Max Reger: Drei Motetten

Monstermotetten

Max Regers Opus 110
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Mit dieser Einspielung ist Bernius und den herausragenden Vokalprofis des SWR-Chores ein wirklich großer Wurf gelungen.

Es gibt viele Anekdoten über den Komponisten Max Reger (1873-1916), an dessen 100. Todestag in diesem Jahr gedacht wird (vergleiche zz 5/2016). Die erste erzählte früher unsere Kantorin. Max Reger habe einst an einen Kritiker, der ihm nicht wohlgesonnen war, geschrieben: „Ich sitze in dem kleinsten Raum meines Hauses und habe ihre Kritik vor mir. Bald werde ich sie hinter mir haben …“. Was haben wir gelacht! Und sie erzählte noch eine, die uns Kinder tief beeindruckte: Reger sei in ein Restaurant gekommen und habe dem Kellner gesagt: „Bringen Sie mir bitte zunächst die erste Seite der Speisekarte und dann die zweite Seite der Speisekarte …“. Und schließlich noch die: Einmal spielte ein völlig talentfreies Mädchen Max Reger auf dem Konzertflügel vor. Als ihn die Mutter um ein Urteil bat, meinte er: „Gnädige Frau, ohne Flügel wäre Ihre Tochter ein Engel!“

Diese Schnurren lassen Reger kauzig, geistreich und irgendwie ganz besonders erscheinen, und das gilt erst recht für seine Musik: „Es ist keine Musik, die sich von einem vorherigen Stil ableiten lässt. Reger ist keine Fortführung von irgendetwas, sondern hat einen ganz eigenen und einzigartigen Stil, für den man Zeit braucht“, sagt Dirigent Frieder Bernius über seine neue Aufnahme der „Drei Motetten op. 110“. Dass er und das phänomenale SWR-Vokalensemble sich offenkundig diese Zeit genommen haben, ist in der vorliegenden Neueinspielung beglückend zu erfahren. Souverän und klangschön werden die vielfältigen Konturen und die harmonische Subtilität dieser geistlichen Monstermotetten nachgezeichnet. Besonders die Fugen der beiden siebenstimmigen „Mein Odem ist schwach“ und „Ach Herr, strafe mich nicht“ atmen eine Präzision, die normalsterbliche Laienchöre wohl nie erreichen werden. Und erscheinen die Fugen zunächst auch sperrig, ja mechanisch in ihrer ortlos anmutenden Harmonik, ziehen sie nach mehrfachem Hören unwiderstehlich in ihren Bann. Ganz zu schweigen von den wunderbar aus dem Nichts erblühenden Choralstrophen „Sei du selbst mein Bürge“ und „Ich liege und schlafe“, die als spätromantische Offenbarung erstehen. Die dritte Motette „O Tod, wie bitter bist du“ ist vielleicht für Normalsterbliche am singbarstenund vom flirrenden Einstieg bis zum unsagbar schönen Rückung nach Dur am Schluss („O Tod wie wohl tust du…“) ein weiterer Höhepunkt.

Mit dieser Einspielung, die zusätzlich noch die großangelegte Passionskantate „O Haupt voll Blut und Wunden“ enthält, ist Bernius und den 35 herausragenden Vokalprofis des SWR-Chores - der Komponist selbst führte die Erlöser-Motetten 1910 in Dortmund mit 256 Sängern, allerdings Laien, auf - ein wirklich großer Wurf gelungen. Hoffentlich kann Max Reger sie auch hören, wo immer er sich in seinem 100. Todesjahr befinden mag …

Reinhard Mawick

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Martin-Michael Passauer (Hg.): Begegnungen mit Gottfried Forck

Differenziert

Kirchlicher Zeitzeuge
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In ihrer Gesamtheit sind die Aufsätze so vielfältig wie die Wirksamkeit Gottfried Forcks.

Der entpersonalisierten Geschichtsschreibung zum Trotz gibt es historische Persönlichkeiten, in denen sich historische Entwicklungen verdichten - anhand derer Geschichte nachvollzogen werden kann. Eine dieser Persönlichkeiten für die neueste Kirchengeschichte ist Gottfried Forck, seit 1981 letzter Bischof für die Ost-Region der Berlin-Brandenburgischen Kirche. Dies macht der jüngst erschienene Sammelband, herausgegeben von Martin-Michael Passauer, deutlich. Indem er dem Bilde Forcks durch vielfältige Beiträge - von Forcks Fahrer bis hin zu seinen Amtsnachfolgern, Wolfgang Huber und Markus Dröge - Farbe verleiht, ergänzt er die bereits 2009 erschienene Biografie Den Menschen eine Stimme geben von Christian Sachse.

