Heino Falcke: Einmischungen

Engagement

Heino Falckes Texte aus vier Jahrzehnten
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Ein faszinierendes Buch theologischer Zeitgeschichte und mehr.

Eine ungewöhnliche Dokumentation: Heino Falckes theologisch-politische Zeitzeugenschaft über 40 Jahre mit einem besonderen Maß an persönlichem Engagement und wacher Aktualität. Der DDR-Theologe und einstige evangelische Propst von Erfurt bedenkt die ost- und gesamtdeutschen Zustände in Kirche und Gesellschaft und stellt sie zugleich weitsichtig in eine globale Perspektive.

Die zwischen 1972 und 2013 verfassten Gelegenheitstexte von hoher Authentizität stellt der Band in vier Gruppen dar, zunächst "Christus befreit - darum Kirche für andere". 1972 hält der damalige Direktor des Predigerseminars sein programmatisches Referat vor der Synode des DDR-Kirchenbundes. Freiheit und Mündigkeit aus Glauben werden punktgenau hin postuliert auf "die Wahrnehmung der DDR-Gesellschaft aus der Perspektive der Christusfreiheit". Dieser Ansatz verfolgt das konkrete Ziel angstfreier, mündiger Mitarbeit in der sozialistischen Gesellschaft samt der entschiedenen Proklamation: "Unter der Verheißung Christi werden wir unsere Gesellschaft nicht loslassen mit der engagierten Hoffnung eines verbesserlichen Sozialismus." ? Weitere Texte des Autors behandeln rückschauend diese Periode des "umstrittenen Weges der evangelischen Kirchen in der sozialistischen DDR" der Siebziger- und Achtzigerjahre unter den Aspekten des Erbes der Bekennenden Kirche, der Barmer Theologischen Erklärung sowie der Theologie Dietrich Bonhoeffers.

Das zweite Kapitel, "Eine Hoffnung lernt gehen": Die dramatischen Vorgänge in den Achtzigerjahren wie die Raketenaufrüstung in Mitteleuropa, die weltweit skandalös geöffnete Gerechtigkeitsschere oder desaströse ökologische Zustände in der DDR verändern die kontextuell orientierte Theologie Falckes nachhaltig. Seine Schwerpunkte verlagern sich auf die theologische Pointierung der Überlebensfragen unter der Trias "Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung". Vier Texte aus dieser Zeit weisen Falckes Führungsrolle aus, die er gedanklich wie persönlich wahrnimmt: vor Synoden, auf dem Kirchentag, aber vor allem als Inspirator und Mitorganisator der beiden Ökumenischen Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung 1988 (Dresden) und 1989 (Magdeburg). Ein "ökumenisches Wunder" (Falcke): Auf den Aufruf "Eine Hoffnung lernt gehen. Gerechtigkeit den Menschen, Friede den Völkern, Befreiung der Schöpfung. Geht mit" gehen über zehntausend Antworten ein. Ein Chor, der die DDR-Kirchen dazu aufruft, "Kirche des Schalom" zu werden; der auf parallele ökumenische Bewegungen jenseits der DDR kräftig einwirkt, um dann tragischerweise, im Sog des deutschen Vereinigungsprozesses, nahezu gänzlich zu verstummen.

Dem überhasteten Anschluss der DDR-Landeskirchen an die EKD setzt Falcke in Kapitel drei, "Aufruf zum Nachdenken", fünf "Wortmeldungen im politischen Umbruch" entgegen und fragt: Wo bleiben im vereinigten Deutschland Erbe und Impulse aus der Erfahrung der DDR-Kirche? "Es geht nicht um das Überleben von Systemen, sondern darum, dass Systeme dem Überleben der Menschen und der Mitgeschöpfe dienen."

"Prekäre Freiheit" ist das vierte Kapitel überschrieben. Auch nach dem kapitalistischen Sieg im Wettkampf der Systeme ist Falcke publizistisch präsent mit "Markierungen für den Weg im vereinten Deutschland". Sieben Texte fragen nach Bedingungen des Überlebens der Menschheit und fordern von Kirche und Gesellschaft eine "Umkehr zur Zukunft". Denn "ich gehörte in der DDR zu denen, die schon lange vor 1989 überzeugt waren, nicht nur der 'Realsozialismus', auch der Kapitalismus müsse verändert werden".

Ein faszinierendes Buch theologischer Zeitgeschichte und mehr: Richtungsweisung aus Glauben in gefährlicher Zeit.

Heino Falcke: Einmischungen. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2014, 346 Seiten, Euro 32, .

