den römischen Vertretern darzustellen, in kritischer Distanz. Überhaupt wird über Luther nicht viel Gutes berichtet, wie bereits die Überschriften der fünf Kapitel verdeutlichen: Von „Luther, de[m] Mönch“ über den „Kritiker“, zum „Barbar“, „Vergessenen“ und „Ketzer“ reichen die Zuschreibungen. Die Theologie Luthers mit ihrer systemsprengenden reformatorischen Botschaft spielt beim Historiker Reinhardt keine Rolle. Stattdessen geht es um Inszenierungen, Selbststilisierung, Intrigen und letztlich um Macht. Lutherkritiker dürften sich durch dieses Buch in ihrer Haltung bestätigt fühlen.

Christopher Spehr

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Foto: Anne Günther FSU Jena

Christopher Spehr

Dr. Christopher Spehr ist Professor am Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.


 

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Sebastian Bork u.a. (Hg.): Wechselwirkungen im Gemeinwesen

Kooperationen

Kirche und Diakonie im Norden
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Wer sich diesen Sammelband zu Gemüte führt, erfährt Neues über die kirchliche Arbeit in der multireligiösen Stadt ebenso wie über die Modelle aus Mecklenburg und Vorpommern, wo der Rückgang der Gemeindeglieder noch spürbarer ist.

Deutschland verliert immer mehr Einwohner. Jahr für Jahr, und zwar vor allem auf dem Land. Das betrifft die Kommunen ebenso wie die Kirchengemeinden. Traditionsabbrüche sind hier wie dort spürbar. Doch das Schrumpfen muss nicht automatisch eine Katstrophenstimmung heraufbeschwören, es bietet auch die Chance für einen Aufbruch. Allerdings muss diese wahrgenommen und gestaltet werden. Viele Kirchengemeinden und Kommunen haben das erkannt und steuern in Stadt und Land mit Konzepten und Projekten dagegen.

Das große Verdienst der Herausgeberinnen und Herausgeber dieses umfangreichen Bandes ist das Sammeln, Bündeln und Zusammenfassen von zahlreichen Beiträgen, die sich eben diesem Thema widmen und in den vergangenen drei Jahren entstanden sind. Den Fokus haben sie dabei auf Norddeutschland gerichtet und wissenschaftliche Abhandlungen, Vorträge, Interviews und praktische Beispiele zusammengestellt. Neu ist: Kirche und Diakonie gehen in diesem Prozess gemeinsam aufeinander zu. Oder wie es Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, in seinem Geleitwort formuliert: „Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen verstehen sich – so das Kernanliegen – zukünftig gemeinsam in neuer Weise als aufeinander bezogene Akteure, als Geschwister vor Ort, im Sozialraum.“ Denn – und das durchzieht alle Beiträge: Die Orientierung auf das Gemeinwesen bietet die Chance, dass die unterschiedlichen „Systeme“ von Kirche und Diakonie ihren gemeinsamen Auftrag wahrnehmen. Gefragt sind also neue Kooperationen im Dorf, der Kleinstadt und im Quartier der Großstadt. So können bürgerschaftliche, kirchliche und diakonische Fragen fortan gemeinsam diskutiert werden.

Die Autorinnen und Autoren, allesamt Experten, beschäftigen sich mit dem Thema in allen seinen Facetten: von den theologischen Ansätzen zur Gemeinwesenarbeit und Gemeinwesendiakonie über das Nachdenken zur Zukunft der Ortsgemeinde, von Diskursen der kirchlichen Arbeit im städtischen und ländlichen Raum bis zum Gemeinwesen in sozialpolitischer Sicht. Dabei wird auch der Inklusion Tribut gezollt. Wer sich diesen Sammelband zu Gemüte führt, erfährt Neues über die kirchliche Arbeit in der multireligiösen Stadt ebenso wie über die Modelle aus Mecklenburg und Vorpommern, wo der Rückgang der Gemeindeglieder noch spürbarer ist. Perspektiven im Ehrenamt werden ebenso behandelt wie kirchliche Berufe in der Gemeinwesendiakonie. Alle Beiträge eint: Sie bieten hinreichend theoretische und praktische Konzepte zur Weiterarbeit an einem gelingenden Gemeinwesen. Die einzelnen Beiträge des Bandes selbst sind von unterschiedlicher sprachlicher Qualität, manche etwas sperrig, andere wieder äußerst verständlich formuliert. Am Ende jedes Beitrags ermöglichen Hinweise auf weiterführende Literatur und Internetquellen anknüpfende Lektüre. Mit diesem Buch können die Kirchen in Norddeutschland das Projekt von Kirche und Diakonie im Gemeinwesen vorantreiben, genug vielversprechende Handlungskonzepte, Erkentnisse und theologische Grundierungen liegen vor. Und allen anderen bietet dieser Sammelband Einstiegsmaterial in die Thematik, in den kirchlich-diakonischen Verständigungsprozess. Dass dieses dringend Not tut, bemerkt die Theologin Cornelia Coenen-Marx : „Es ist noch schmerzlich spürbar, dass die Fachleute und Generalisten in Kirche und Diakonie verschiedene Sprachen sprechen.“ Sie resümiert: „Erst in der Kooperation von Kirche und Diakonie entsteht das Neue.“ Vielleicht werden dann auch die ländlichen Räume im Ringen um neue Lösungen nicht mehr die typischen Nachzügler sein, sondern Vorbilder künftiger Gesellschaften.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.