Die Erinnerungen - etwa des Diakons Michael Heinisch - machen nicht nur deutlich, wie Forck die Lebenswege vieler Protestanten in der DDR positiv beeinflusste. Sie zeichnen zudem das Bild eines profilierten Theologen - so Heino Falcke über den Luther-Forscher Forck - und gegenüber dem Regime standhaften Christen - so sein Weggefährte Manfred Stolpe - nach. Es ist den prominenten Autoren zu danken, dass es ihnen gelungen ist, sich auf Forck und seine historische wie persönliche Bedeutung zu fokussieren, und ihn nicht als Aufhänger für selbstzentrierte Reflexionen zu gebrauchen. In ihrer Gesamtheit sind die Aufsätze so vielfältig wie die Wirksamkeit Gottfried Forcks.

Auf der einen Seite stehen liebenswerte Anekdoten über persönliche Begegnungen - dabei ist es faszinierend zu beobachten, wie sich aus immer wiederkehrenden Beobachtungen ein spezifisches Forck-Narrativ entwickelt: Forck trägt solidarisch das „Schwerter zu Pflugscharen“-Symbol auf der Aktentasche; Forck hilft anderen Bischöfen in den Mantel; Forck schenkt auf Sitzungen sich selbst und anderen Kaffee ein… Auf der anderen Seite stehen Aufsätze, die - wie etwa Friedrich Winters Beitrag über den Synodalen Gottfried Forck - sein kirchenpolitisches Wirken akribisch nachzeichnen.

Dabei kommt es seitens der Verfasser nicht zu einer Harmonisierung und Glättung des Bildes, das sie von ihren Begegnungen mit Forck vermitteln. Werner Reihlen, Präses der wiedervereinigten Landessynode, schreibt offen über Differenzen mit Forck in friedensethischen wie politischen Fragen und über seine Kritik an der Teilnahme des Bischofs an einer Bonner Großdemonstration gegen den Golfkrieg 1991. Und Amtsbruder Martin Kruse reflektiert selbstkritisch über einen öffentlichen Briefwechsel mit Forck 1986 zum Gedenken an den Mauerbau: Dieser habe - entgegen der Intention beider Theologen - zu Verstimmungen in BRD und DDR geführt.

Von der Gesamtheit der in sich und untereinander stimmigen Beiträge heben sich die Erinnerungen von Hans Modrow an das Ende der DDR in bedenklicher Weise ab. Im Duktus über historiografische Verzerrungen aufklären wollend, tritt der Ex-SED-Funktionär an die Leser heran: „So mancher schmückt sich mit Lorbeer, den er sich später organisiert hat, und andere, die mit sich gerungen, aber wichtige Zeichen gesetzt haben, geraten in Vergessenheit.“ Letztlich werden dabei die Erinnerungen an Forck zur Folie für eine verbitterte Abrechnung mit dem gesamtdeutschen Umgang mit der DDR-Geschichte. Dabei fehlen Vergleiche zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit und westlichen Geheimdiensten ebenso wenig wie ein Exkurs in die Totalitarismustheorie.

Da Hans Modrow jedoch nur einer von über dreißig Autoren ist, trübt sein Beitrag kaum den Gesamteindruck des Buches und den Blick, den das Buch eröffnet: auf einen zentralen Akteur der kirchlichen Zeitgeschichte und seine Verflechtung in das Schicksal der Kirche in der DDR.

Tilmann Asmus Fischer

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Konono N°1: meets Batida

Klanglabsal

Geist und Ungeist
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Es spricht und wirkt die spannungsvolle Schichtung von Klang und Rhythmus, die packt.

Trance, oft drogenbefeuert, ist nun bereits im dritten Jahrzehnt programmatischer Fluchtpunkt etlicher Elektro-Spielarten. Wenn aktuell mehr Afro-Electro-Musik in unsre Wahrnehmung gerät (siehe zz 10/2015: Mbongwana Star), kommt die Trance also gleichsam nach Hause, spielen doch deren Trommelmuster und Rhythmen seit Jahrtausenden eine zentrale Rolle bei Geisterbeschwörung und Induzierung von Trance, in der jene begegnen. Wir haben zwar nicht die Begabung für Trance wie sie, die sei angeboren, sagt Westafrika- und Voodoo-Forscher Henning Christoph, aber stumpf sind wir jedenfalls nicht. So fahren uns die Tracks „Tokolanda“ und „Um Nzonzing“ des Albums „Konono N°1 meets Batida“ auch gleich in Bauch, Beine, Po und verwirbeln den Geist. Einnehmend sind ebenfalls die sexuellen Implikationen, die im Wechsel von Männer- und Frauenstimmen entstehen, ob absichtlich oder nicht entzieht sich mangels Sprachverständnis der Kenntnis. Es spricht und wirkt die spannungsvolle Schichtung von Klang und Rhythmus, die packt.