Ludger Gaillard

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Bruckner: Symphonie No. 9

Näher heran

Claudio Abbados letztes Konzert
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Mit diesem Bruckner verdeutlichte Abbado ein letztes Mal sein Kunstverständnis, das der Spiegel in einem Nachruf trefflich mit der "Kargheit der Empathischen" beschrieben hat.

Man übersieht den Vermerk zunächst: Nicht auf dem Cover, sondern unterhalb des durchsichtigen Bereichs, an dem man die CD aufklappt, heißt es weiß auf hellgrau: "The final recording". Final nicht im Sinne von "letztgültig", denn so etwas kann es in der Musik, die ja immer eine Frage persönlicher Auffassung und Deutung ist, nie geben. Sondern final im reinsten Sinne des Wortes: Die CD dokumentiert den Hauptteil des letzten Konzertes, das Claudio Abbado am 26. August 2013 in Luzern dirigierte. Danach musste er alle Konzertverpflichtungen absagen, und am 20. Januar 2014 erlag er einem langjährigen Krebsleiden.

Im Nachhinein wirkt das Programm des letzten Abends in Luzern wie eine Fügung des Schicksals, denn Abbado dirigierte zwei Werke, die ihre Erschaffer nicht zu Ende bringen konnten, weil der Tod schneller war: Schuberts "Unvollendete in h-moll", die auf der CD leider fehlt, und Bruckners ebenfalls unvollendet gebliebener Koloss der neunten Symphonie. Claudio Abbado liebte die Zusammenstellung und hat sie mehrfach aufgeführt. Dass sie sein Schwanengesang werden würde, hat er nicht ahnen können. Ein passender und würdiger Abschied ist es allemal.

Mit diesem Bruckner verdeutlichte Abbado ein letztes Mal sein Kunstverständnis, das der Spiegel in einem Nachruf trefflich mit der "Kargheit der Empathischen" beschrieben hat: Die Gefühlsebene ist der Ausgangs- und Angelpunkt dieses Musizierens, das aber nie der Versuchung erliegt, sich im Überschwang zu verausgaben, schon gar nicht im Monumentalen. Selbst bei Bruckners Neunter, deren Anlage von Dirigenten oft als Aufforderung verstanden wurde, die Klangmacht des Orchesters ins Extreme zu forcieren, selbst diese Symphonie bleibt bei Abbado und dem von ihm selbst gegründeten "Lucerne Festival Orchestra" transparent bis in die kleinsten Details.

Die Konsequenz: Hörer, die Bruckner bisher als zu schroff, zu gewaltig, zu erbarmunglos-pathetisch empfunden haben, um ihn wirklich lieben zu können (der Autor dieser Zeilen reiht sich hier ein), bekommen einen neuen Zugang. Kraftvoll ist diese Version unbedingt, aber sie wirkt auch leicht, mitunter überraschend sanft. An Pathos mangelt es ihr an den erforderlichen Stellen durchaus nicht, doch es erdrückt nicht die helleren Passagen des Werkes.

Bruckner, der strenge Katholik, hatte seine Symphonie "dem lieben Gott" gewidmet. Und Abbado und das "Lucerne Festival Orchestra" haben diesen manchmal so fern scheinenden Gott ein wenig näher herangeholt.

Bruckner: Symphonie No. 9. Lucerne Festival Orchestra unter der Leitung von Claudio Abbado. Deutsche Grammophon 479 3441.

Ralf Neite

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Tohby Riddle: Der Engel aus dem Nirgendwo

Raffiniert

Engel über der Erde
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Dieser Engel passt jedoch nicht nur in das Genre der Kinder- und Jugendliteratur, er ist, wie Engel nun mal sind, alters- und geschlechtslos.

Ein einsamer Engel sitzt auf einer Parkbank, im Hintergrund zeigt sich die Skyline von Manhattan. Das Cover stimmt melancholisch. Und es macht neugierig: ein Bildband, eine Collage, Zeichnungen? Nun, gleich auf der ersten Seite des Buches schweben viele Engel über der Erde, ihre Hände sind zum Gebet geschlossen und es entfaltet sich eine Mischung aus alldem. Ein wenig Cartoon, ein wenig Film, Skizzen, Fotos und vereinfachte Zeichnungen bilden eine Kunstwelt, die wie eine dunkle Traumwelt daherkommt, in der sich dann die weißen Engel verirren. Sie wollen beschützen, begleiten und heilen, doch die Menschen blicken nicht auf, scheinen blind zu sein für die Lichtgestalten, die dem Betrachter in den Collagen gespenstisch hell erscheinen.

