Bob Dylan: The Basement Tapes Raw

Im Keller

Drei "Bootleg Series"-Versionen
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Ist das Kommerzkalkül nach dem Motto "Unser jährlich' Dylan gib uns heute"? Und wenn, wäre es egal...

Schummriges Licht aus vergilbter Neonröhre, der Metallhandlauflack ist fleckig. Wenige Stufen noch, man sieht sie kaum, fürchtet zu stolpern. Dann schwingt die Tür auf und die Musik ist unverstellt zu hören, trotzdem leise, fern, wie aus einer anderen Zeit. Die Band im Keller steht vor Rohren der Heizungsanlage, ein Tonbandgerät läuft. Mit im Raum sind Mrs. Henry, Quinn, der Eskimo, Feuerschlucker, Clown, Gewichtheber, und eine Vaudeville-Tänzerin mit aufreizendem BH: Das Cover der "Basement Tapes", des ersten und wohl berühmtesten Bootlegs der Popgeschichte.

1975 wurde es dann regulär auf LP herausgebracht, aber ohne "Quinn, the Eskimo". "Ereignet" hatten sich die "Basement Tapes" schon 1967: Nach seinem Motorradunfall war Bob Dylan in die Nähe von Woodstock gezogen. Seine Begleitmusiker (Rick Danko, Levon Helm, Garth Hudson, Richard Manuel, Robbie Robertson), fortan "The Band", mieteten nicht weit davon ein Haus, das wegen des Anstrichs "Big Pink" hieß. In dessen Keller trafen sie sich von Juni bis Oktober, um spontan Musik zu machen, die radikal vom Hauptweg damaliger Pop-Hyperproduktionen abbog. Während die Beatles "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" vorlegten, ließen Dylan & The Band Studiobombast weg und kultivierten einen erdig leichten, an Country und Folk orientierten Rocksound Geburtsstunde all dessen, was heute "Americana" und "Alternative Country" heißt.

Azetatpressungen, also ungeschnittene Bänder, gaben sie an andere weiter, die sich daraus Songs zum Covern aussuchen konnten. Rasch kursierten davon enorm einfluss- und erfolgreiche Raubpressungen (Bootlegs), so dass der "Rolling Stone" bereits 1968 eine Veröffentlichung forderte. Denn endlich gab es wieder neue Dylan-Songs. Es dauerte, und 1975 kamen bloß 24 Basement Tapes-Songs heraus. Ein Bruchteil, vor allem gemessen am Einfluss, den sie längst hatten. Verstreut gab es einige auf andern Dylan-Alben und der "Band"-LP "Music from Big Pink".

Fast 50 Jahre später ist es jetzt soweit: Sony macht im Rahmen der Dylan-"Bootleg Series"-Reihe auf Vol. 11 das so lang Ersehnte zugänglich. Kommerzkalkül nach dem Motto "Unser jährlich' Dylan gib uns heute"? Und wenn, wäre es egal, denn es lohnt sich, nicht nur für Dylanfans und -exegeten. Man braucht jedoch Zeit für diese Keller-Welt und Bereitschaft, sich in Alternativersionen und noch nie veröffentlichte Dylan-Songs zu vertiefen.

Derer 30 sind es auf der teuren Vollversion mit 138 Tracks und prallem Fotobuch. Denn die "Bootleg Series-Basement Tapes" gibt es in drei Fassungen: Raw (zwei CDs, 38 Tracks), Raw de luxe (drei LPs, Fotobuch im LP-Format, zwei CDs, 38 Tracks) und eben complete ..., sozusagen vom Volksbrockhaus bis zur 24-bändigen Enzyklopädie mit Goldschnitt. Für alle gilt die Verheißung: Wer Ohren hat zu hören ... Schummriges Licht aus vergilbter Neonröhre. Himmlischer Keller-Songkosmos.

Bob Dylan: The Basement Tapes Raw. The Bootleg Series Vol. 11, Smi ColSony Music 2014.

Udo Feist

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Ulrich Greiner: Schamverlust

Verlorene Scham

Wandel der Gefühlskultur
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Greiner versteht es, die existenzielle Krise und die zögernde Rückkehr eines Lebensgefühls anschaulich und zuweilen packend darzustellen.

"Scham ist keine anerzogene Unart, die man sich abgewöhnen sollte, sondern die Bedingung von Moral schlechthin." Diese Behauptung, die den Kennern der biblischen Schöpfungsgeschichte nicht fremd ist, bildet den Ausgangspunkt für den großen Versuch des ehemaligen Feuilletonchefs der "Zeit", sich und den Lesern die Tragweite dieses anthropologischen Grundelements der sittlichen Kultur klarzumachen. Ulrich Greiner, den dieses menschliche Basisgefühl offenbar seit langem beschäftigt, stellt die Scham auf eine Rangstufe mit den Existenzialen der Angst, der Sorge und der Schuld.

Und da die Literatur ein großes Archiv bildet, das die Wandlungen der Gefühlskultur darstellt und aufbewahrt, hält der profunde Literaturkenner Greiner sich an diesen Thesaurus. Das hat den Vorteil der Anschaulichkeit und gewährt zugleich die erkenntnisfördernde Distanz, die Tiefenschärfe und Vergleich ermöglicht. Er schreibt keine Kulturgeschichte der Scham, sondern eher eine Typologie ihrer wechselnden kulturellen Erscheinungsformen. Dabei zeigt sich, so seine These, "dass an die Stelle der alten Schuldkultur und der noch älteren Schamkultur eine neue Kultur getreten ist: die Kultur der Peinlichkeit".