Den Sound der bereits in den Sechzigerjahren in Kinshasa gegründeten Band prägt die virtuos gespielte Likembe, das auch Daumenklavier genannte Lamellophon. „Congotronics“ war ihr erstes Album, das 2004 bei uns erschien. Die hypnotische Kraft von elektrisch verstärkten Likembes und wilder Rhythmusgruppe faszinierte. Krachend, scheppernd, groovy, zugleich urban-modern und archaisch. Trance als Abfahrt. Und willkommen. Das war in kirchlichen Kreisen, besonders in pietistisch geprägten, lange anders: So manche, die nun begeistert Aktivist in der Gospel- und Poporatorien-Bewegung sind, waren in der Jugend zur Hochzeit des „Gemeindetag unter dem Wort“-Kulturkampfes mit schrillen Verboten konfrontiert. Es gab Rock- und Pop-Warnungen und offene Verteufelung. Trance- und Sündenangst, die man verschwurbelt damit begründete, dass „schwarze Musik“, in Pop-, Rock- und Jazz-Formaten getarnt und über England und die USA importiert, mit Körperrhythmen und bös verführerischen „blue notes“ die Seelen verderbe oder gar raube. Welcher moralisierende Dreisatz auch dahintersteckte - ihren Weg aus derlei Verdammung haben viele Jugendliche gefunden. Einfach war das oft aber nicht.

Insofern gelte das aktuelle Konono N°1-Album hier nun als nachträglicher symbolischer Post-Exorzismus für einen Geist, der hoffentlich gebannt bleibt. Doch die Menschen sind leider nicht so. Unter dem Einfluss expandierender Pfingstkirchen werden in Westafrika inzwischen nämlich wieder Frauen als Hexen verbrannt. „Konono N°1 meets Batida“ steht insofern für sich und allenfalls das, was wir daraus machen.

Udo Feist

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Hans Woller: Mussolini

Anders als Hitler

Erhellende Biographie des „Duce“
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Auch Mussolini war ein Verbrecher, nicht nur ein grimassierender Schwadroneur.

Benito Mussolini steht im Schatten Adolf Hitlers. Zu monströs sind die Verbrechen, die der deutsche Diktator und seine Spießgesellen begangen und zahlreiche Deutsche geduldet haben. Da wirkt Mussolini harmlos. Aber auch er war ein Verbrecher, nicht nur ein grimassierender Schwadroneur. Das zeigt Hans Woller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, in seiner klar und flüssig geschriebenen Biographie. War Hitler eine gescheiterte Existenz, war Mussolini nach Wollers Urteil ein „gewandter Schreiber mit beträchtlichem Bildungshorizont“. Doch schon als Sozialist benutzte er, in Artikeln wie im 1910 erschienenen Roman Die Geliebte des Kardinals, „antijüdische Stereotype“, die „aus dem Fundus des katholischen Antijudaismus stammten“.

Anders als bei Hitler war der Antisemitismus aber nicht Kern der Weltanschauung, sondern diente Mussolini als Mittel zum Zweck. Er hatte jüdische Geliebte, und eine Zeit lang durften Juden der Faschistischen Partei angehören und politische Ämter bekleiden. Das wäre im „Dritten Reich“ undenkbar gewesen. Ab den Zwanzigerjahren nahmen antisemitische Aktionen in Italien zu, steigerten sich nach der „totalitären Wende“ von 1935 und erreichten einen ersten Höhepunkt mit den Rassegesetzen von 1938, die die Juden entrechteten. Aber ermordet wurden italienische Juden nicht von den Faschisten, sondern von den Nazis, nachdem Mussolini 1943 gestürzt worden war und die Deutsche Wehrmacht das Land besetzte. Der verbrecherische Charakter des Mussonlinifaschismus offenbarte sich deutlich bei seinen Kriegen in Afrika. Sie eskalierten bis zum Völkermord, erinnert Woller. Er widerlegt die Legende, Mussolini habe unter deutschem Druck antisemitisch agiert. In den Zwanzigerjahren machte der „Duce“ die Juden für den Antifaschismus verantwortlich. Nach der Einverleibung Abessiniens 1936 wurden ihm „Reinheit“ und „Verbesserung“ der „italienischen Rasse“ wichtig. Und die Juden verkörperten für den Diktator den „bürgerlichen Geist“, der der Züchtung eines kriegerischen „neuen Menschen“ im Wege stand.

In Deutschland gab es am 30. Januar 1933 keine „Machtergreifung“ der Nazis. Vielmehr ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler. Und Ähnliches war elf Jahre zuvor in Italien geschehen. Der König trug Mussolini das Amt des Ministerpräsidenten an. Ein „Marsch auf Rom“ hat dagegen, wie Woller zeigt, „nicht stattgefunden“. Mussolini fuhr im Nachtzug in die Hauptstadt, und die fünftausend Faschisten, die sich nach Rom aufgemacht hatten, blieben vom „Dauerregen zermürbt“ in „Schlamm und Sumpf“ stecken. Wer Wollers Buch liest, erfährt viel Neues über den „Duce“ und ein Kapitel italienischer Geschichte, das auch für Deutschland Bedeutung gewann. Zuerst dienten die Faschisten Hitler und den Nazis als Vorbild. Und am Ende führten sie gemeinsam Krieg. Dem Leser wird auch bewusst: Feinde der Demokratie müssen rechtzeitig bekämpft werden, mit allen Mitteln, die dem Rechtsstaat zur Verfügung stehen. Der italienische König und die herrschenden bürgerlichen Schichten hätten den Faschismus mehrmals aufhalten können, zumal Mussolini immer wieder zauderte.