Das Buch besteht aus drei Kapiteln und vielen Metaphern, es besticht in seiner Schlichtheit und gleichzeitigen Raffinesse, lässt Raum für Phantasie und Eigeninterpretation, denn es ist nur mit wenig Text, Sequenzen gleich, versehen. Nur spärliche Farben beleben die Seiten, ein glühender Abendhimmel, eine grüne Wiese, herbstlich goldenes Laub. Die Welt erscheint somnambul, entfremdet und bedrohlich, mal aus der Weltraumperspektive, dann im Detail. Schließlich bleibt nur noch ein Engel bei den Menschen, in der Metro, in Restaurants, auf Treppen und zwischen Hochhausschluchten hat er eine Menge zu tun. Erschöpft holt er Atem in Kirchen und U-Bahnschächten, um schließlich völlig ermattet und unbeachtet auf einer Parkbank niederzusinken. Hier verstummt und versteinert das Himmelswesen und ist damit plötzlich als Engelsstatue für die Menschen sichtbar, um dann auf einem Sockel zu landen.

Es ist der Engel, der uns im Traum erscheint. Der Engel, der am Ende selbst gerettet werden muss, von den unschuldigen Wesen unseres Planeten, Kindern, Tieren, Fabelwesen. Sie geben ihn zurück an das Universum und das Buch endet, wie es beginnt - mit der Perspektive aus dem All auf unsere nächtlich funkelnde Welt.

Der Autor Tohby Riddle lebt in Sydney und studierte Kunst und Architektur, bevor er Schriftsteller und Illustrator wurde. Er veröffentlichte einige Bilder- und Sachbücher, sowie einen Jugendroman und ist in Australien auch mit seinen Cartoons im Sydney Morning Herald bekannt. "Der Engel aus dem Nirgendwo" passt jedoch nicht nur in das Genre der Kinder- und Jugendliteratur, er ist, wie Engel nun mal sind, alters- und geschlechtslos. Das Kunstbuch besteht aus 128 außergewöhnlich illustrierten Seiten, die sich aus Riddles großer Sammlung von Postkarten und Fotos aus dem 19. und 20. Jahrhundert, handgemalten Details und graphischer Bearbeitung zusammensetzen.

Tohby Riddle: Der Engel aus dem Nirgendwo. Gabriel Verlag, Stuttgart 2014, 128 Seiten, Euro 24,99.

Angelika Hornig

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Navid Kermani: Ungläubiges Staunen

Manifest

Über das Christentum
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Auseinandersetzung in der Malerei, in der liturgischen Form, in persönlicher Schreibe, das scheint die verborgene Spur des Buches zu sein, der Kermani folgt.

Mithilfe von 42 Kunstwerken aus ganz Europa zieht Navid Kermani hinein in seine assoziativen Zugänge zu klassischen christlichen Themen - in seiner persönlichen, zugleich nachvollziehbaren Sprache und Systematik. Die Überschriften "Mutter, Sohn, Sendung, ... Kreuz, Klage, Auferstehung, Gott I, Gott II" zeigen erst einmal nichts Aufregendes an, aber durch Kermanis sprachliche Kunst entsteht ausgesprochen Schönes. Es ist auch typisch evangelisch, wenn sich Kommentatoren des Christlichen selbst angreifbar machen und zu erkennen geben - wie manches Gemeindeglied in der gemeinsamen Bibelarbeit. Standpunkt und Perspektive werden so deutlich und nachvollziehbar - und Sprechende geben Zeugnis von der eigenen geistlichen Suche.

Kermanis Art, Heiliges und Profanes in der Religion in ihren Phänomenen zu beschreiben und dabei auch theologische Schlussfolgerungen für sich zu ziehen, ist einer ganzen Generation von Theologen-Flaneuren außerdem vertraut. Denn der habilitierte Orientalist betreibt eine Art "Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung", ohne es so zu nennen. Was also ist daran besonders?

Besonders wird Ungläubiges Staunen durch die Standpunkte, die der Schriftsteller verkörpert und einnehmen kann. Man könnte auch sagen: Besonders wird es dadurch, dass Kermani nicht Studienleiter einer evangelischen Akademie ist. Orientalist mit muslimischem Hintergrund, säkular sozialisiert, von einem linken politischen Kontext des deutschen Westens geprägt und doch religiös ansprechbar, beschreibt er ohne Redetabus gegenüber einem vermeintlichen Heiligen, was er in der Begegnung mit dem Christentum fühlt und sieht. Er stellt Bezüge zum Islam her, zitiert aus dem Koran und aus Hölderlin und bindet alles in wunderbaren Geschichten zusammen.

