Sabine Bode: Frieden schließen mit Demenz

Kein gau

Buch über Beziehungen
Bild
Sabine Bode zeigt einen Weg in eine positive Zukunft, weg von den Horrorszenarien in Zusammenhang mit Demenz.Doch darf man skeptisch bleiben.

"Wovor haben Sie im Alter am meisten Angst?" Das wurden in einer Studie Brasilianer, Nordamerikaner und Deutsche gefragt. Heraus kamen drei völlig unterschiedliche Ergebnisse: Bei den Brasilianern ist es in erster Linie der Verlust der Sexualität, bei den US-Bürgern das Übergewicht und bei den Deutschen die Demenz.

Das deutsche Schreckgespenst, die Geißel des Alters - zwar will Sabine Bode die Demenz nicht schön reden, doch fordert sie ein Umdenken und mehr Selbstverständlichkeit ein. Demente sind im Verhalten oft kindlich, dabei sensibel, direkt und ehrlich, und man sollte sie nie wie Kinder behandeln. Wie man die Gratwanderung schafft, mit dementen Menschen würdevoll umzugehen, hat die Journalistin in zahlreichen Interviews mit Angehörigen und Pflegekräften herauszufinden versucht. Sie porträtiert Demenzkranke und zeigt, welche Ressourcen oft noch vorhanden sind. Es wird keinen wundern, dass sie im Pflegebereich überwiegend mit Frauen sprach, sind es doch in den meisten Fällen Töchter, die sich in der Pflicht fühlen und ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihre Mutter in ein Pflegeheim geben. Wie geht es mit der Ehe weiter, wenn ein Partner erkrankt? Diesem Aspekt ist das Kapitel "Liebe" gewidmet, denn Partner, Familien stehen auf dem Prüfstand, und so ist "Frieden schließen mit Demenz" auch ein Buch über Beziehungen.

Wichtig dabei scheint, dass der Demenz der Schreck genommen wird: bitte kein Drama! Dass ein Alltag gelebt wird, in dem Vergesslichkeit, Verwirrtheit und scheinbar irrationales Verhalten alltäglich sind. Liebevoll gestaltete Gottesdienste, Ausflüge in Kunst- und Konzerthallen, Theaterprojekte und Tanzabende, all das sollte in den Alltag der Demenzkranken integriert werden.

An einigen Beispielen führt Bode an, wie es funktionieren kann, und blickt dabei optimistisch in die Schweiz, nach Holland und Österreich, in denen es laut ihrer Recherche längst kleine Wohneinheiten mit individueller Betreuung gibt. Wie weit Deutschland von diesem Wunschdenken entfernt ist, weiß jeder, der mit Demenzkranken zu tun hat.

Realitätsbezogen wird es, wenn ein Fachmann in einem Interview deutlich macht, dass Altenpflege überwiegend von schlecht ausgebildeten Assistentinnen durchgeführt wird, die zum größten Teil aus osteuropäischen Ländern kommen. Hier sind Missverständnisse und Unverständnis vorgeprägt, denn sie stammen aus einer anderen Sprach- und Wertekultur. Muss das Personal dann pro Schicht bis zu 15 Personen versorgen, entsteht zusätzlicher Stress, der sich auf die Patienten überträgt.

Stress - wieder ein besonderes Kapitel, auf das die Autorin den Fokus lenkt. Denn unter Stress brechen die Schutzmechanismen auf, die diese Generation nach dem Krieg aufgebaut hat.

Sabine Bode hat die Themen Kriegskinder, Nachkriegskinder, Kriegsenkel in vorausgegangenen Büchern eingehend recherchiert und festgestellt, dass ein Zusammenhang zwischen Kriegstrauma und Alzheimer besteht. Wenn die Kindheit, die Jugend wieder lebendig werden, durchleben die Alten nicht nur die schönen Ereignisse, die damit in Zusammenhang zu bringen sind, sondern oft Kriegsnächte, Flucht, Gewalt, Vergewaltigung. Manche Tochter lernte ihre Mutter in dieser Phase erst richtig verstehen.

Die Autorin zeigt einen Weg in eine positive Zukunft, weg von den Horrorszenarien in Zusammenhang mit Demenz.

Doch darf man skeptisch bleiben. Es haben nur wenige Familien die finanziellen Mittel und die Zeit, sich in Vollzeit - denn das bedeutet Pflege eines dementen Angehörigen - zu engagieren. Die Zuschüsse sind karg. In den Heimen fehlt es vor allem an klaren und einheitlichen Ausbildungsstandards, mangelhaft ausgebildete Pflegehelfer/-innen sind in der Mehrzahl. Im Interesse aller sollte ein Umdenken stattfinden, sollte Personal gut ausgebildet und bezahlt werden und der Beruf der Altenpflegerin eine besondere Anerkennung erfahren.

"Frieden schließen mit Demenz" ist ein Plädoyer für einen würdevollen Umgang mit dieser Krankheit, die inzwischen jeden zweiten über 90-Jährigen trifft.

Sabine Bode: Frieden schließen mit Demenz. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2014, 300 Seiten, Euro 19,95.

Angelika Hornig

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Rezensionen

Renate Schoof: Geheimnisse des Christentums

Alte Bilder

Was sie verbergen
Bild
Renate Schoof hat ein wichtiges Buch packend geschrieben. Dabei verhilft sie mit zahlreichen Beispielen abseits traditioneller Sehgewohnheiten zu überraschend neuen Einsichten.