Im letzten Kapitel erzählt Woller von einem Besuch in Predappio, wo Mussolini geboren wurde und beerdigt ist. Er kritisiert, dass es in dem Wallfahrtsort der Neofaschisten keine Dokumentation über den Faschismus gibt und erinnert daran, dass die „zahlreichen Verbrechen“ des Regimes bis heute „ungesühnt“ geblieben und „nie angemessen thematisiert“ worden sind. Die Lektüre dieses Buches lohnt sich. Nur das abstoßende Foto mit den geschändeten Leichen Mussolinis und seiner Geliebten Claretta Petacci hätte der Verlag weglassen sollen.

Jürgen Wandel

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Hamed Abdel-Samad: Mohamed

Selbstprojektion

Mohammed: Eine Biographie
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Das Buch ist mehr als die bloße Selbstdarstellung eines der Psychiatrie noch einmal Entronnenen.

Von ein paar Eckdaten abgesehen, haben wir keine Ahnung, wie das Leben Mohammeds tatsächlich verlaufen ist. Die Geschichte hat zur Genüge gezeigt, dass jede Rekonstruktion seines Lebens mehr über den Forscher selbst als über den Erforschten verrät.

Die ältesten Biographien sind viele Generationen nach dem Tod des Propheten entstanden unter dem Eindruck und als Reflex der überaus erfolgreichen Expansion des Islams. Es gibt zahllose Berichte dessen, was Mohammed angeblich gesagt und getan hat - insgesamt Stoff für mehrere Leben, wenn sie alle echt wären. Mit einem Wort: Auch jede heutige „Biographie“ des Propheten ist ein gutes Stück Projektion des Autors.

Im vorliegenden Fall sogar ein besonders großes Stück. Hamed Abdel-Samad sagt eingangs selbst: „Mohamed (M.) als historische Persönlichkeit, seine Taten und Worte sind eine Projektionsfläche, die nach Belieben gefüllt werden kann. Jeder kann daraus machen, was er will, um darin eine Bestätigung und Legitimation dessen zu finden, wonach er trachtet und wer er ist. Es kommt also ganz darauf an, wonach man sucht, wenn man in M.s Biographie und im Koran oder den Hadithen stöbert. Um im Bild zu bleiben: Man kann die Karte des gütigen M.s ziehen und ausspielen, aber auch die des Monsters.“ Kein Zweifel: Der Autor spielt die Karte des Monsters aus - und sichert sich alle Aufmerksamkeit der Welt. Denn Monster erhalten größere Schlagzeilen als Friedensstifter. Aber das ist nur ein angenehmer Nebeneffekt. Primär geht es dem Autor um eine persönliche Abrechnung, wie es im Untertitel heißt. Wer nur ein wenig über Abdel-Samads leidvolles Leben Bescheid weiß, wie er es selbst in „Mein Abschied vom Himmel“ 2009 berichtet hat, dem zeigt sich die Darstellung Mohammeds als eine Selbstprojektion des Hamed Abdel-Samad. Auch macht es die völlig unübliche und nirgends im Buch begründete Streichung des mittleren „m“ im Namen des Propheten verständlich: „Mohamed“ ist ein Spiegelbild des „(Mo-)Hamed“. Der Prophet sei ein Außenseiter gewesen, ein Gedemütigter, der lange um Anerkennung kämpfen musste.

Das gilt auch für Hamed. In erster Ehe mit einer wesentlich älteren Frau verheiratet - der Autor auch. Ein psychisch Gestörter mit Wahnvorstellungen, Suizidneigung und dergleichen mehr - der Autor auch. Dennoch ist das Buch mehr als die bloße Selbstdarstellung eines der Psychiatrie noch einmal Entronnenen. Überhaupt ist es etwas besser als sein Ruf in der islamischen Community, die es entweder als Pamphlet oder als quasi blasphemisch abtut. Quasi deshalb, weil Mohammed, bei aller Verehrung, natürlich weder Gott selbst noch der Dreh- und Angelpunkt des Islams ist. Oder doch? Das ist eines der Kernprobleme, das der Autor mit Recht anspricht: dass der Islam zu einer Art Mohammedanismus verkommen sei. Dass der Prophet so überidealisiert werde, dass die Religion kritik- und reform-unfähig werde. Zu den unbestreitbaren Eckdaten im Leben Mohammeds gehört seine Radikalisierung in Medina - sei es gegenüber den jüdischen Stämmen, sei es in den Konflikten mit den mekkanischen Gegnern, sei es in seiner Haltung gegenüber Frauen. Darin war der Prophet eben nicht nur Kind seiner Zeit, sondern, so der Autor, schlimmer als seine Zeitgenossen. Ja, wäre er nur Kind seiner Zeit geblieben. Doch der Autor beklagt: Mohammed sei zwar vor 1?400 Jahren gestorben, aber er sei nie wirklich begraben worden. Er herrscht noch immer und ist Vorbild für zahllose Muslime, friedliche wie gewaltbereite. Faktisch gibt es viele Mohammed-Bilder in der islamischen Welt, und das hier gezeichnete gehört nicht zum Mainstream. Die Frage nach dem „richtigen“ Mohammed-Bild lässt sich ohnehin nie beantworten. Das ist auch egal. Denn der Mittelpunkt des Islams ist gerade nicht der Prophet, sondern Gott und seine Barmherzigkeit, die der Koran zu betonen nicht müde wird.