Das bereits ist ein Manifest geistiger Freiheit. Es besagt: Man darf ungläubig staunen, sich begeistern, ohne sich identifizieren zu müssen. Man darf im religiösen Multiversum umherwandern, ohne dass einem die Identifizierten sofort ein Bekenntnis abpressen. Man darf sich wundern und auch Hässlichkeit wahrnehmen. Man darf unbequeme Fragen mit Respekt stellen. Und man kann Kritisches aufzeigen. Kermani gibt in seinem Buch gekonnt Beispiele.

Besonders ist das Buch durch die geniale Auswahl christlicher Malerei. Kein Werk ist allerdings jünger als das 16. Jahrhundert. Das ist bezeichnend. Was nach der Reformation kommt, scheint dem Autor nicht bestaunenswert genug zu sein. Dennoch gelingt ihm auch der Sprung in die Gegenwart: Fesselnd werden Kermanis Schilderungen dort, wo er sich als teilnehmender Beobachter in das christliche Leben zweier Klöster verstrickt. Die Reportage zum Beispiel über den Jesuiten Paolo Dall'Oglio, Abt des Syrischen Klosters Mar Musa und seine Gemeinschaft, deren Weg des Zeugnisses er über Jahre begleitet, geht unter die Haut. Die Gemeinschaft in der syrischen Wüste war noch vor wenigen Jahren von einem faszinierenden Zusammenleben von Muslimen und Christen geprägt. Dall'Oglio ist verschollen, wahrscheinlich gestorben durch die Terrorgruppe IS, mit der er verhandelte. Die Glaubensideale leben im Exil weiter.

Künstlerische Autonomie und Auseinandersetzung in der Malerei, in der liturgischen Form, in persönlicher Schreibe, das scheint die verborgene Spur des Buches zu sein, der Kermani folgt. Da kann christliche Tradition sogar Grundlage politischer Einmischung werden. Schade, dass er die, die den Protest im Namen tragen und auch geistige Väter und Mütter künstlerischer und geistiger Freiheit in Europa sind, keines Blickes würdigt. Dabei gäbe es ja vielleicht auch bei den Protestanten manches zu bestaunen.

Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Verlag C.H. Beck, München 2015, 303 Seiten, Euro 24,95.

Marcus A. Friedrich

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Mirjam van Veen: Die Freiheit des Denkens

Ausnahme

Castellio: Gegenspieler Calvins
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Für Castellio dagegen waren vermeintliche Gewissheiten die Ursache vieler Übel seiner Zeit

Professor Mirjam van Veen, Kirchenhistorikerin an der Freien Universität Amsterdam, stellt in dieser im Castellio-Gedenkjahr 2015 in deutscher Übersetzung erschienenen sehr lesenswerten Biographie den französischen protestantischen Humanisten Sebastian Castellio (1515-1563) vor. Er wurde zum Gegenspieler des Reformators Johannes Calvin, durch den er für die reformatorische Botschaft gewonnen wurde und mit dem er 1541 von Straßburg nach Genf zog. "Castellios Plädoyers gegen die Verfolgungen und für die Toleranz machten ihn zu einer bemerkenswerten Ausnahmeerscheinung im damaligen Europa." Er war nicht der einzige, aber der reflektierteste und leidenschaftlichste Verfechter religiöser Toleranz seiner Zeit. Es ging um den Umgang mit so genannten Ketzern (Häretikern), insbesondere den Dissidenten innerhalb des Protestantismus. "Castellio war in seiner Ablehnung von Glaubenszwang und Verfolgung konsequenter als die meisten anderen, die ähnlich dachten wie er."

1545 musste er Genf verlassen, weil Calvin keine Kritik vertrug und Gefolgsleute um sich scharte. In Basel wurde er 1553 Professor für Griechisch an der Universität, war dort aber bis zu seinem frühen Tod vor den Nachstellungen seiner mächtigen calvinistischen Gegner nicht sicher. Mehrmals hatte er, der mit dem Täufer David Joris befreundet war (wie die Autorin betont), sich gegen den Vorwurf der Häresie zu wehren. Vorgeworfen wurde ihm etwa sein Nein zu Calvins Lehre von der doppelten Prädestination. Auch nach Castellio ist der Mensch von Gottes Gnade abhängig. Diese gelte allen Menschen. Man sei aber frei, sie anzunehmen oder abzulehnen. Dem kompetenten Bibelübersetzer wurde sein freierer Umgang mit der Bibel angekreidet. Die Heilige Schrift, die er in einfaches Französisch und in kunstvolles Latein übersetzte, ist für ihn dem Sinn nach inspiriert. Der Wortlaut aber sei zuweilen dunkel oder durch Abschreibefehler verdorben. Damit geriet die reformatorische Parole "Allein die Heilige Schrift" in Gefahr. Castellio vertrat ein ethisches Christentum und verwarf schon von daher Gewalt gegen Andersdenkende und Andersgläubige. Wie die Autorin zeigt, war er auch in seiner Lebensführung von hohen ethischen Maßstäben geleitet. Nach seiner Bibelhermeneutik kann man den tieferen Sinn der Bibeltexte nur dann recht erfassen, wenn man vom Heiligen Geist erneuert ist. Ein mit Gott verbundener Christ könne sich nicht mit Mitchristen rechthaberisch und bis zur Gewaltanwendung streiten. Castellio hegte für sich keinen absoluten Wahrheitsanspruch. Bescheiden und selbstkritisch konnte er nach einem theologischen Gedankenaustausch sagen: "Aber vielleicht irre ich mich auch vollkommen."