Renate Schoof bringt zentrale biblische Geschichten und mittelalterlich-christliche Bilder in einen ebenso reizvollen wie ungewohnten Zusammenhang. Souverän von den Ergebnissen historisch-kritischer Forschung ausgehend begreift sie das Weihnachtsevangelium als eine geistvolle Geschichte, die zu vielfältigen Interpretationen einlädt. Bekanntlich wird mit dem Satz, Krippe und Kreuz seien "vom gleichen Holz geschnitzt", eine Dimension des Lebens Jesu markiert. Überraschend anders die Schriftstellerin: Sie knüpft an die Beobachtungen des 1939 erschienenen Buches "Das Christgeburtsbild der frühen Sakralkunst" von Alois Wachlmayer an. Darin erkläre er anhand von alten Gemälden, Ikonen, Mosaiken, Fresken, Holzschnitten und Miniaturen, Weihnachten könne "auch eine Geburt des Gotteskindes im menschlichen Herzen meinen". In manchen Bildern erscheint Marias Mann Josef wie ein "Symbol für den meditierenden, ja für den in Kontemplation versunkenen menschlichen Geist". Der aus anderen Kulturkreisen übernommene - eher misslungene - Mythos von der Jungfrauengeburt spielt hier keine Rolle.

Auch bei Engeln entdeckt die Autorin überraschende Wahrheiten. Der Erzengel Michael ein Drachen-"Töter"? Nein: Auf allen Bildern hält Michael diesen nur in Schach. "Wer ihn für äußere Kriege vereinnahmen will, missversteht die Botschaft. Es geht um Kämpfe und Siege im eigenen Inneren, um Erlösung der eigenen dunklen Seiten." Das Tier könne symbolisch für Gier, Neid, Hochmut, Machthunger oder zerstörerische Wut stehen. Es gehe darum, "die zum Drachen mutierte Seelenschlange zu zähmen". Und: "Auf das Balancieren kommt es an." Dabei hat Michael in der altägyptischen Maat eine Vorläuferin: Die Göttin der Gerechtigkeit wog Seelen, um ihre Eignung für das Jenseits festzustellen.

Der vielfach in Bildern zur Weihnachtsgeschichte dargestellte Erzengel Gabriel regt die Autorin an, Engel als unsichtbare helfende, rettende Intuitionen, Inspirationen und Ideen zu deuten.

Um traditionelle, auch männlich geprägte, Gottesbegriffe zu verfremden, gebraucht die Autorin Namen wie "die Allmächtige", "die Lebendige", und folgt damit der "Bibel in gerechter Sprache". Mit den etymologischen und psychologischen Deutungsmöglichkeiten regen die Texte die Fantasie an. Dabei standen unter anderem der deutsch-israelische Psychologe Erich Neumann (1905-1960), ein Schüler und Freund C. G. Jungs, und der katholische Theologe Georg Baudler Pate. Erfreulich, dass Hermann Häring, der Theologe und Wegbegleiter Hans Küngs, Renate Schoofs Buch auch vor diesem Hintergrund begrüßt.

Die Autorin sieht auch die dunklen Seiten der Bibel und erst recht die der Kirchengeschichte, doch ebenso "heilende Texte, die Frieden stiften wollen".

Sie hat ein wichtiges Buch packend geschrieben. Dabei verhilft sie mit zahlreichen Beispielen aus der bildenden Kunst abseits traditioneller Sehgewohnheiten zu überraschend neuen Einsichten. Für Fachleute wie Laien schließt sich hier eine Lücke zwischen Kunstgeschichte und Religion.

Zentrum der glänzend geschriebenen kreativen Darstellungen und Interpretationen bleibt die Bibel. Sie vor allem enthält eben neben mühsam zu verifizierendem historischem Geschehen "Geheimnisse und Schätze, verpackt in Geschichten, Sprachbildern, Gleichnissen und Symbolen", die bei unvoreingenommener Betrachtung die Grenzen der spezifisch christlichen Botschaften weit überschreiten.

Bei wachsendem Verständnis beginnen Bilder zu sprechen; bekannte und weniger bekannte Textpassagen des Alten und Neuen Testaments können ihren Symbolgehalt entfalten. Solche Entdeckung sei heute sehr wichtig, weil vielen Menschen nicht einfach der christliche Glaube, sondern die religiöse, humane Basis abhanden gekommen sei. Deshalb sind für Renate Schoof "Zweifler ebenso willkommen wie Neugierige und Mutige, Sinnsuchende sowie alle Menschen, die aus einer unbestimmten Sehnsucht heraus unterwegs sind". Dabei entdeckt sie selbst manches Tröstliche - in Zeiten der Ratlosigkeit: "Wir stehen, wie das Völkchen bei Moses, abergläubisch, krank und ohnmächtig in der Wüste - und ebenso wie die Urchristen ganz am Anfang."

Renate Schoof: Geheimnisse des Christentums. Vom verborgenen Wissen alter Bilder. Patmos Verlag, Ostfildern 2014, 216 Seiten, Euro 19,99.

mehr zum Thema

Klaus Schmidt

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Rezensionen

Peter Zimmerling: Die Losungen

Orientierungshilfe

Eine Erfolgsgeschichte
Bild
Angesichts der Diskussion über Veränderungen der volkskirchlichen Strukturen gewinnen aus der Sicht des Buchautors die "kirchenleitenden Funktionen der Losungen" besondere Aktualität.