Martin Bauschke

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Ursel Scheffler: Die Kinderbibel

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Thomas Söding: Nächstenliebe / Oda Wischmeyer: Liebe als Agape

Erfrischend

Nächstenliebe zweimal neu
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Ist das Thema Nächstenliebe nicht abgegriffen? Schon ein flüchtiger Blick in die Bücher belehrt uns eines Besseren.

Gleich zwei Bücher zur Liebe in einem Jahr, genau genommen zur Nächstenliebe, wie man den im Neuen Testament dominant verwendeten griechischen Begriff „agape“ übersetzt – zum einen Nächstenliebe von Thomas Söding, und Liebe als Agape von Oda Wischmeyer. Ist das Thema nicht abgegriffen? Schon ein flüchtiger Blick in die Bücher belehrt uns eines Besseren. Für den fachfremden Leser ebenso wie für Insider ist die Lektüre gleichermaßen bildend wie erfrischend. Auf je eigene Weise gelingt es beiden Autoren zum Zentrum der neutestamentlichen Ethik vorzustoßen und dabei vielfältige Anregungen für den gegenwärtigen Diskurs zu geben.

Die evangelische Neutestamentlerin, Oda Wischmeyer, und der katholische Neutestamentler, Thomas Söding, wissen, wovon sie schreiben. Beide sind seit vielen Jahren Experten in Sachen Nächstenliebe des frühen Christentums. Und gerade das macht ihre Bücher besonders wertvoll. Hier werden reife Früchte langer Denkprozesse mit profunder Quellenkenntnis und in der Souveränität weiser Elementarisierung präsentiert. Dabei verbindet beide Bibelwissenschaftler eine ähnliche Leidenschaft: Sie wollen „die fundierenden Texte des Christentums (…) in die gegenwärtigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten“ bringen (Wischmeyer) und dabei das „Herzstück christlicher Ethik“ (Söding) wieder neu zum Schlagen und Leuchten bringen.

Dass dies eigens betont werden muss, liegt an der eigenartigen Tendenz in Theologie, Kirche und Bibelwissenschaft, sich vom Fremden, wie zum Beispiel von Plutarchs Dialog über die Liebe, oder Kristevas psychoanalytischem Liebesbegriff oft mehr angezogen zu fühlen als von den Schätzen der eigenen Tradition. „Die Nächstenliebe ist im gesellschaftlichen Ethikdiskurs sprachlich und sachlich auf das fromme bzw. kirchlich-caritative Abstellgleis geschoben worden“, schreibt Oda Wischmeyer.

Dabei erliegen die Autoren aber keineswegs der Gefahr, das Pendel zu stark ins Extrem frühchristlicher Isolation zu bewegen. Beide Bücher sind bemüht, die historischen Kontexte des Liebeskonzepts auszuleuchten. Das Liebesgebot stammt aus der Bibel Israels und erfreut sich in frühjüdischer Zeit allgemeiner Beliebtheit. Dies kann uneingeschränkt anerkannt werden, ohne deshalb den Befund relativieren zu müssen, dass die Nächstenliebe bei Jesus, Paulus und in 25 (von 27) Schriften des Neuen Testaments eine zentrale Bedeutung erlangt, die weit über die Umwelt und jüdischen Wurzeln hinausgeht. „Im Ganzen ist das Neue Testament ein Buch der Nächstenliebe“, so Söding.