Der Sündenfall der Reformation war für Castellio die schauerliche Hinrichtung des Antitrinitariers Michael Servet 1553 im protestantischen Genf. Hier zeigte sich für ihn, wie Macht korrumpieren kann. Berühmt ist sein (2013 unter dem Titel "Manifest der Toleranz" veröffentlichter) Traktat "Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll" von 1554. Castellio argumentiert mit Bibel und Vernunft. Die Autorin findet in seinem Ja zum Recht des Zweifelns ein starkes Motiv für die Toleranz: Für die meisten Zeitgenossen waren "Glaubenswahrheiten ein Mittel zur Überwindung des Chaos. Für Castellio dagegen waren gerade vermeintliche Gewissheiten die Ursache vieler Übel seiner Zeit - und der Zweifel das Heilmittel. [...] Der Zweifel eröffnete die Möglichkeit zum Dialog."

Mirjam van Veen: Die Freiheit des Denkens. Alcorde-Verlag, Essen 2015. 351 Seiten, Euro 32,-.

Andreas Rössler

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Konrad Kleck: Dein ist allein die Ehre

Bach für alle

Kantaten pointiert erschlossen
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Konzentrierte Einführungen in die Kantaten in gut verständlicher Sprache.

Zweifellos gehören die geistlichen Kantaten von Johann Sebastian Bach zum Weltkulturerbe des Protestantismus. Für fast alle Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres komponierte der Thomaskantor Kantaten, die in den Gottesdiensten der Leipziger Kirchen erklangen. Sie bezogen sich auf das Evangelium des jeweiligen Sonntages, das Grundlage der Predigt war. Die Kantate nun brachte den biblischen Text noch einmal mit anderen Mitteln zur Aufführung. Sie war musikalische und dichterische Auslegung des Evangeliums, also eine künstlerische Aktualisierung des Bibeltextes. Diesen Schatz erschließt Konrad Klek nun für heutige Ohren und Augen. Der Professor für Kirchenmusik an der Universität Erlangen hat den ersten Band seines dreiteilig geplanten Kommentares zu den geistlichen Bachkantaten vorgelegt. Dabei steht die theologische Deutung der Werke im Vordergrund. Sie bezieht sich sowohl auf die musikalischen Zusammenhänge als auch auf die vielfach sperrigen Texte der Kantaten, die vollständig abgedruckt sind.

Dem Theologen und Kirchenmusiker Konrad Klek sind konzentrierte Einführungen in die Kantaten in gut verständlicher Sprache gelungen. Die Grundlinien ihrer Dramaturgie erschließen sich beim Lesen - am besten auch vorher und/oder hinterher anhören. Dazu gibt es Bezüge zu anderen Bach'schen Werken oder Hintergrundinformationen zu den theologischen Horizonten der Zeit. Ein kleines Glossar an musikalischen Fachbegriffen ist beigefügt, der Satz übersichtlich und das kleinformatige Buch liegt gut in der Hand. In diesem ersten Band ist der Choralkantatenzyklus vom 1724/25 kommentiert. Am Ersten Sonntag nach Trinitatis 1724, genau ein Jahr nach seinem Amtsantritt in Leipzig, begann Bach einen Jahrgang mit Kantaten zu Chorälen nach diesem Bauplan: Die erste und letzte Liedstrophe erklingt im Wortlaut, dazwischen sind Rezitative und Arien in freier Dichtung zu hören, die sich an das Evangelium und weitere Choralstrophen anlehnen. Wer diese Texte gedichtet hat, bleibt leider unbekannt. Erstaunlicherweise führte der Thomaskantor diesen Jahrgang nicht zu Ende, sondern beschloss ihn mit der vierzigsten Kantate - vier Tage nach seinem vierzigsten Geburtstag. Dies veranlasst Klek zu einer kühnen Hypothese, die hier erstmals formuliert ist: Bach plante diesen Jahrgang von vornherein als "Projekt 40". Denn diese biblisch vielfältig belegte Zahl (vierzig Jahre Wüstenwanderung Israels, vierzig Tage Versuchung Jesu in der Wüste, ...) gilt als Symbol der Umkehr. Zudem begann nach dem vierzigsten Zykluswerk 1725 just die Passionszeit, in der keine Kirchenkantaten in Leipzig aufgeführt wurden. "Die bis zu dieser Bußzeit reichenden 40 Choralkantaten wären demgemäß als Bußakt zu deuten, mit welchem Bach zu seinem 40. Geburtstag vor Gott tritt und um Gnade bittet, der er im Glauben durchaus gewiss sein kann." Diese Theorie wird gestützt durch die heute fremd und maßlos wirkende Betonung der eigenen Schuld der Gläubigen in gerade diesen Kantatentexten. Nun sind Deutungen mit Zahlensymbolik in der Bachforschung höchst umstritten. Doch Klek "haben sich so viele einschlägige Phänomene aufgedrängt", dass er jede Kantate komplett durchzählte. So präsentiert er auch in den Einzelbesprechungen der Kantaten manche überzeugende Korrelation.