Der Grundstein wurde vor mehr als 280 Jahren gelegt, als Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf am 3. Mai 1728 seiner Herrnhuter Gemeinde eine biblische Losung für den nächsten Tag mit auf den Weg gab. Zum Erfinder der Losungen wurde der spirituelle Vater der Herrnhuter, als er drei Jahre später im Alter von 31 Jahren das erste gedruckte Losungsbuch zusammenstellte. Seither sind die Losungen jedes Jahr, ohne Unterbrechung, erschienen, über alle Krisen und Kriege und gesellschaftlichen und politischen Veränderungen hinweg. Zu ihnen gehören die eigentliche Losung, die jedes Jahr aus ungefähr 1800 Texten des Alten Testaments in Herrnhut (Oberlausitz) ausgelost wird, der neutestamentliche Lehrtext, thematisch passend zur Losung ausgesucht, und ein dritter Text, meist ein Lied, Gebet oder ein bekenntnisartiger Text, der zum Gebet hinführen soll. Durch den zusätzlichen Abdruck der Kirchenjahresbibellese, der ökumenischen Bibellese, der Wochen- und Monatssprüche und der Predigttexte hat das Losungsbuch zunehmend den Charakter eines "evangelischen Breviers" erhalten.

Mit der weltweiten Missionsarbeit der Herrnhuter erschienen bald auch immer mehr fremdsprachliche Übersetzungen, und die Losungen erlangten weltweite Verbreitung. Heute erscheinen die Losungen in über fünfzig Sprachen. Das am meisten verbreitete "Andachtsbuch des Protestantismus" hat längst Länder- und Konfessionsgrenzen überschritten und ist Zeugnis gelebter Ökumene.

Peter Zimmerling, Praktischer Theologe in Leipzig, spürt in dem Buch dieser "Erfolgsgeschichte durch die Jahrhunderte" in ihren verschiedenen theologischen und spirituellen Facetten nach und nimmt dabei die spezifische, für die Wirkungsgeschichte der Losungen grundlegende Theologie und Spiritualität Zinzendorfs in den Blick. Am Beispiel namhafter Losungsleser des 19. und 20. Jahrhunderts, zu denen beispielsweise Otto von Bismarck, Jochen Klepper und Dietrich Bonhoeffer zählten, wird jeweils eine ganz eigene "Autobiografie" der Losungen erkennbar. So gehörten für Bonhoeffer die Losungen in den beiden Gefängnisjahren vor seiner Hinrichtung zu den "spirituellen Grundnahrungsmitteln".

Die in dem Band enthaltenen Äußerungen von Verantwortungsträgern aus Politik, Wirtschaft und Kirche zeigen eine Vielfalt der Gebrauchs- und Wirkungsmöglichkeiten der Losungen, nicht zuletzt ihre Bedeutung als Orientierungshilfe bei grundlegenden Entscheidungen.

Immer wieder kommt in dem Buch Zinzendorf selbst zu Wort. Für ihn, so der Autor, seien die Losungen "Quintessenz" der Heiligen Schrift, sozusagen ein "Maggiwürfel" gewesen.

Ein Jahr vor seinem Tode sprach Zinzendorf davon, dass in den Losungen der "Kern aus der Schale" und in der Bibel die "ganze Frucht in der Schale" enthalten sei. In diesem Sinne hatten und haben sie als "Bibel light" auch die Aufgabe, den Leser auf das Ganze der Heiligen Schrift, zur "Lectio continua" hinzuführen.

Neben ihrem seelsorgerlichen Charakter waren für Zinzendorf die Losungen aber auch "Haushaltungs-Regeln, wonach man den Gang der Gemeine richtet". Angesichts der Diskussion über Veränderungen der volkskirchlichen Strukturen gewinnen aus der Sicht des Buchautors die "kirchenleitenden Funktionen der Losungen" besondere Aktualität. Neue, tragfähige Strukturen könnten nicht anders, als durch ein "neues Hören auf Gottes Wort" auch in den Losungen gefunden zu werden.

Peter Zimmerling: Die Losungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, 198 Seiten, Euro 16,99.

Joachim Rott

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Rezensionen

Nicola Benedetti: A Scottish Fantasy

Zuhause

Vermittlerin der Traditionen
Bild
Bernedettis neue CD zeugt davon, wie zwei scheinbar gegensätzliche Musiktraditionen - die eine in lärmigen Pubs, die andere in noblen Konzertsälen beheimatet - schließlich doch zueinander finden.

"Unsere Erziehung kategorisiert und trennt Traditionen, die eigentlich nie weit voneinander entfernt waren", schreibt die Schottin Nicola Benedetti im ausführlichen und klugen Begleittext zu ihrer neuen CD. Sie hat das am eigenen Leib erlebt. Ihre Ausbildung zur Geigerin war rein klassisch orientiert: Dass die schottische Volksmusik ein Füllhorn virtuoser Fiddle-Stücke bietet, durfte sie nicht tangieren - zu unterschiedlich seien die technischen Herangehensweisen.

Inzwischen ist sie weltweit eine gefragte Solistin, hat mit großen Orchestern Werke vom Barock bis zur Moderne gespielt und sich bei Kritik und Publikum bereits mit 27 Jahren eine hohe künstlerische Reputation erworben. Sie ist erwachsen geworden, musikalisch gereift und hat sich entschieden, alte Konventionen endlich über Bord zu werfen.