Söding wählt dann auch eine kanonische Herangehensweise: Nach einem einleitenden Teil und einem eigenen Kapitel zum „barmherzigen Samariter“, dem Beispiel-Gleichnis der Nächstenliebe im Lukasevangelium, werden die verschiedenen Schriften und Schriftengruppen des Neuen Testaments (Johannesevangelium, Paulus, Jakobusbrief) je eigens untersucht. Besonders lesefreundlich ist dabei die stets gleiche Vorgehensweise unter sieben Leitfragen: Wer ist der Nächste? Was ist Nächstenliebe? Wie zeigt sich die Nächstenliebe? Wer fordert die Nächstenliebe? Wer ist zur Nächstenliebe gerufen? Wie verhalten sich Nächstenliebe und Selbstliebe zueinander? – und: Welchen Stellenwert hat die Nächstenliebe? Auf diese Weise wird die jeweilige Akzentsetzung verschiedener Schriften wie „Feindesliebe“ bei Matthäus oder „Liebe als Tugend“ bei Petrus/Judas herausgearbeitet, ohne die Einheit dieser Vielfalt bezogen auf das Neue Testament aus dem Blick zu verlieren, die im abschließenden Kapitel auch nochmal anhand der Leitfragen zusammengefasst wird. Wischmeyer entscheidet sich eher für einen systematischen Ansatz, der zwar auch dem Profil einzelner zentraler frühchristlicher Einzelschriften und -texte sogar über den Kanon hinaus entspricht. Aber ihre Intention ist es primär, „das Liebeskonzept des Neuen Testaments so neu dar(zu)stellen, dass es sich in der aktuellen Diskussion um Liebe Gehör verschaffen kann“. Hierbei werden zum Beispiel die sprachlichen und literarischen Formen, wie Metaphern und Erzählungen, oder die „Koordinaten des Liebeskonzepts“, wie Subjekte und Beziehungen, feinsinnig herausgearbeitet. Besonders anregend sind Kapitel 5 „Gegenentwürfe“ und Kapitel 6 „aktuelle Entwürfe“, in denen das neutestamentliche Konzept von Liebe in Beziehung zu zeitgenössischen antiken, wie auch zu aktuellen kulturwissenschaftlichen Ansätzen gesetzt wird.

Beide Bücher zeigen viele Übereinstimmungen, aber auch manche Akzentverschiebungen, die zum weiteren Nachdenken anregen. So möchte Wischmeyer zwischen Eros und Agape eine scharfe Trennungslinie ziehen, während nach Söding die Agape-Liebe den Eros und die Freundschaft einschließt. Arbeitet Söding vorrangig die ethische Dimension der Nächstenliebe heraus, so bemüht sich Wischmeyer immer wieder, die theologische, soziale und institutionelle Dimension des Agape-Konzepts zu betonen, was auf die unterschiedlichen konfessionellen Hintergründe hindeuten mag.

Ein echtes Highlight bietet Wischmeyer im Schlusskapitel ihres Buches, in dem das neutestamentliche Konzept ins Gespräch mit Entwürfen aus der Soziologie, der Psychoanalyse, der Philosophie und Ethik gebracht wird. Sie verschafft damit einer Stimme im Konzert der interkulturellen Debatten Gehör, die in der Tat „eine religiöse, intellektuelle und ethische Herausforderung (darstellt), sowohl an andere Religionen im globalen Maßstab als auch an eine westliche Kultur, die sich als postreligiös definiert“.

Durch die unterschiedlichen Ansätze haben beide Bücher einen komplementären Wert, der den aktuellen Stand zur Liebesethik des Neuen Testaments durch eine gut lesbare Darstellung einem breiteren Publikum erschließt und den interkulturellen Dialog vom – oft vergessenen – biblischen Zentrum christlicher Agape-Kultur her bereichert.

Ruben Zimmermann

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Spain: Carolina

Danke, liebe Antifa!

Spain: Carolina
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Hilft gegen die Melancholie danach:Purer Marta-Sound aus Folk, Country, Blues und Slowcore, also entschleunigt.

Es war heiß beim „Tag der deutschen Zukunft“ am 4. Juni 2016 in Dortmund. 1?000 Nazis aus dem gesamten Bundesgebiet hatten so ihren Marsch durch die Ruhrmetropole betitelt. Der Schweiß indes, der danach noch floss, war rot vor Wut, weil sich wieder mal die Falschen feierten. So lobte die Polizei den Protest von Gewerkschaften und Kirche als „friedliches, kreatives und äußerst beeindruckendes Zeichen. Mit bis zu 3?000 Teilnehmern bewegte sich der Aufzug nach Dorstfeld. Hier konnten die Teilnehmer die Rechtsextremisten mit einem gellenden Pfeifkonzert und ‚Nazi-Raus‘-Rufen belegen.“ Die lachend vorbeizogen. Dass sie dabei nach zwei Stunden Schmoren vor Gittern in placker Sonne nicht in Gefahr gerieten, hatten sie 3?000 anderen zu verdanken, die aber im Polizeisprech als Gewalttäter firmieren. Der Antifa. Sie kam, um zu blockieren. Polizeilob gab für sie keins: „Dieses können 3?000 Linksautonome nicht für sich in Anspruch nehmen. Seit dem Vormittag hatten mehrere hundert Linksautonome versucht, Sperrstellen anzugreifen und zu überrennen.“

Tja, so ist nun mal das Geschäft. Ohne Antifa hätte die Politiker nicht 5?000 Beamte aufgefahren und den Spuk ohne Publikumskontakt durch teils gähnend leeres Gewerbegebiet geführt. Wasserwerfer, Räumpanzer und 200 Polizisten vor und hinter der Brut, dazu mehrere 100 rechts und links von den Totschlägern, die man aber bei Stopps smart zu Eisdielen passieren ließ, während Reporter stets die Ausweise zücken mussten und abgedrängte Antifas munter gepfeffert wurden. Die Kirche hält sich derweil ans lukanische Fehlurteil und verachtet Marta, die bloß diente (Lukas 10, 38–42).