Demnach hat eine zwiespältige Entwicklung stattgefunden: einerseits die Verflachung und Vervielfältigung zu vielen, gesellschaftlich konditionierten Peinlichkeiten, andererseits ein Abbau der moralischen Tabuzonen, begleitet von extremen Entblößungen. Greiner ist sich dessen bewusst: Kulturkritik verfällt notorisch der Versuchung, von Generation zu Generation einen Werteverfall zu beklagen und Kulturgeschichte als Verfallsprozess zu beschreiben. Er vermeidet Kulturpessimismus durch die anschauliche, gelegentlich ironische Darstellung von intensiv erzählten Szenen der Metamorphosen der Moral.

Die Verlustanzeige erfolgt in zwölf Kapiteln. Ausgehend von der Kampagne der Achtundsechziger gegen die bürgerliche Scham wird die neue Furcht vor der Peinlichkeit in der jüngeren Generation, zum Beispiel an Adornos Konfrontation im Hörsaal mit barbusigen Feministinnen oder an dem öffentlichen Heiratsantrag einer Sportmoderatorin, gezeigt; der Konnex von Scham und Schuld, vom Sündenfall bis Kierkegaard und Kafka, wird sichtbar gemacht. Das reflexive Verhältnis von Selbst- und Fremdbeobachtung, ja die mögliche Spaltung einer Persönlichkeit wird bei Dostojewskij, Karl Philipp Moritz und Thomas Mann gezeigt.

Über Schamangst und -lust und Scham als Machtfrage haben Bernanos, Sennett und Bourdin nachgedacht - also werden auch soziologische Beobachtungen und mediale Szenen nachgezeichnet. Schließlich werden Wärme und Kälte im Verhalten bei Ernst Jünger und dem Anthropologen Helmuth Plessner erörtert.

Eine Szene zeigt wie ein Spotlight den Übergang von der Scham zur Peinlichkeit: Die Sportmoderatorin Monica Lierhaus erhielt 2011 nach einer überstandenen Hirnoperation die "Goldene Kamera". Das tiefbewegte Publikum feierte ihre Rückkehr in die Öffentlichkeit, und sie reagierte darauf mit einer unerwarteten Geste gegenüber ihrem Lebenspartner, nämlich mit der Frage, ob er sie heiraten wolle. Im Publikum schlug die Bewegtheit in entgeistertes Mitleid um.

Greiner versteht es, die existenzielle Krise und die zögernde Rückkehr eines Lebensgefühls anschaulich und zuweilen packend darzustellen. Und nicht nur der geübte Internetsurfer, Kinogänger oder TV-Seher begreift, dass es hier um mehr geht als um eine Wellenbewegung des Zeitgeistes. Es geht um den Lebensnerv unserer öffentlichen und privaten Moral und die Ästhetik ihrer sozialen Kultur.

Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 352 Seiten, Euro 22,95.

Hans Norbert Janowski

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Thomas Hettche: Pfaueninsel

Exoten

Auf der Pfaueninsel
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Wer lieber Bücher hört, als sie selbst zu lesen, soll zu diesem Hörbuch greifen.

Das ist der Stoff, aus dem Bestseller sind: Ein historisches Ambiente, der Königshof Preußens im Laufe des 19. Jahrhundert. Darin Figuren, deren Existenz zwar historisch belegt ist, die aber literarisch gestaltet werden können. Und ein Ort voller Exotik, scheinbar aus der Zeit gefallen und doch von einer Welt umgeben, in der sich gerade ein Epochenwechsel vollzieht. "Pfaueninsel" von Thomas Hettche war eine der populärsten Neuerscheinungen des vergangenen Bücherherbstes. Zurecht, denn die - ohne Frage traurige - Geschichte der Zwergin Marie, die gemeinsam mit ihrem Bruder, einem "Riesen" und exotischen Tieren zur Belustigung in diesem absurden Vergnügungspark des Königs lebt, berührt, belehrt und entwickelt aus dem historischen Stoff zeitlose Fragen nach Schönheit, Liebe und der Würde von Natur und Mensch.

Das Hörbuch, gelesen von Dagmar Manzel, lebt zweifelsohne von dieser Vorlage. Keine Musik, keine zusätzlichen Klangelemente, die Produzenten setzen allein auf die Stimme der Schauspielerin, die zu den besten ihres Fachs gehört. Sie liest den Text, zurückhaltend, Emotionen nur andeutend, was über weite Strecken passt, schließlich sind wir bei Hofe, wo Contenance Pflicht ist. Hin und wieder wünscht man sich jedoch, dass die Vorleserin die Bremsen löst. Denn es gibt ja auch die Stellen der Ekstase, die Szene im Palmenhaus etwa, wo Maries Bruder die sexuellen Begierden der Adeligen befeuert, dann selber Getriebener wird und das Spektakel zu einem jähen Ende führt.

Fazit: Wer lieber Bücher hört, als sie selbst zu lesen, soll zu diesem Hörbuch greifen. Allen anderen sei das schön gestaltete Printprodukt empfohlen. Die Geschichte ist ja zum Glück dieselbe.