In der heutigen Kirchenmusik hat der Einsatz für qualitätvolle und populäre neue Lieder erheblich zugenommen - Gott sei Dank. Doch ebenso gilt es, breitere Zugänge auch zu den Schätzen der Tradition zu ebnen. Dazu sind die Erklärungen von Konrad Klek vorbildliche Beiträge. Und vielleicht verführen sie ja manche alten und neuen Bachfans dazu, ihr Kirchenjahr von diesen Choralkantaten begleiten zu lassen - ob sie schon vierzig sind oder es noch werden.

Konrad Klek: Dein ist allein die Ehre. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2015, 360 Seiten, Euro 19,90.

Gudrun Mawick

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Klaus Altepost u.a.: Theologiekalender 2016

Neues Format

Erstmals Theologiekalender
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Wer diesen Kalender unterm Christbaum findet, darf sich freuen.

Bei manchen Dingen auf der Welt fragt man sich, warum bisher noch niemand darauf gekommen ist. So zum Beispiel beim "Theologiekalender 2016", der im nächsten Jahr das erste Mal erscheint: Freundlich grüßt auf dem Titelblatt die Theologin Dorothee Sölle (1929-2003), die natürlich auch vertreten ist, nämlich in der Woche ihres Todestages, des 27. Aprils, mit der für sie charakteristischen Satzfolge: "Theologisches Nachdenken ohne politische Konsequenzen kommt einer Heuchelei gleich. Jeder theologische Satz muss auch ein politischer sein."

Das Prinzip dieses Kalenders ist klar: Jedes Kalenderwochenblatt ziert das Konterfei einer Theologin oder eines Theologen, der an einem der Wochentage geboren beziehungsweise gestorben ist, und ein Zitat des- oder derjenigen. In die "Sölle-Woche" Ende April fallen und sind eingetragen auch die Geburtstage von Klaus-Dieter Seybold (1936) - der 2011 verstorbene Basler Alttestamentler wäre 2016 also 80 geworden, von Ernst Bizer - der 1904 geborene Kirchengeschichtler starb 1975 und von Karl-Gerhard Steck - der 1908 geborene Schüler Karl Barths und spätere Professor für Systematische Theologie in Frankfurt/Main und Münster starb 1983. Und dann tritt zu dieser Schar der Sölle-Woche als Exot noch William Shakespeare, geboren am 26. April 1564, hinzu. Sicher eine etwas originelle Zusammenstellung, aber warum nicht?

So geht es Woche um Woche, mit den Porträtfotos teils kürzeren, teilweise auch längeren Zitate von mehr oder eben auch weniger bekannten Theologen, und darunter immerhin zwölf Frauen. Neben modernen Klassikern wie Barth, Bultmann oder Tillich kommen auch unbekanntere vor, wie zum Beispiel der dänische Pfarrer und Dichter Kaj Munk (1898-1944), der von den Nazis ermordet wurde. Von ihm sind die Sätze überliefert: "Was ist das für eine sinnlose Forderung, dass die Kirche Christi vorsichtig sein muss? War Christus etwa vorsichtig?"

Neben den Theologinnen und Theologen prägen auch einzelne Werke (die Matthäuspassion von Bach), Daten (der Weltgebetstag der Frauen) oder Ereignisse (die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989) eine Kalenderwoche. So ist ein abwechslungsreicher Kalender entstanden, der mit ganz unterschiedlichen Zitaten und Bildern übers Jahr viel zum Nachdenken gibt. Oder anders gesagt: Wer diesen Kalender unterm Christbaum findet, darf sich freuen.