"Homecoming", ihre neue CD, zeugt davon, wie zwei scheinbar gegensätzliche Musiktraditionen - die eine in lärmigen Pubs, die andere in noblen Konzertsälen beheimatet - schließlich doch zueinander finden. Benedetti setzt Max Bruchs 1881 uraufgeführte "Scottish Fantasy" geschickt als Türöffner ein. In der Einleitung legt das bbc Scottish Symphony Orchestra den Teppich aus für eine berührende Liebeserklärung Nicola Benedettis an ihr Herkunftsland. Es sei "ein teuflisch schwieriges Werk", mit dem sie viele zähe Übe-Stunden verbracht habe, erzählt die Geigerin: Man hört die Mühe nicht, alles klingt warmherzig und frei.

Bruch, der nie in Schottland war, hat hier diverse "Klassiker" der schottischen Volksmusik verarbeitet, unter anderem ein Stück des schottischen "People's Poet" Robert Burns, der aus derselben Gegend stammte wie Nicola Benedetti, der Region North Ayrshire. Drei Orchesterversionen seiner Stücke (darunter das berühmte Auld Lang Syne) bilden die perfekte Überleitung zu den restlichen Songs der CD, die allesamt aus dem Folk-Repertoire stammen. Nicola Benedetti verzichtet hier auf das Orchester und arbeitet stattdessen mit erfahrenen Musikern der Folkszene zusammen.

Es ist faszinierend, mit welch klarem, weichem und an den entscheidenden Stellen auch kraftvollem Ton die klassisch gebildete Geigerin diese Musik interpretiert, die man in Clubs schon so oft in ihrer rauen, unbändigen Ur-Natur erlebt hat. Sei es nun in James Scott Skinners rasantem Reel "Hurricane Set", im Duett mit dem Fiddler Aly Bain bei "The Gentle Light That Wakes Me" oder im Klagelied "Coisich a rùin", dessen gälischen Text Julie Fowlis betörend schön singt: Nicola Benedetti ist ganz und gar zu Hause angekommen.

Nicola Benedetti: A Scottish Fantasy. Mit dem BBC Scottish Symphony Orchestra. Decca 478 6690.

Ralf Neite

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Rezensionen

M.Brumlik/R.Schieder (Hg.): Die Gewalt des einen Gottes

Fortsetzung

Gewalt und Monotheismus
Bild
Fortsetzung Gewalt und Monotheismus Die hier versammelten Autoren verbindet die rezeptionsgeschichtliche Frage nach der Bedeutung, die das so genannte Sinai-Narrativ für die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam gewonnen hat.

Eine Monotheismusdebatte hat nicht notwendig Gewalt zum Thema, aber wenn sie am Paradigma des Bundeschlusses am Sinai geführt wird, dann geht es unbedingt um die Frage nach der spezifischen religiösen Gewalt im Namen Gottes, wie sie im Prinzip totaler Mitgliedschaft potenziell angelegt ist. Rolf Schieder hat dem vorliegenden Sammelband den Titel "Die Gewalt des einen Gottes" gegeben, und damit sogleich angezeigt, dass es hier monotheistisch um den einen Gott gehen soll, der mit einem Volk den Bund am Sinai schließt, dessen Übertretung sogleich mit einer grausamen Strafaktion geahndet wird.

Dabei beschäftigt die hier versammelten Autoren kaum die Historizität des Bundesschlusses und der Geschichte vom Goldenen Kalb, sondern die rezeptionsgeschichtliche Frage nach der Bedeutung, die das so genannte Sinai-Narrativ für die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam gewonnen hat. Bekanntermaßen hatte der Ägyptologe Jan Assmann vor bald zwei Jahrzehnten daran erinnert, zu welchem enormen inneren Druck eine Form religiöser Bindung führen kann, in der sich Gott und ein Volk exklusiv miteinander verbünden. Allerdings möchte Assmann diese Geschichte "(...) nicht auf die Bibel als Ganzes hochrechnen".

Der Philosoph Peter Sloterdijk hingegen will in der strukturellen Gewalt dieses Bundes das religiöse Programm erkennen, wonach sich die Geschichte der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam entwickelt habe, und er kann dafür erschreckende Beispiele anführen.

Darüber hinaus zeigt er mit eloquenter Beschleunigung, wie sich das Sinai-Narrativ zu einem generativen Prinzip für gewaltbereite und gar gewaltförmige religiöse und religionsnahe Verbindungen bis in die Gegenwart hinein fortschreiben lässt. Jedoch hinterlässt diese geniale Gesamtschau auch den Eindruck, dass eine historische Detailarbeit an den rezeptionsgeschichtlichen Verschiebungen im Verhältnis von Gedächtnis- und Ereignisgeschichte notwendig ist.

So wird der Leser den Beitrag des Alttestamentlers Markus Witte begrüßen, aus dem hervorgeht, dass auch das Alte Testament neben der späten Mosestradition in der Weisheitsliteratur und etwa in der Josefslegende offenere, und vor allem weniger strafbewehrte, Verbindungen zwischen Gott und Mensch kennt. Es überwiegt überhaupt im Alten und Neuen Testament, "(...) die Vorstellung, dass Gottes Barmherzigkeit größer ist als sein Zorn".