Thomas Hettche: Pfaueninsel. Argon Hörbuch, Berlin 2014, 7 CDs.

Stephan Kosch

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Thomas Brose: Kein Himmel über Berlin?

Weiter Horizont

Über Christen in Berlin
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Wer über den Zusammenhang von Christsein und Großstadt nachdenkt, kommt an Broses Überlegungen nicht vorbei.

Nichts weniger als eine bedeutende Vorarbeit zu einer generellen "Theologie der Stadt" lege der römisch-katholische Theologe Thomas Brose vor. So bescheinigt es "Im Geleitwort" der Berliner Weihbischof, Matthias Heinrich. Und so nimmt es auch der Leser wahr. Wie Christ und Stadt zusammenpassen ist der wesentliche Inhalt von Broses Buch. Dabei schlägt es einen weiten Bogen, von der unmittelbaren Gegenwart bis zurück zum Apostel Paulus, der vor allem die Großstädte seiner Zeit missionierte: Damaskus, Antiochia, Ephesus und Rom. Paulus habe das Christentum zu einer regelrechten Stadtreligion gemacht und seither bestehe eine "Affinität von Christsein und Stadt".

Nach Georg Simmel beruht das moderne Großstadtleben "auf Machbarkeit, Schnelligkeit und Massenhaftigkeit". Alles Erscheinungen, die einem gründlichen, sowohl massenkompatiblen als auch individuell zu verantwortenden Glauben ungünstig zu sein scheinen.

Anhand dreier Theologen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Berlin gelebt und gearbeitet haben, und anhand ausgewählter religiöser Räume macht Brose seinen (von ihm so genannten) "Berliner Ansatz" deutlich: "Die Lebenswelt der Metropole Berlin auf theologisch-philosophische Weise zu beschreiben, die Verbindung von Leben und Lehre, persönlichem Zeugnis und theologischer Existenzerfahrung." Die "Trias von Widerspruch, Anknüpfung und Überbietung" bietet ihm die Methode, mit der Großstadt-Wirklichkeit umzugehen.

Es erscheint ihm unaufrichtig und nicht zielführend, Erscheinungen des großstädtischen Lebens als "anonym-christliche Tatbestände" umzudeuten und zu vereinnahmen. Im Gegenteil müssen sie "in ihrem Eigenstand" wahrgenommen werden. Für dieses würdigende Wahrnehmen brauche der Betrachter spirituelle Energie, solidarisches Mitgefühl und wissenschaftliche Unterscheidungskraft, das heißt, eine intellektuelle und existenzielle Entscheidung für eine Form von "Nachbarschaft".

Diese "Nachbarschaft" sieht Brose in den Theologen Carl Sonnenschein, Dietrich Bonhoeffer und Romano Guardini exemplarisch verwirklicht. Und sichtbar wird sie für ihn in der St. Hedwigs-Kathedrale, in der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum (in unmittelbarer Nähe der Hinrichtungsstätte Plötzensee), im Denkmal für die ermordeten Juden Europas, der Katholischen Akademie zu Berlin sowie in der Humboldt-Universität und Guardini: gemeint ist der Versuch, christliches Leben an der früheren sozialistischen Universität zu ermöglichen und an das Erbe Romano Guardinis anzuknüpfen, der dort von 1923 bis 1939 am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und katholische Weltanschauung lehrte.

Selbstverständlich sieht Brose Berlin nicht isoliert, sondern stellt die Entwicklung der Stadt in größere Zusammenhänge. Deutlich erkennbar und schnell auffindbar werden diese in den angefügten statistischen und historischen Übersichten. Besonders verdienstvoll ist, dass ausgewählte Zeugnisse von Carl Muth, Karl Liebknecht, Harry Graf Kessler, Curt Sonnenschein und Kurt Tucholsky abgedruckt und somit leicht auffindbar werden.

Wer zukünftig über den Zusammenhang von Christsein und Großstadt, im Besonderen in Berlin, nachdenkt, kommt an Broses materialreichen und gründlichen Überlegungen nicht vorbei. Als Desiderat bleibt ein protestantisches Gegenstück, eine protestantische Ergänzung zu "Kein Himmel über Berlin". Bei aller ökumenischen Weite bleibt die Darstellung evangelischen Lebens hinter der Schilderung katholischer Frömmigkeitsäußerungen zurück. Dies schränkt Thomas Broses Verdienste nicht ein, sondern sei als weitere Vorarbeit für eine "generelle Theologie der Großstadt" angemahnt.

Thomas Brose: Kein Himmel über Berlin? Glauben in der Metropole. Verlag Butzon & Bercker Kevelaer 2014, 160 Seiten, Euro 19,95.

Jürgen Israel

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Ronald Dworkin: Religion ohne Gott

Ohne Gott?

Auf der Suche nach Antworten
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Dworkins Buch ist weit mehr als eine abstrakte Religionsphilosophie, es ist die existenzielle Suche eines Gotteszweiflers nach religiösen Antworten.

Gibt es Religion ohne Gott? Dieser auf den ersten Blick absurden Frage widmet sich der schmale Band des amerikanischen Philosophen Ronald Dworkin.