Klaus Altepost/ Uwe Moggert-Seils/ Hans-Martin Lübking: Theologiekalender 2016. edition Glaubenssachen, Hörstel 2015. 56 Blätter, Euro 22,95.

Reinhard Mawick

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Iiro Rantala: My working class hero

Unausschöpflich

Rantala zelebriert John Lennon
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Rantala zeigt, wie unsterblich John Lennons Songs sind.

Das rote, blaue und weiße Beatles-Album: Grundausstattung für Anfang der Sechzigerjahre Geborene. Als sie jugendlich wurden, stand schon Punk in der Tür, doch die Beatles blieben stets da. Von älteren Geschwistern gab es vielleicht noch das "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band"-Original mit dem Klappcover oder "Revolver" dazu. Das von vielen immer noch als vorläufig erhoffte Ende 1970 (Yoko Ono war natürlich schuld!) machten derweil Soloscheiben der Fab Four manifest, von denen John Lennons "Imagine" der aufziehenden Friedensbewegung Wünsche formulierte. So war das für Nachgeborene von Beatlesmania und LSD-Aufbruch. Die Beatles prägten auch sie. Entsprechend groß war das Entsetzen, als ein Irrer Lennon 1980 erschoss. Der finnische Jazzpianist Iiro Rantala war damals zehn, Lennons Musik begegnete er erstmals im Schulchor, als sie "Happy Xmas, War is Over" sangen. Es verschlug ihm den Atem: "Wie kann dieser Typ etwas so Einfaches und zugleich so Kraftvolles schreiben?"

Begeisternd unausschöpflich spürt Rantala diesem Geheimnis nun auf seiner Lennon-Hommage "My Working Class Hero" mit zwölf Songs nach, die der allein oder mit Paul McCartney oder Yoko Ono schrieb, darunter "Working Class Hero" von Lennons erster Soloplatte. Der klassisch ausgebildete Rantala hat selbst einen "working class"-Hintergrund. Auf seinem vielfach ausgezeichneten Album "Lost Heroes" tat er schon einmal ähnliches, doch John Lennon ist sein größter "Held".

Rantala zeigt, wie unsterblich Lennons Songs sind. Ob er die rhythmischen Strukturen umspielt, verstärkt oder verlagert, Melodien nur leicht anhaucht oder sie perkussiv forciert, auf weite Ausflüge ins scheinbar Unbekannte führt oder oft besuchte Promenaden entlangschlendert, stets ist es überraschend und intim vertraut zugleich, wie er die Songs erforscht, und immer eine Steigerung, die den Kern doch nie überschreitet. Das eröffnende "Norwegian Wood" wird erst nach fast einer Minute mit Akkorden kenntlich, ein Wiedererkennen wie ein Sonnenaufgang, berührend, ohne rührselig zu sein. "Woman" wird gegen Ende richtig groovy, "Help" und "Imagine" sind ein Fest, "Happy Xmas, War is Over" ist ein Knaller mit Leidenschaft und perkussiver Wucht, doch federleichtem Unterzug.

Diese und alle weiteren Songs bis zu "All You Need Is Love" zum Schluss des Albums interpretiert und erforscht Rantala bis zur Kenntlichkeit gesteigert mit Mitteln des Jazz, faszinierendem Anschlag, nie selbstverliebter Virtuosität und leidenschaftlichem Einlassen auf das Songmaterial. Er saß dabei an jenem Flügel, den früher Alfred Brendel spielte, wenn er bei den Berliner Philharmonikern gastierte. Eine wundersame Vermehrung. Fünf Brote und zwei Fische quasi - satt werden Tausende, und es bleibt immer noch übrig. So einfach, so kraftvoll. Das Album gehört fortan zur Grundausstattung.

Iiro Rantala: My working class hero. Hero (ACT/edel:kultur 2015)

Udo Feist

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Hugo Distler: Die Weihnachtsgeschichte

Absolut fesselnd

Neues von Hugo Distler
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Eine emotional anrührende Interpretation, voller Zartheit und klanglich berückender Momente.

Hugo Distler war nur ein gutes Jahrzehnt öffentliche Wirksamkeit als Komponist und Chorleiter beschieden, bevor er sich mit 34 Jahren am 1. November 1942 das Leben nahm. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 fanden seine Werke gute Resonanz, doch in den vergangenen Jahrzehnten kam die Beschäftigung mit Distlers Musik in weiten Kreisen der Chorszene zum Erliegen. Umso schöner, dass jetzt endlich wieder eine ambitionierte Neueinspielung Distler'scher Musik erschienen ist, nämlich die Weihnachtsgeschichte Opus 10.