Auch die Religionen des Mittelalters haben, wie die Religionshistorikerin Dorothea Weltecke festhält "(...) nicht alle und ständig Gewalt gegen interne Abweichler ausgeübt". Für die seriöse Arbeit an der Religionsgeschichte sei es sehr vonnöten, wie der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze betont, den Fundamentalismus als ein modernes Phänomen zu erkennen, als eine religiöse Totalisierung des Subjekts, wie sie nur unter der fortgeschrittenen gesellschaftlichen Vermittlung der Neuzeit möglich werden konnte.

Wenn sich unter solchen subjektiven Bedingungen marodierende religiöse Akteure oder gar ganze terroristische politische Einheiten des Sinai-Narrativs bedienen, dann geschieht dies in einem gefährlichen rhetorischen, aber nicht in einem ursprünglichen Zusammenhang mit diesem Narrativ.

Wünschenswert wäre es bei einer Fortsetzung der Debatte, wenn in einer systematischen theologischen Reflexion anschaulicher würde, wie sich in der exklusiven Verbindung zwischen einem Gott und dem Menschen in der Christusrelation die vernichtende menschliche Gewalt gegen Gott selbst wendet und wie sich in einem neuen Schritt Gott wieder mit dem Menschen verbindet.

Als diese neue Verbindung existiert der Osterglaube ("Gottes Werk am Menschen"), der weder mit Gewalt nach innen erzwungen, noch nach außen verteidigt werden kann.

Micha Brumlik/Rolf Schieder u. a. (Hrsg.): Die Gewalt des einen Gottes. Berlin University Press 2014, 360 Seiten, Euro 29,99.

Friedrich Seven

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Rezensionen

Martin Geck: Matthias Claudius

Liebeserklärung

Eine neue Claudius-Biographie
Bild
Wie Matthias Claudius durch Martin Geck hindurchgegangen ist oder immer noch hindurch geht, das erfährt man immer wieder in diesem Buch, und wer gegen solchen Subjektivismus allergisch ist, sollte die Finger davon lassen.

Neue Jubiläen bringen neue Biographien mit sich. So auch der 200. Todestag des Dichters Matthias Claudius (1740-1815). Wem würde da nicht als erstes "Der Mond ist aufgegangen" einfallen? Deswegen wundert es nicht, dass Martin Geck sein Buch mit einer persönlichen Annäherung an das berühmte Lied beginnen lässt, in der man zum Beispiel erfährt, dass Geck es auch heute noch jeden zweiten Abend als "kleine, wortlose Hausandacht" auf dem Klavier spielt. Muss man das wissen? Nicht unbedingt.

Doch Geck stellt gleich am Anfang klar, dass er nur über Dinge schreiben könne, "die durch mich hindurchgegangen sind". Wie Matthias Claudius durch Martin Geck hindurchgegangen ist oder immer noch hindurch geht, das erfährt man immer wieder in diesem Buch, und wer gegen solchen Subjektivismus allergisch ist, sollte die Finger davon lassen. Allerdings lohnt es sich, diese kleine Manie des Autors in Kauf zu nehmen, weil er Leben und Werk des "Wandsbecker Bothen" anregend und vielschichtig darstellt. In diesem Buch finden sich viele Texte von Claudius zitiert und vieles Zitierte auch "by the way" anregend interpretiert. Nur ein Beispiel: Die vergleichenden Überlegungen Gecks zu "Wanderers Nachtlied" von Goethe und dem "Mond" von Claudius, speziell über das beide Werke beschließende Wörtlein "auch" sind ein Genuss.

Geck liebt Claudius, das steht außer Frage. Aber er kennt ihn auch und fördert viel Interessantes zutage. Was könnte mehr über die Persönlichkeit des freundlichen Outcast Claudius aussagen, als sein Bewerbungsschreiben um eine Stelle aus dem Jahr 1775? Claudius schreibt: "Wenn ich von meiner Neigung sprechen dürfte, so ist die für ein einsames Leben, für ein nützliches Wirken im Stillen, für Feld und Wald und Bauernvolk von jeher gestimmt gewesen; das darf ich auch noch sagen, dass ich es an gutem Willen, herzlicher Tätigkeit und Treue nicht werde fehlen lassen; ob ich aber Geschick genug habe, ein Rad in der Maschine zu sein, dadurch ein Fürst seine Vatermilde über sein gutes Landvolk ausbreiten will, das weiß ich nicht."

Hand auf's Herz: Würden Sie einen solchen Menschen einstellen? Eher nicht. Herder war schon damals entsetzt. Wegen dieser naiv-selbstbewussten Ehrlichkeit hatte Claudius es zeitlebens nicht leicht mit seinem Auskommen. Er hatte es auch nicht leicht mit der Aufklärung, die zu seiner Zeit in Blüte stand. Ihrem Licht gegenüber war Claudius skeptisch. Das ließ ihn damals und lässt ihn durchaus auch heute noch als naiv, ja, als Reaktionär erscheinen.

Autor Martin Geck schlägt in seinem Buch kühn einen Bogen über zwei Jahrhunderte, um Claudius zu retten, und er führt im Schlusskapitel einen gewichtigen Zeugen an, nämlich den Philosophen Hans-Georg Gadamer. Der warnte einst, wer "religiöse und mythische" Themen aus seinem Gesichtsfeld verbanne, ignoriere "einen Überhang an Fragen, den keine Form von Wissenschaft bewältigen" könne. Geck fokussiert diese eher allgemeinen Überlegungen gerne auf seinen geliebten Claudius und resümiert: "Wer mit mir die Auffassung teilt, dass der Mensch zum Fragen geboren sei, findet in Claudius einen Dichter, der auf das Schönste zu fragen vermag". Wohl wahr.