Der 2013 verstorbene Professor aus New York formulierte in seiner letzten, hier veröffentlichten Vorlesung die Idee eines "religiösen Atheismus", einer Lebenshaltung, die keines personifizierten Gottes als Gegenüber bedarf und die sich dennoch bewusst auf religiöse Erfahrungen gründet. Die vermeintliche innere Widersprüchlichkeit einer explizit gottlosen Religiosität entpuppt sich als faszinierende Reflexion über eine im Grunde sehr moderne Lebenshaltung.

Dworkin ist ein religiös Suchender, dem es nicht - wie etwa Richard Dawkins - um das rationalistische Sezieren religiöser Phänomene geht. Er kennt die Erfahrung des "Numinosen", und er spricht von der "Schönheit des Universums", die dem Menschen eine Ahnung davon gibt, dass die Welt mehr ist als die Summe von Naturgesetzen und neurologischen Vorgängen. Aber es braucht nach Dworkin nicht zwangsläufig einen persönlichen Gott, um dieses Transzendentale zu begreifen.

Es mutet den christlichen Leser sicher erst einmal überraschend an, das Phänomen Religion von einem Atheisten auf positive und sehr persönliche Weise erklärt zu bekommen, aber genau diese ungewöhnliche Perspektive ist inspirierend. Dworkins Reflexionen sind dicht und anspruchsvoll, wer sich aber die Mühe macht, seinen konzentrierten Gedankenlinien zu folgen, wird viel über eine sehr aktuelle Apologie der Religion lernen.

Dworkin bewertet die theistische - also auf Gott bezogene - Religiosität nicht negativ, er sieht sie schlicht als andere Möglichkeit, die Erfahrung des Unbedingten zu fassen, neben derjenigen ohne persönlichen Gott, der a-theistischen. Anhand eines Zitates von Albert Einstein fasst Dworkin die Haltung des religiösen Atheismus zusammen: "Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestation tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit (...), dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen." Eine religiöse Haltung habe - mit oder ohne Gott - zwei wesentliche Komponenten: Sie halte grundlegende Werturteile für objektiv wahr, etwa dass menschliches Leben sinnhaft und bedeutsam ist. Und sie wisse, dass die Natur, das Universum in all seinen Aspekten, kein reiner Tatsachenzusammenhang ist, sondern in sich erhaben und wertvoll.

Beides kann man in Gott begründet sehen, es gilt nach Dworkin aber letztlich auch ohne die Vorstellung von Gott. Es bedürfe nicht unbedingt einer Vorstellung von Gott, um die unbedingte Wahrheit von Werten zu begreifen. Und es brauche nicht unbedingt die Vorstellung eines Schöpfers, um die "Schönheit" des Universums zu spüren.

Religiöser Atheismus ist so verstanden keine völlig neue Haltung. Im Grunde fanden sich ähnliche Gedanken schon bei Friedrich Schleiermacher, vor 200 Jahren. Mit dem Ziel, Pietismus und Aufklärung zu vereinen, beschrieb dieser Religion als "Gefühl und Anschauung des Universums". Auch Schleiermacher kam zu der Folgerung, dass es für die Religion an sich nicht zwingend eines personalen Gottes bedürfe. Bei ihm aber war die christliche Religion dann doch die höchste Ausformung des Religiösen.

Dworkin hingegen sieht die unbedingte Gültigkeit von Werten aller Religion vorausgehend, der göttlichen wie der gottlosen. Er versteht auch die Offenbarungsreligionen nur als einen möglichen Weg, das Unbedingte der Werte und des Universums zu begreifen und in menschliches Leben zu integrieren.

Dworkin bringt seine Gedanken selbst in einen Dialog mit Philosophie und Theologie. Er zitiert Spinoza und Tillich, reflektiert das Verhältnis von Religion und Vernunft, analysiert den Begriff der Religionsfreiheit im Blick auf sein Verständnis von Religiosität und schließt sein Buch mit einer tiefen Reflexion über Sterben und Tod - gezeichnet von Krankheit, das eigene Ende bereits vor Augen.

So ist sein Buch weit mehr als eine abstrakte Religionsphilosophie, es ist tatsächlich die existenzielle Suche eines Gotteszweiflers nach religiösen Antworten. Das macht es zu einer intellektuellen Herausforderung für alle, die sich - auch als Christen - zeitgenössischer Religiosität stellen wollen.

Ronald Dworkin: Religion ohne Gott. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 146 Seiten, Euro 19,95.

Thomas Prieto Peral

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Foto: privat

Thomas Prieto Peral

Thomas Prieto Peral ist Kirchenrat und Referent für theologische Planungsfragen im Bischofsbüro der Evang.-Luth. Kirche in Bayern.

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Nils Ole Oermann: Anständig Geld verdienen?

Rolle rückwärts

Neue Witschaftsethik
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Wenn es um die Wirtschaft geht, müssen wir über unser Bild vom Menschen reden. Allein wie Oermann dies tut, enttäuscht.

"Eine protestantische Wirtschaftsethik" verspricht der Untertitel dieses Buches, das die gekürzte und aktualisierte Fassung der Habilitationsschrift von Nils Ole Oermann ist. Der Autor bietet aber keine komplette Wirtschaftsethik, sondern versucht, eine spezifisch protestantische Perspektive wirtschaftsethischen Nachdenkens zu begründen.