Was das mit Musik zu tun hat? Wut muss ja gebändigt werden, erst mal mit rotzig Flottem wie „Love Me Two Times“ der Doors etwa. Doch gegen die Melancholie danach hilft eher „Carolina“ der Band „Spain“ um Bassist Josh Haden, Sohn von Jazz-Legende Charlie Haden. Purer Marta-Sound aus Folk, Country, Blues und Slowcore, also entschleunigt. Mit Gitarre, Pedal Steel, Bass, Piano, Geige, verhaltenen Drums, wie es passt. Dazu die sehr an den frühen Neil Young erinnernde Stimme. Cool, selbstbewusst, auf Gefühl und alte Geschichten fixiert, man könnte auch sagen: Werte. Auf Gastfreundschaft etwa wie Marta und Antifa, nämlich für Migranten, Schwule, alternative Jugendliche oder Normalos, die nachdenken. Für alle, die von 5?000 Polizisten in Dortmund abgeschirmte Nazis wieder durch Kamine schicken wollen. Wer nun staunt, höre das Album oder lese Sebastian Lebers Tagesspiegel-Artikel „Danke, liebe Antifa!“ vom 24. Januar 2014 nach. Bitter-sweet heißt es da: „Hinterher werden stets die Bürger gelobt, die sich im Kreis an den Händen festhielten.“ Marta-Verächter, die es zu Füßen des Herrn bequem haben. Zum Glück geht’s auch anders.

Udo Feist

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Nadja Tolokonnikowa: Anleitung für eine Revolution

Polizisten küssen

Punk-Feminismus
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Das Buch ist Bericht, Kampfschrift, Gedankenspeicher und Pamphlet zugleich, aber auch Rechenschaft über Nadjas Weg in die Gegnerschaft zu Putins System.

Obszön macht sich die orthodoxe Kirche in Russland mit dem Regime von Autokrator Wladimir Putin gemein. Priester, die mit unrechtsverdrossenen Bürgern fraternisieren, werden gemaßregelt, jene mit Beihilfe der Kirche in Lager gesteckt wie die 1989 geborene Nadja Tolokonnikowa. Sie hatte die löbliche Frechheit, Kirche und Regime auf der Nase herumzutanzen. Nadja gehört zur Aktionskunst-Gruppe „Pussy Riot“, die in einem sonst oft und gern an Reiche und Einflussreiche vermieteten Saal der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale 2012 das „Punk-Gebet“ inszenierte.

Auch davon erzählt ihr Buch Anleitung für eine Revolution. In 200 kurzen und sehr kurzen Kapiteln ist es ein aufwühlendes Fanal von einer, die weiß, was das kostet: „Sprich, halte Reden, schreibe Texte bis zum Letzten. Denn es gibt nur einen Weg, dieses ungleiche Duell zu gewinnen: durch Denken, Fühlen und Aufrichtigkeit. Klingt selbstsicher.

Aber was bleibt dir außer Selbstsicherheit, wenn du dich mit 22 Jahren plötzlich in Opposition zum staatlichen Machtblock wiederfindest, der schon ganz andere mal eben zu Pulver verarbeitet hat?“ Zwei Jahre im sumpfigen Mordwinien, das schon seit Stalin eine Lagergegend ist, hat sie bekommen. In gnadenlosem Akkord 16 bis 20 Stunden am Tag, ohne Wochenenden musste sie Polizeiuniformen nähen. Bittere Ironie: Eine ihrer Polit-Aktionen war es, Polizisten zu küssen.

Statt Gewalt sind Erfindungsgeist und Nonsense, schöpferische Arbeit, Streben nach Erkenntnis und Freiheit Motto und Motor ihres Enthusiasmus. Die Anleitung für eine Revolution ist Bericht, Kampfschrift, Gedankenspeicher und Pamphlet zugleich, aber auch Rechenschaft über Nadjas Weg in die Gegnerschaft zu Putins System. Aufgewachsen in Sibirien, mit 16 Studentin der Philosophie, im Umfeld der feministischen Riot-Grrrl-Bewegung, dann Aktivistin in einem Staat, der Angst vor dem Lachen hat, wie sie schreibt. Notgedrungen konspirativ, kreativ und unerschrocken treten sie und Gleichgesinnte für Freiheit und Gerechtigkeit ein – Werte, auf deren Seite man sich auch die Kirche wünschte.