Martin Geck: Matthias Claudius. Biographie eines Unzeitgemäßen. Verlag Siedler, München 2014, 320 Seiten, Euro 24,99.

Reinhard Mawick

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Rezensionen

H.-M. Enzensberger: Unsterbliche Kinderreime

Voller Witz

Schöne alte Kinderreime
Bild
Diese Reime sind nicht gerade kuschelig und niedlich, Kinder und Tiere suhlen sich im Dreck, Väter drohen Schläge an, man spricht Kauderwelsch oder in Rätseln.

"Ich bin der Herr Pastor und pred'ge euch was vor. Und wenn ich nicht mehr weiter kann, dann fange ich von vorne an." Nein, besonders respektvoll geht man in den alten Kinderreimen und -liedern nicht miteinander um. Dafür sind sie voller Witz und Gesellschaftskritik und somit nicht nur für Kinder erdacht. Elke Heidenreich trägt diese Reime mit der richtigen Portion Ironie vor und setzt die Betonung auf den Punkt genau, weil sonst einiges nicht funktionieren würde.

In ihrer Auswahl aus Hans Magnus Enzensbergers klassischer Anthologie "Allerleirauh", geht Heidenreich nach Themen vor. Im ersten geht es um das Essen, es folgen Anarchie und Freiheit, später die Liebe und die Ehe, um Geld und Politik.

Dabei ist es nicht gerade kuschelig und niedlich, sondern Kinder und Tiere suhlen sich im Dreck, Väter drohen Schläge an, man spricht Kauderwelsch oder in Rätseln. Es wird gehungert und gestorben, gestohlen und gelogen. Ein Stück Kulturgeschichte findet sich hier, längst vergessene Berufe wie der Leierkastenmann, Lampenputzer und Müller tauchen auf. Neben Nonsens gibt es Bildung, Zungenbrecher fördern das Sprachvermögen, und als es finster war und der Mond helle schien, wird damit das logische Denken geschult. Heißt es danach: "Nun danket alle Gott, die Schule macht bankrott," oder "Doktor Martin Luther hat Hosen ohne Futter, hat Schuhe ohne Sohlen ..." hatte man im vergangenen Jahrhundert die Lacher auf seiner Seite.

Für Kinder ist das lustig, doch einiges wegen längst nicht mehr gebräuchlicher Ausdrücke nicht einfach zu verstehen. Neben Elke Heidenreichs unverwechselbarer Stimme unterstreicht die Klaviermusik des Pianisten Marc-Aurel-Floros die Stimmung.

Angelika Hornig

Hans-Magnus Enzensberger: Lebe glücklich, lebe froh. Unsterbliche Kinderreime. Der Hörverlag, Hamburg 2014.

Angelika Hornig

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Rezensionen

D.T.Max: Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte

Verbundenheit

Ein Leben
Bild
D.T. Max schreibt mit hohem literarischem, philosophischem und zeitgeistgeschichtlichem Sachverstand, ohne schlau zu tun.

Anfang der Neunzigerjahre hatte David Foster Wallace (1962-2008) einen Alkoholentzug hinter sich, besuchte seither AA-Meetings, und das Thema Glauben beschäftigte ihn. Er versuchte zu beten, weil er es für gut hielt. An Gott glaubte er aber nicht. Den Plan, sich taufen zu lassen, verwarf er. Der Priester fand, er habe für einen Gläubigen zu viele Fragen. Seine wahre Religion, heißt es in D. T. Max' Porträt "Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte", war ohnehin die Sprache.

"Wenn wir als Welt und Gott nicht mehr haben als Wörter, müssen wir sie vorsichtig und sorgsam behandeln: Wir müssen huldigen", schreibt er damals an einen Freund. Seinen Jahrhundertroman "Unendlicher Spaß" vollendet er wenig später. Suchende sind darin die Hauptfiguren, auch sie nicht gläubig, aber in der Hand eines Autors, dessen Ziel es war, Köpfe gleichsam wie Herzen schluchzen zu lassen und der literarisch und intellektuell das Zeug dazu hatte.

Eigene Krisen und Menschen, die er traf, nutzte er als Material (so nahm er das Rehabilitationszentrum als Vorbild für das Ennet House in der Zeitgeist-Apokalyptisierung "Unendlicher Spaß"; die Prometheus-Gestalt Don Gately hat dort ihr Zuhause). Doch Wallace, der auch luzide Reportagen schrieb, schöpfte keineswegs bloß ab. Er schuf. Für ihn war es die Aufgabe des Schriftstellers, "zu retten, was an Menschlichem und Magischem noch lebt und trotz der Finsternis glimmt".

In einer zynischen Zeit blassen Scheins habe es in der Literatur darum zu gehen, "was es verdammt noch mal heißt, ein Mensch zu sein". Sein Biograph D. T. Max, der Wallace nie kennenlernte, zeigt eindringlich, wie ihm das gelang - ohne dabei das Werk aus dem Leben zu erklären. "Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte" ist so vom Fleck weg DFW-Standardliteratur und liest sich dabei wie ein Roman. Dass der begabte Wallace ein schillernder Charakter mit vielen Widersprüchen und Brüchen war, kommt Max sicher entgegen.