Dabei sind Oermann besonders zwei Themen wichtig: zum einen, dass immer nur Menschen moralfähig seien – keine Institutionen oder Systeme. Darum frage eine protestantische Ethik nach der Verantwortung des Einzelnen, der nach evangelischem Verständnis zur Freiheit berufen sei. Den ethischen Blick vornehmlich auf Systeme und Strukturen zu richten, beargwöhnt Oermann als Entlastungsstrategie: Kein Verantwortlicher soll sich hinter Strukturen verstecken dürfen.

Zum anderen ist es Oermann wichtig, dass eine evangelische Ethik nicht eigene Forderungen aufstellt, sondern eine bestimmte anthropologische Perspektive in die ethische Urteilsbildung einbringt: Jeder ökonomischen Theorie liege ein Bild vom Menschen zu Grunde, oft aber ein zu reduktionistisches. Theologie könne den Menschen besser verstehen und damit helfen, die ökonomische Wirklichkeit adäquater zu erfassen.

"It‘s the anthropology, stupid", könnte man sagen. Wenn es um die Wirtschaft geht, müssen wir über unser Bild vom Menschen reden. Das ist ein guter und wichtiger Punkt. Allein wie Oermann ihn ausführt, enttäuscht: Der Theologe hat nämlich nur Martin Luther im Gepäck und mit ihm die Einsicht, dass jeder Mensch nach einem letzten existenziellen Ziel strebe. Nun gut, aber müsste man nicht auch klären, wie sich Sozialität und Individualität des Menschen zueinander verhalten, welche Bedeutung Kooperation oder Konkurrenz für sein Leben haben, wie Menschen menschlich arbeiten und wie sie angemessen die Produkte der Arbeit genießen können? Hätte eine zeitgemäße Schöpfungstheologie unter Aufnahme von Einsichten aus vielen anderen Disziplinen dazu nichts zu sagen?

Und müsste man sich dann nicht auch mit dem Bild des Menschen, wie es in den Wirtschaftswissenschaften beschrieben wird, ausführlicher auseinandersetzen? Bei Oermann liest man, dass Adam Smith einem "gesunden self-interest" und nicht einer "exzessiven self-love" das Wort geredet habe. Diese Problembeschreibung wird der zentralen Stellung des Selbstinteresses und den scheinbar endlosen Wünschen des Menschen in der ökonomischen Theorie nicht gerecht.

Am Ende seines Buches will Oermann an einem Beispiel zeigen, "wie stark das individuelle Handeln in der Lage ist, ein ganzes Unternehmen als System zu verändern, und zwar weniger aus den systemintrinsischen Anreizen oder normativen Vorgaben, sondern aufgrund persönlicher Motive". Dazu wählt er die Rolle von Edson Mitchell beim Aufbau des Investmentgeschäfts der Deutschen Bank Ende der Neunzigerjahre. Es ist wenig erstaunlich, dass der Chef den Stil dort prägte.

Aber das klärt noch nicht, ob Mitchell, wie Oermann schreibt, das "Produkt des mikro- und makroökonomischen Spielfelds" war oder aufgrund persönlicher Motive agierte. Und es belegt nicht die These, dass es mehr auf individuelle Verantwortlichkeit ankomme als auf einen vernünftigen Systemwandel. Und: Wenn die Deutsche Bank angeblich "wenig mehr ist als die Summe der Handlungen und Entscheidungen von zwanzig Menschen wie Mitchell", was sagt das über die Verantwortlichkeit der vielen anderen Deutschbanker aus? Verschwindet deren Verantwortung nicht hinter der imaginierten Monstrosität von Mitchell und Kollegen? Nein, die Rolle rückwärts zum anständigen Individuum in der Wirtschaftsethik überzeugt nicht.

Nils Ole Oermann: Anständig Geld verdienen? Herder Verlag, Freiburg 2014, 392 Seiten, Euro 12,99.

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Christoph Fleischmann

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Manfred Gerland: Männlich glauben

Offenheit

Glauben als Mann
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"Männlich glauben heißt: etwas tun und dann vielleicht auch darüber reden."

Dass "Männer sich mit ihrem Lebensgefühl ... immer weniger in ihrer Kirche wiederfinden", wird in den vergangenen Jahren verstärkt wahrgenommen: Die Arbeit mit Männern und für Männer erlebt in den Landeskirchen eine unerwartete Renaissance. Manfred Gerland, Pfarrer für Meditation und geistliches Leben der Evangelischen Bildungsstätte Kloster Germerode in Hessen, nähert sich dem Thema "Männlich glauben" aus unterschiedlichen Richtungen an: Da ist die Erfahrung, sich beim Workshop zum "Sakralen Tanz" und der beginnenden Suche nach einem eigenen körperlichen Ausdruck mit drei Geschlechtsgenossen unter 40 Frauen wiederzufinden; da sind die Beschreibungen gesellschaftlicher Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte und eines Wandels des männlichen Rollenverständnisses, die mit Zahlen unterfüttert werden. Manfred Gerland geht differenziert auf die Unterschiede zwischen Frauen und Männern ein, die sich im Verhältnis zum eigenen Körper, vor allem in den Bereichen Krankheit, auch in der Angst vor Erkrankungen bis hin zu der unterschiedlichen Lebenserwartung der Geschlechter zeigen. Dabei blickt er nicht zuletzt über den Tellerrand der eigenen Religion hinaus - Stichwort: "Männer im Islam".