Es rührt zu lesen, wie Nadjas Vater und ihre kleine Tochter ihre Leidenschaft für kindliche anarchistische Freiheit teilen, nicht als einzige. Sie erzählt, dass sie Polizisten traf, sogar aus den Sondereinheiten, die hinter vorgehaltener Hand Respekt bezeugten und Solidarität, was Nadjas Glauben stärkt, dass es in der chauvinistischen Gesellschaft noch mehr Potentiale gibt, die es zu wecken gilt. Aktuell kämpft sie für menschliche Zustände im Lager- und Gefängnissystem, das sie selbst erlitt. Beschwörende „Strand-unter-dem-Asphalt“-Sentenzen in der „Anleitung für eine Revolution“ sind insofern ohne jeden Verdacht auf Klischee. Nadjas eigene Geschichte gliedert das Buch nur grob chronologisch, im Vordergrund steht die Sache, für die sie begeistern will. Mutig, fehlbar, quicklebendig und herrlich freiheitsverliebt.

Provokant, aber schlüssig ist, wie sie dabei Maria und Eva für den Kampf um Freiheit und Gleichheit reklamiert. Ein buntes anregendes Buch mit überzeugendem „Sei dir selbst treu!“, das Nadja dem lastenden Unrechtsgrau entgegenwirft.

Töchtern und Söhnen sollten wir es schenken, uns selbst erst recht – und ihr trauen, denn: „Punk-Kultur, Dichtung und die verdammte Literatur haben uns gelehrt, dass Mäßigung und Zurückhaltung oft die falsche Wahl sind.“

Udo Feist

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Weitere Rezensionen

Martha Argerich: Chopin

Endlich auf Platte

Legendäres aus der Abbey Road
Bild
Warner Classics hat den 75. Geburtstag der Pianistin Martha Argerich zum Anlass genommen, um etwas längst Überfälliges zu tun.

Auf dem Cover der neuen Argerich-Schallplatte (Schallplatte, jawohl!) sieht man La Martha als junge Frau am Flügel. Ein schlichtes, weiß gepunktetes Kleid, die Augen geschlossen, die Hände auf dem Schoß. Ein wunderschönes Bild. Aber sie sieht doch ganz anders aus heute, Martha Argerich, gerade 75 Jahre alt geworden. Chopin, steht auf dem Cover, und: „The legendary 1965 recording“: Warner Classics hat den Geburtstag zum Anlass genommen, um etwas längst Überfälliges zu tun. Argerich, damals frisch gekürte Preisträgerin des Warschauer Chopin-Wettbewerbs, hatte in den berühmten Abbey-Road-Studios Chopins b-moll-Sonate aufgenommen, außerdem die Mazurkas 36 bis 38, die Nocturne Nr. 4, das Scherzo Nr. 3 und die Polonaise Nr. 6. Die Aufnahmen blieben unveröffentlicht, weil vertragliche Verpflichtungen zu einer anderen Plattenfirma übersehen worden waren.

Erst 34 Jahre danach kann man sich selbst ein Urteil bilden, als die Abbey-Road-Sessions auf CD erschienen. Und nun, Anno 2016, kann der Musikfreund sie endlich auf dem Medium hören, für das sie eigentlich gedacht waren, dem Vinyl. Natürlich, wie es sich gebührt, in einer 180-Gramm-Edelausgabe mit Klappcover. Hätten sich die Plattenfirmen in den Achtzigerjahren solche Mühe mit der LP-Produktion gegeben, wäre uns der unselige Siegeszug digitaler Klangformate vielleicht erspart geblieben.

Die Londoner Aufnahme ist tatsächlich fantastisch. Im leisen Part des Scherzos meint man zu sehen, wie die Hämmer auf die Saiten tupfen, zu spüren, wie der Klang das Holz des Flügels in Schwingung versetzt. Heutige Produktionen haben mehr Brillanz und Trennschärfe, aber sie wirken mitunter auch kalt, nicht greifbar. Ganz anders hier: Das ist purer Klang, ganz und gar natürlich. Menschlich.

So wird die Schallplatte zur hautnahen Begegnung mit einer außergewöhnlichen Künstlerin, die damals den ersten Gipfel ihrer Karriere erklommen hatte. Eine jugendliche Unbekümmertheit paart sich mit den Erfahrungen einer Frau, die mit 24 bereits eine mehrjährige Krise überwunden hatte. Vital und voller Aufbruchsstimmung klingt auch dieser Chopin: Die Argerich spielt voller Liebe und Weichheit, dann aufbrausend, frei, beinahe hemmungslos. Aber eben nur beinahe. Dass die Jubilarin heute so gut wie keine Solokonzerte mehr gibt, bedauert der Hörer oder die Hörerin nach diesem Erlebnis umso mehr. Fraglos jedoch ist das ein Teil ihrer Besonderheit: Dass sie damals wie jetzt ihren ganz eigenen Weg gegangen ist, scheinbar unangefochten von äußeren Erwartungen. Nachträglich herzlichen Glückwunsch auch dazu, Martha Argerich!

Ralf Neite

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