Aufgewachsen im Mittleren Westen als Kind von Bildungsbürgern litt der begeisterte Tennisspieler schon früh unter Angstzuständen und Depression, der "Üblen Sache", wie er das nannte. Seine erste Leidenschaft galt formaler Logik und dem Philosophen Ludwig Wittgenstein. Dessen Umschwung vom harschen "Alles, was der Fall ist" zum "Alles ist sagbar" beeinflusste auch sein Schreiben. Das Rätseln darüber, was ihn selbst zu einem so unruhigen und geplagten Mann hatte werden lassen, begleitete ihn dabei.

Intellektuell glänzend und analytisch stark betrat "Unendlicher Spaß" literarisches Neuland. Der Roman changiert zwischen humorvoller, postmodern verwirbelter und um Eindeutigkeit ringender Haltung, als kulminierten Thomas Pynchon, Don DeLillo und Fjodor Michailowitsch Dostojewski darin, die er schätzte. Schriftsteller, die auf Ruhm aus sind, lehnte er ebenso ab wie jene mit boshaft ironischer Weltsicht, "Feuerlöscher voll Benzin" nannte er sie. In den Achtziger- und Neunzigerjahren hatten sie Konjunktur.

Er wollte berühren und trotz Fragmentierung und kosmischer Einsamkeit Verbundenheit spüren lassen. D. T. Max nennt das die Hoffnung darauf, dass Geschichtenerzählen heilen kann. Seine gut recherchierte Biographie ist klar, einfühlsam und intim, aber kein bisschen voyeuristisch. Max schreibt mit hohem literarischem, philosophischem und zeitgeistgeschichtlichem Sachverstand, ohne schlau zu tun. Wallace und sein Werk, in dem es avanciert und schillernd gebrochen auch um Erlösung geht, bringt er gleichermaßen nahe und macht viel Lust, ihn (wieder) zu lesen. Wallace' eigene Lebensgeschichte endet berührend tragisch. Als er die "Üble Sache" nicht mehr erträgt, erhängt er sich.

D. T. Max: Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 512 Seiten, Euro 24,99.

Udo Feist

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Rezensionen

Dietmar Mieth: Meister Eckhardt

Mehr Resonanz

Biographie Meister Eckharts
Bild
Dieses Buch ist sowohl für Eckhartkenner als auch für jene, die einen ersten Einblick in die Denkweise des Meisters erhalten möchten, ein Gewinn.

Der Tübinger Theologe und langjährige Präsident der interdisziplinären Meister-Eckhart-Gesellschaft, Dietmar Mieth, hat eine bereits lange fällige, handliche und gut lesbare Darstellung des Denkens des mittelalterlichen Philosophen, Predigers und Mystikers, Meister Eckhart (1260-1328), vorgelegt. Sie bewegt sich auf dem neuesten Stand der interdisziplinären Forschung und ist sowohl für Eckhartkenner als auch für jene, die einen ersten Einblick in die Denkweise des Meisters erhalten möchten, ein Gewinn.

Mieth deutet Meister Eckhart nicht allein aus dessen umfangreichem lateinischen und mittelhochdeutschen Werk, sondern skizziert - in gebotener Kürze - zugleich die historischen und systematischen Bezüge, die für ein Verständnis des Meisters heute bedeutsam sind: zur intellektuellen Umwelt seiner Zeit, zu den Texten der 1310 in Paris als Ketzerin hingerichteten Marguerite Porète, aber auch zur heutigen Rezeption im interkonfessionellen und interreligiösen Dialog.

Die übersichtliche Gliederung orientiert sich nach einer kurzen Einführung an den für Meister Eckhart zentralen Themen: Gott und Mensch - Einheit im Wort, im Denken und im Bild - Offenbarung, Wahrheit und Gewissheit - Gottesgeburt und Gottesentzug - Spiritualität, Ethik, Mystik - Häresie im Widerstreit, und schließt mit der Frage nach einem Zugang zu Meister Eckhart von heute her.

Mieths Überzeugung von der Relevanz des Querdenkers Eckhart für unsere Zeit kommt aber nicht erst in diesem Schlusskapitel ins Spiel, sondern bestimmt den Duktus des gesamten Buches - bei aller Präzision bleibt der Autor nämlich nicht an den mittelalterlichen Terminologien haften, sondern übersetzt sie nach Möglichkeit in die Denkkategorien der Gegenwart. So nimmt er die Leserinnen und Leser mit. Dies sei exemplarisch am ersten und grundlegenden Kapitel "Gott und Mensch" veranschaulicht. Darin gelingt es Mieth, die Struktur des Eckhartschen Denkens anhand der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung, von Natur, Freiheit und Gnade neu zu erschließen - und zwar so, dass evident wird, warum Eckharts Auseinandersetzung mit diesen Fragen Menschen bis heute angeht und fasziniert. Indem Eckhart zum Beispiel parallele Bilder und Begriffe für die Beschreibung der Schöpfung als auch für die Beschreibung Gottes verwende (wie Licht, Natur, Gnade), also nicht für einen bestimmten und begrenzten Bereich reserviere, gehe er davon aus, dass Gott und Mensch, dass Philosophie und Theologie einander wechselseitig erschließen. Das heißt, es gibt nach Meister Eckhart keine philosophische Erkenntnis, die nicht bereits erleuchtet wäre, und keine theologische Offenbarung, die nicht bereits der Schöpfung von ihrem Ursprung (Principium) her inhärent wäre. Theologie kann so als Denkvorgang verstanden werden, "der 'Offenbarkeit' voraussetzt, die", so Mieth, "ihrerseits wieder im Glauben an eine geschichtliche 'Offenbarung' entfaltet ist". In dieser Sicht zeigt sich etwa Liebe (vorhanden als Realität zwischen Menschen und von daher erschließbar als Realität zwischen Gott und Mensch beziehungsweise in Gott selbst) als "verinnerlichte Offenbarkeit des trinitarischen Prozesses". Und "Freiheit erscheint (...) als Offenbarkeit der Gnade" beziehungsweise "der Vollzug der Gnade in der sich selbst lassenden Freiheit."