Natürlich muss er bei seiner spirituellen Suchbewegung auch auf einen Mentalitätswandel in Theologie und Verkündigung - wie ihn der Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf pointiert festgestellt hat - stoßen: die Feminisierung im kirchlichen Raum und die Rückzugsbewegung von Männern. Dazu kämen theologische Entwürfe wie die von Klaus-Peter Jörns formulierte universale Liebesreligion, die verharmlosend sei, weil sie kaum noch etwas mit den Realitäten des Lebens zu tun habe. Und in der Tat werden Männer und auch Frauen mit den Härten und Abgründen des Lebens konfrontiert, stehen sie manchmal vor der Herausforderung, Aggressivität und Lust zu gestalten und Macht- wie Ohnmachtserfahrungen zu verarbeiten. Was bietet Gerland dafür an? Was sind seine spirituellen Impulse für Männer zwischen "Macho"- und "Softie"- Dasein?

Zum einen geht er auf männliche Erfahrungswelten ein: Oft spielten für Männer in ihrem Lebensgefühl Kraft und Vitalität eine wichtige Rolle. Im Drang, handeln zu können, im Tun konkretisiere sich ihr Gestaltungswille. Gerland schildert, wie eine Männergruppe den Vorschlag umsetzt, auf der höchsten Erhebung der Umgebung ein Gipfelkreuz aufzustellen. Als es einige Zeit später darum geht, sich über das Erlebte auszutauschen, sind die Äußerungen zurückhaltend und haben weniger mit dem Glauben und dem Erlebten zu tun als mit dem Ort selbst. Gerlands Fazit: "Männlich glauben heißt: etwas tun und dann vielleicht auch darüber reden."

Zum anderen eröffnet Gerland anhand der Reprobus-/Christophorus-Legende Zugänge zur eigenen Körperlichkeit, zur eigenen Verantwortlichkeit und zur Neuorientierung während der Übergangsphasen auf dem Lebenslauf. Er beschreibt, wie Väter ihre Söhne auf dem Weg ins Erwachsenwerden unterstützen können; Auch die krisenhafte Lebensmitte wie das Altern kommen zur Sprache. Übungen zur Körperwahrnehmung und zur Imagination vertiefen das jeweils Angesprochene.

Ein Abschnitt über Männer, ihre finanzielle Potenz und wie sie für Arme fruchtbar gemacht werden kann, hätte dazu gehören können. Aber auch so hat Manfred Gerland einen überzeugenden Beitrag zur männlichen Selbstbesinnung auf dem Weg zu einer eigenen Glaubenspraxis vorgelegt, der nicht zuletzt durch seinen feinsinnigen Humor und seine persönliche Offenheit berührt. Auch Leserinnen werden davon profitieren.

Manfred Gerland: Männlich glauben. Kreuz Verlag, Freiburg 2014, 176 Seiten, Euro 16,99.

Burkhard Pechmann

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Liao Yiwu: Gott ist rot

Verborgene Heilige

Verfolgte Christen in China
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Verborgene Heilige Verfolgte Christen in China 15 Porträts, die von schier unglaublichen Schicksalen erzählen, von Menschen, die ihre innere Heiterkeit im Glauben bewahrt haben.

Der Dichter und Musiker Liao Yiwu ist als leidenschaftlicher Kritiker des kommunistischen chinesischen Regimes bekannt geworden, der mit seinen "Interviews with People from the Bottom Rung of Society" Menschen am Rand der Gesellschaft Stimme gab. Auf Deutsch erschienen die Interviews unter dem Titel "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser". 2011 gelang Liao Yiwu die Flucht nach Deutschland, wo er 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt.

Seine Neugier auf die christlichen Randexistenzen in der Volksrepublik China wurde geweckt, als er sich nach vier Jahren Gefängnis selbst am Rand der Gesellschaft durchschlug. Er geriet an einen christlichen Arzt, der bei den Armen in den Bergen praktizierte und "unglaubliche Geschichten" zu erzählen hatte.

Das ermutigte Liao Yiwu, seine literarische Tätigkeit wieder aufzunehmen und Menschen aufzusuchen, die dem Regime aus Glaubensgründen widerstanden hatten. Fünf Jahre lang bereiste er Bergdörfer und Städte in den Provinzen Sichuan, Qinghai und Yunnan. Yiwu traf hochbetagte Gemeindeälteste, die Enteignung, Lagerhaft und Hungersnöte überlebt hatten, aber auch die jüngeren Christen, die heute in Untergrundkirchen dem Regime und der inzwischen genehmigten, stark reglementierten Kirche Widerstand leisten.

So sind 15 Porträts entstanden, die von schier unglaublichen Schicksalen erzählen, von Menschen, deren Leben von Entbehrung und Verfolgung bestimmt war, die ihre innere Heiterkeit im "Glauben an den Herrn" aber doch bewahrt haben.

Faszinierend wirken diese Geschichten umso mehr, als es kein bekennender Christ ist, der sie erzählt, sondern ein Poet, kein bürgerlicher Europäer, sondern einer, der die Lebenserfahrung armer und geächteter Chinesen und Chinesinnen teilt. Anfangs wird gefragt: "Ob die Ausländer mit ihren bunten Augen das Vokabular, (...) das uns in Fleisch und Blut übergegangen ist, überhaupt verstehen?"