Das Werk aus dem Jahr 1933 ist ein treffliches Beispiel dafür, wie sehr Distler die sprachbetonte Musik von Heinrich Schütz (1585-1672) verehrte und verinnerlicht hat. "Man singe nur einmal selber im Chore etwa das Schütz'sche ,Die Himmel erzählen die Ehre Gottes' - da gewinnen Baum und Strauch und alle Kreatur, das ganze Universum eine Stimme." So beschrieb es Distler 1935 selbst in seinem Aufsatz "Vom Geiste der neuen evangelischen Kirchenmusik". Diese Schütz-Begeisterung hat aber so gar nichts epigonenhaftes, denn er fügt der Übernahme gewisser barocker Grundmuster, zum Beispiel in Sachen Deklamation, eine ganz neue, eigene musikalische Welt hinzu. Der Komponist und Distler-Schüler Siegfried Rheda hat das einmal so beschrieben: "Die Stimmen scheinen wie ein hauchdünnes Spinnengewebe über einen Abgrund gespannt zu sein". Damit soll ausgedrückt werden, dass in Distlers Musik häufig rhythmisch gegensätzliche Passagen übereinander liegen und eigentümlich harmonisch changieren. Wird dies adäquat ausgeführt, kann es in hohem Maße fesseln.

Dem 16-köpfigen Athesinus Consort Berlin unter Klaus-Martin Bresgott ist keinesfalls (nur) eine adäquate, sondern eine herausragende Aufnahme gelungen, in der sich technische Perfektion und Leidenschaft gegenseitig befeuern. So entsteht eine emotional anrührende Interpretation, voller Zartheit und klanglich berückender Momente. Besonders hervorzuheben ist die großartige Leistung von Tenor Thomas Volle als Sänger des Evangelisten! Zudem enthält die CD noch andere wenig bekannte Advents- und Weihnachtsmotetten Distlers, unter anderem als Weltersteinspielung sein allererstes Chorwerk "Uns ist ein Kind geboren" aus dem Jahre 1927 und die wunderschöne Choralmotette "Lobt Gott ihr Christen alle gleich".

Nun steht nur zu hoffen, dass dieser Einspielung möglichst bald weitere mit Distlers faszinierend-berührenden Vokalwerken folgen - am besten auf dem Niveau dieser Weihnachtsgeschichte!

Hugo Distler: Die Weihnachtsgeschichte. Carus 83.472

Reinhard Mawick

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Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst

Hörspielsätze

Fallada erstmals aufgelegt
Bild
Beide Hörspielfassungen sind wahre Schätze, außerordentliche Zeitzeugnisse, inszeniert mit einem bemerkenswert vielstimmigen Sprecherensemble. Und sie haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

Das Werk Hans Falladas erfreut sich seit einigen Jahren großer Beliebtheit. Sämtliche Neuauflagen seiner Romane legen davon Zeugnis ab. Nun folgen in einer Hörbuchausgabe erstmals zwei Hörspiele von Fallada-Werken, die der ehemalige Süddeutsche Rundfunk, heute swr, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg 1951/1952 aufgenommen hat. "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst" (1934) bearbeitet von Paul Hühnerfeld, dem Literaturkritiker, und "Die Quangels" (1947) von dem Drehbuchautoren George Andrew Schaafs. Vorneweg: Beide Hörspielfassungen sind wahre Schätze, außerordentliche Zeitzeugnisse, inszeniert mit einem bemerkenswert vielstimmigen Sprecherensemble. Und sie haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

Das erste Hörspiel erzählt von den vergeblichen Mühen um die Resozialisierung des traurigen Helden Willi Kufalt, der nach einem fünfjährigen Gefängnisaufenthalt versucht, ins bürgerliche Leben einzusteigen. Seine soziale Odyssee durch die christlichen Friedensheime, der verlogenen christlichen Strafgefangenfürsorge und den potenziellen Arbeitsgebern ausgesetzt, ist von Anfang zum Scheitern verurteilt. Sie missglückt wegen der Vorurteile jedes Einzelnen ihm gegenüber. Jede dieser Figuren hat sofort ihren eigenen Ton. Atmosphärisch dicht, milieugenau ist das Hörspiel arrangiert. Das gilt auch für das zweite Stück: "Die Quangels" (aus: "Jeder stirbt für sich allein"), ein Berliner Arbeiterehepaar im Kampf gegen die Nazidiktatur. Sie beide verbreiten antinazistische Parolen auf Postkarten und verteilen diese in Berliner Briefkästen und Treppenhäusern. Auch sie: traurige Helden, denen Fallada und nun auch die versierten Sprecher eine Stimme geben.

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst. Verlag Osterwoldaudio, Hamburg 2015, 2 CDs.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.

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