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Peter Hofmann: Karl May und sein Evangelium

Frommer Held

Karl Mays Christentum
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Der Augsburger Fundamentaltheologe Peter Hofmann wirft in seiner gescheit geschriebenen Studie einen messerscharfen Blick auf den sächsischen "Mayster".

An Karl May scheiden sich die Geister. Die einen halten den Bestsellerautor, der Abenteuer in fremden Ländern erfand, für einen Vielschreiber mit schlechtem Stil, die anderen für einen fantasievollen Literaten mit hohen Ansprüchen. Noch kontroverser geht es zu, wenn er weltanschaulich relevant sein will. Auch wer Mays theologische Kompetenz nicht überstrapazieren will, kommt nicht umhin, den missionarischen Eros anzuerkennen, mit dem das fromme Helden-Ich seinen Lesern in den Ohren liegt. Das reicht von der gutgläubigen Predigt bis hin zu visionären Grenzerfahrungen im Roman Am Jenseits. Leidenschaftlich widerspricht May der Ansicht, alles sei bloß Zufall und nicht Gottes Wille. Zur Bekräftigung bemüht er einen naiven Tun-Ergehen-Zusammenhang, bei dem manch böse Romanfigur die verdiente Strafe ereilt. May hält an einer höheren Gerechtigkeit fest, weil der areligiöse Zeitgenosse die Stelle Gottes freigemacht hat und der Glaube an ein Fatum, das bestenfalls evolutionstheoretisch determiniert erscheint, nur zum Atheismus führt. Aber wo steht May mit seiner Religion wirklich?

Der Augsburger Fundamentaltheologe Peter Hofmann wirft in seiner gescheit geschriebenen Studie einen messerscharfen Blick auf den sächsischen „Mayster“, nach dessen Vorstellung sich der Mensch zum Edelmenschen emporschwingen soll, der seine gelebte Humanität als die wahre Religion der Nächstenliebe heiligt. Tiefschürfend durchpflügt Hofmann das Schaffen Mays von den frühen Kompilationen wie dem obskuren Buch der Liebe bis zu den späten Vorträgen und schärft die Sicht auf den Winnetou-Erfinder im Vergleich mit Goethes religiösen Denkeskapaden. May war kein Theologe, aber eben auch kein ungebildeter Tropf. Der Protestant, der für katholische Verlage schrieb, verstand sich auf ein überkonfessionelles, zeittypische Anschauungen aufsaugendes Individualchristentum, das zwischen Aufklärung, Panpsychismus, Mystizismus und Spiritismus changierte. Mays schillernde, auch widersprüchliche Persönlichkeit wird hier demaskiert, mit Wohlwollen zwar, aber gründlich. Hofmann legt die lebenslange Camouflage bloß, bis hin zur befremdlichen „Christus-Identifikation“, in die sich May wohl nicht zuletzt aus Selbstschutz vor seinen öffentlich auftretenden Gegnern hineinsteigerte. Dabei stellt gerade die Christologie einen wunden Punkt Mays dar. Jesus ist der gute Mensch von Nazareth und seiner soteriologischen Bedeutung weitgehend entkleidet. Von daher wird das Doppeldeutige des Buchtitels klar, der auf verstohlene Subtexte zielt. Vordergründig predigt May das Christentum, doch untergründig erscheint „sein Evangelium“ nicht ohne weiteres als die Frohbotschaft der Bibel, sondern eher als persönliche Heilsprophetie, die über die real existierenden Religionen hinausführen will. Gleichwohl bleibt dieses „Evangelium“ schwer zu fassen. Das liegt an May selbst, der Dichtung und Wahrheit vermischte und noch dazu sein Leben und Werk gern neu erfand. Platt gesagt, könnte man das Christentum auch als literarisches Element auffassen, das der Überlegenheit des Ich-Erzählers dienen sollte: Er ist eben in allem den anderen voraus, auch in seinem Glauben. So kann er wie etwa in der „Mahdi“-Trilogie rechthaberisch auf der Wahrheit der Bibel gegenüber dem Koran beharren.Die vorliegende Studie steht jedenfalls dafür ein, dass man es sich jenseits schöner Lesestunden mit Karl May nicht zu leicht machen sollte.

Roland Mörchen

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