Tatsächlich gibt sich Liao Yiwu keine Mühe, dem europäischen Blick entgegenzukommen. Man muss schon bereit sein, lesend unversehens bei den Bergbauern in der chinesischen Provinz zu landen und erst allmählich durchzublicken, welche Faktoren das Leben dieser Menschen geprägt haben.

Das ist kein Sachbuch, eher eine Dichtung über "nicht enden wollendes Leiden", unpathetisch, oft lakonisch, dann wieder sehr poetisch beobachtet. Doch entfaltet Liao Yiwu kenntnisreich auch die Geschichte des Christentums in China, angefangen bei den Missionaren, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den verelendeten Bergregionen taten, was die chinesische Regierung versäumte: Sie sorgten für medizinische Behandlung, gründeten Schulen - und lehrten beten. Wer gesund wurde und lesen und schreiben lernte, hatte guten Grund, sich wie zu biblischen Zeiten mit der ganzen Familie taufen zu lassen.

Die kommunistische Revolution verjagte die Missionare und setzte die christlichen Familien dem Volkszorn aus. Das bedeutete "Kampfkritiken", Schläge, Vertreibung und nach der Kulturrevolution das Ganze noch einmal von vorn. Die Christen und Christinnen hörten nicht auf zu beten und das hieß: standzuhalten. Am Ende ist das "europäische Auge" doch gut orientiert in dieser fremden Welt und zugleich verstört, Menschen kennengelernt zu haben, die Unfassliches ertragen haben, ohne verbittert zu sein. Menschen, die einem sehr schlichten Glauben anhängen, der sie in größter politischer Drangsal zum Widerstand befähigt. Menschen, für die das Wort von der "Nachfolge Jesu" viel wörtlicher gilt, als es hierzulande verstanden wird. Ein ganz besonderes Leseerlebnis.

Liao Yiwu: Gott ist rot. Geschichten aus dem Untergrund - Verfolgte Christen in China. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2014, 352 Seiten, Euro 21,90.

Angelika Obert

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King Creosote: From Scotland With Love

Mon Amour

From Scotland With Love
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Großes Kino im Breitwandsound, dabei sehr persönlich, voller starker emotionaler Momente.

Schottische Schlachtenbummler, unüberhörbar! Sie singen, lachen, sie begrüßen euch. Der Junge war noch klein, ein paar Brocken Englisch konnte er schon. Ein europäisches Clubfinale spülte sie vor euer Stadion. Bestimmt Celtic. Dann fällt ein Hüne wie in Zeitlupe vor euch um und schlägt lang hin. Im Kilt, mit Barett und derangiertem Zahnstand, stumm lächelnd geht er sturzbetrunken sachte in die Knie und kippt gefällt nach vorn. Alles gut, sagen seine Freunde dem Kind neben dir. Und singen und trinken weiter. Das vergesst ihr nie. Auch die Tage in Edinburgh nicht, aber das war viel später, wie der Malt, Ian Rankins Rebus-Romane, John Burnsides Gedichte, die Musik von Frightened Rabbit, Malcolm Middleton oder King Creosote, der eigentlich Kenny Anderson heißt. Er kam 1967 in der Unistadt Saint Andrews zur Welt und ist Schottlands produktivster Singer-Songwriter.

Erst spielte er in Bluegrass-Punkbands, seit Mitte der Neuzigerjahre ist er mit einem Mix aus Folk-, Indierock- und Popelementen King Creosote. Sein Markenzeichen ist die junge umschmeichelnde Stimme. Melancholisch, sehnsuchtsvoll, aber fest. Und für sein Talent, in Songs Geschichten zu erzählen, ist er das perfekte Werkzeug. Darum bat Regisseurin Virginia Heath ihn auch, für den Film "From Scotland With Love" Songs zu schreiben. Das 75-minütige Werk zu den Commonwealth Games in Schottland ist ein komplett aus Archivmaterial zusammengeschnittener Dokumentarfilm, der ohne Kommentar auskommt. Den liefern die Songs. Die Aufnahmen aus dem Leben einfacher Leute zeigen Alltag zwischen Werftarbeit und lärmendem Urlaub im Seebad, Streik, Warten auf die Rückkehr der ausgefahrenen Fischer oder Auswanderung. King Creosotes hinzu erfundene Geschichten überblenden kollektive Vergangenheit und mutmaßlich individuelles Erleben. Erste Lyrics, Auswahl- und Schnittprozess befruchteten sich wechselseitig. Die Songs wirken wie ein Zoom und funktionieren zugleich als autonomes Album, das dabei Lust auf den Film macht. Sie sind gleichsam seine Seele.

Ob schmachtende, in leisem Klagen bereits auf die Enttäuschung vorausgreifende Ballade ("Something To Believe In"), ausgelassen klezmernde Polka ("Largs") oder stadiontaugliche Rebellionshymne ("Pauper's Dough") mit dem ergreifenden Refrain: "You've got to rise above the gutter you're inside/Steh' auf aus dem Elend." Eingespielt wurden die nur zur Gitarre geschriebenen Songs mit Pete Harvey (Cello), Pete MacLeod (Bass), Derek O'Neill (Orgel, Klavier, Keyboards), Andy Robinson (Drums) und Kevin Brolly (Klarinette). Backgroundsängerinnen, Streicher und Mädchenchor kamen hinzu. Großes Kino im Breitwandsound, dabei sehr persönlich, voller starker emotionaler Momente. From Scotland With Love - absolut liebenswert!