Es ist zu wünschen, dass das Buch, indem es Meister Eckhart mit gegenwärtigen Denkweisen ins Gespräch bringt, zum Anlass wird, dass Meister Eckhart mehr als bisher als ein Denker rezipiert wird, der zu unseren Fragen heute Entscheidendes zu sagen hätte.

Dietmar Mieth: Meister Eckhart. C. H. BeckVerlag, München 2014, 298 Seiten, Euro 16,95.

Christine Büchner

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Rezensionen

Bob Dylan: The Basement Tapes Raw

Im Keller

Drei "Bootleg Series"-Versionen
Bild
Ist das Kommerzkalkül nach dem Motto "Unser jährlich' Dylan gib uns heute"? Und wenn, wäre es egal...

Schummriges Licht aus vergilbter Neonröhre, der Metallhandlauflack ist fleckig. Wenige Stufen noch, man sieht sie kaum, fürchtet zu stolpern. Dann schwingt die Tür auf und die Musik ist unverstellt zu hören, trotzdem leise, fern, wie aus einer anderen Zeit. Die Band im Keller steht vor Rohren der Heizungsanlage, ein Tonbandgerät läuft. Mit im Raum sind Mrs. Henry, Quinn, der Eskimo, Feuerschlucker, Clown, Gewichtheber, und eine Vaudeville-Tänzerin mit aufreizendem BH: Das Cover der "Basement Tapes", des ersten und wohl berühmtesten Bootlegs der Popgeschichte.

1975 wurde es dann regulär auf LP herausgebracht, aber ohne "Quinn, the Eskimo". "Ereignet" hatten sich die "Basement Tapes" schon 1967: Nach seinem Motorradunfall war Bob Dylan in die Nähe von Woodstock gezogen. Seine Begleitmusiker (Rick Danko, Levon Helm, Garth Hudson, Richard Manuel, Robbie Robertson), fortan "The Band", mieteten nicht weit davon ein Haus, das wegen des Anstrichs "Big Pink" hieß. In dessen Keller trafen sie sich von Juni bis Oktober, um spontan Musik zu machen, die radikal vom Hauptweg damaliger Pop-Hyperproduktionen abbog. Während die Beatles "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" vorlegten, ließen Dylan & The Band Studiobombast weg und kultivierten einen erdig leichten, an Country und Folk orientierten Rocksound Geburtsstunde all dessen, was heute "Americana" und "Alternative Country" heißt.

Azetatpressungen, also ungeschnittene Bänder, gaben sie an andere weiter, die sich daraus Songs zum Covern aussuchen konnten. Rasch kursierten davon enorm einfluss- und erfolgreiche Raubpressungen (Bootlegs), so dass der "Rolling Stone" bereits 1968 eine Veröffentlichung forderte. Denn endlich gab es wieder neue Dylan-Songs. Es dauerte, und 1975 kamen bloß 24 Basement Tapes-Songs heraus. Ein Bruchteil, vor allem gemessen am Einfluss, den sie längst hatten. Verstreut gab es einige auf andern Dylan-Alben und der "Band"-LP "Music from Big Pink".

Fast 50 Jahre später ist es jetzt soweit: Sony macht im Rahmen der Dylan-"Bootleg Series"-Reihe auf Vol. 11 das so lang Ersehnte zugänglich. Kommerzkalkül nach dem Motto "Unser jährlich' Dylan gib uns heute"? Und wenn, wäre es egal, denn es lohnt sich, nicht nur für Dylanfans und -exegeten. Man braucht jedoch Zeit für diese Keller-Welt und Bereitschaft, sich in Alternativersionen und noch nie veröffentlichte Dylan-Songs zu vertiefen.

Derer 30 sind es auf der teuren Vollversion mit 138 Tracks und prallem Fotobuch. Denn die "Bootleg Series-Basement Tapes" gibt es in drei Fassungen: Raw (zwei CDs, 38 Tracks), Raw de luxe (drei LPs, Fotobuch im LP-Format, zwei CDs, 38 Tracks) und eben complete ..., sozusagen vom Volksbrockhaus bis zur 24-bändigen Enzyklopädie mit Goldschnitt. Für alle gilt die Verheißung: Wer Ohren hat zu hören ... Schummriges Licht aus vergilbter Neonröhre. Himmlischer Keller-Songkosmos.

Bob Dylan: The Basement Tapes Raw. The Bootleg Series Vol. 11, Smi ColSony Music 2014.

Udo Feist

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Rezensionen

abonnieren