King Creosote: From Scotland With Love. Domino Records/Rought Trade 2014.

Udo Feist

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Isolde Karle: Liebe in der Moderne

Fundiert

Körperlichkeit als Konstrukt
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Körperlichkeit existiert nicht an sich, sondern ist ein Konstrukt, das durch historische, theologische, philosophische und gesellschaftliche Vorstellungen geformt wird.

Isolde Karle hat in ihrem Buch Liebe in der Moderne eine fundierte Abhandlung über die Themen "Körperlichkeit", "Sexualität" und "Ehe" und ihre Bezüge zueinander vorgelegt. Alle drei Begriffe signalisieren umfassende philosophische, theologische, gesellschafts- und kirchenpolitische Debatten und Kontroversen, die teilweise bis heute nicht befriedet sind. Um zu verstehen, wie diese drei Begriffe zusammenhängen und warum sie bis heute so umfangreiche Streitgespräche auslösen, stellt Karle alle drei Begriffe aus verschiedenen Perspektiven vor, reflektiert sie und fügt ihre eigene Einschätzung hinzu.

Körperlichkeit rekonstruiert sie anhand von kulturellen Körpernormen, gesellschaftlich paradoxen Körperaussagen und von Leiblichkeitsvorstellungen in Theologie, Philosophie und kirchlicher Praxis. Was ihr besonders wichtig ist: Körperlichkeit existiert nicht an sich, sondern ist ein Konstrukt, das durch historische, theologische, philosophische und gesellschaftliche Vorstellungen geformt, verändert und wieder neu zusammengesetzt wird.

Im Hinblick auf den Begriff der Sexualität analysiert Karle empirische Befunde. Sie rekonstruiert die Funktion von Sexualität, zeichnet ambivalente theologische und kirchliche Diskurse über Sexualität nach und verweist auf genderspezifische Dimensionen des Begriffs. Anhand der kontroversen Debatte um Homosexualität zeigt sie den Konstruktionscharakter des "komplementären, keinesfalls überzeitlichen oder biblischen, sondern vielmehr neuzeitlichen Geschlechtermodells" auf. Sie beschließt das Kapitel mit sexualethischen Fragen. Kriterien für verantwortete Sexualität sind Freiwilligkeit, Konsens, Achtung und sexuelle Selbstbestimmung. Diese gelten für alle Sexualpartnerinnen und -partner, unabhängig von deren sexuellen Orientierung. Karle schließt sich hier im Grundsatz der EKD Orientierungshilfe "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit" an, die sexualethische Kriterien ebenfalls unabhängig von der sexuellen Orientierung für alle zugrunde gelegt hat.

Im Kapitel über die Ehe zeigt Karle zunächst gesellschaftliche und biblische Perspektiven auf. Anschließend führt sie ins reformatorische Eheverständnis ein. Danach geht Karle der Funktion der Institution Ehe nach. Dabei streicht sie grundsätzlich die besondere Bedeutung der Ehe heraus, ohne sie dabei zu überhöhen. Die wichtigsten Vorteile der Ehe sind für sie Verlässlichkeit, Sicherheit, Sensibilisierung, gegenseitige Anerkennung und Unterstützung. Diese Vorteile sieht sie allerdings nicht nur im Rahmen der heterosexuellen Ehe gewährleistet, sondern auch in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft. Insofern sollte die Ehe auch gleichgeschlechtlichen Paaren offenstehen, die "sich an ihren Normen der Exklusivität und Verbindlichkeit orientieren". Karle nimmt damit die gängige Prämisse der evangelischen Sexualethik auf, die Sexualität als "Bereicherung von Liebesbeziehungen unabhängig von der Fortpflanzungsfunktion" würdigt.

Auffallend ist, dass Karle der Liebe kein eigenes Kapitel gewidmet hat, obwohl dies der Titel des Buches nahelegt. Liebe ist für sie in die Gesetzmäßigkeiten von Körperlichkeit, Sexualität und ökonomischen Bedürfnissen eingebunden. Insofern kann sie über die Liebe nicht ohne diese Bezüge reflektieren. Karle stellt in ihrem Buch ein Verständnis von Liebe vor, das sie als "Gnade und Segen Gottes" bezeichnet. Es schließt Defizite und Schwächen, Krisen und Scheitern mit ein. Liebe aktualisiert sich danach stets im Zusammenspiel von Körperlichkeit, Sexualität und vorgegebenen Formen, wie zum Beispiel in der Ehe. "Denn der Gefühlshaushalt eines Paares wächst nicht nur von innen nach außen, sondern auch von außen nach innen." Das Buch bietet eine fundierte und spannende Lektüre zum Thema. Es lohnt sich, zu lesen.

Isolde Karle: Liebe in der Moderne. Körperlichkeit, Sexualität, Ehe. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, 256 Seiten, Euro 19,99.

Kerstin Söderblom

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