Matthias Haudel: Gotteslehre

Geheimnis

Über die Bedeutung der Trinität
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Zweifellos präsentiert der Band eine enorme Fülle wertvollen Wissens und theologischer Verknüpfungen.

Selbstbewusst und ambitioniert stellt dieses Buch in Aussicht, die "umfassende Relevanz der christlichen beziehungsweise trinitarischen Gotteslehre für alle Bereiche von Theologie, Kirche, Mensch und Welt" zu erschließen. Es geht um Religionsgeschichte, Fundamentaltheologie, Dogmengeschichte, materiale Dogmatik, Ökumene und den Dialog mit den Religionen, und zugleich soll ein "Kompendium der Dogmatik" vorgelegt werden. Genau darin liegen der Reiz und die Grenzen dieses Buches.

Der Reiz liegt zunächst in dem vom Verfasser aufgegriffenen bemerkenswerten Umstand, dass die Trinitätslehre zwar für das christliche Gottesverständnis als essenziell anzusehen ist, ihr aber zugleich weithin mit Unverständnis oder gar Ablehnung begegnet wird. Dieser tiefgreifenden Verlegenheit stellt das Buch nun die ganze Reichweite religionsgeschichtlicher, philosophischer und theologischer Expositionen des trinitarischen Gotteszugangs entgegen, die überzeugend belegen, wie zentral und zugleich vielfältig sich die Erschließungskraft dieses Themas immer wieder erwiesen hat. Die anschließende Entfaltung der drei Erscheinungsweisen des dreieinigen Gottes, Schöpfer, Versöhner und Vollender, ergibt einen knappen Abriss der Dogmatik, der sich zudem durch die Umsicht ausweist, jeweils auch einen Blick auf die von der Theologie zu führenden Auseinandersetzungen, etwa mit den Naturwissenschaften, der Philosophie und der Religionskritik, zu werfen. Ein wenig überrascht allerdings, wie geschmeidig und unangefochten Matthias Haudel die Theologie durch all die Anfragen und Infragestellungen ihren Weg gehen sieht. Der allzeit zur Verfügung stehende Rekurs auf das zu bewahrende Geheimnis Gottes scheint dabei eine Art Versicherungsargument für die Theologie zu sein, mit dem sie sich gegen die sich von allen Seiten erhebende Forderung nach dem entscheidenden "Offenbarungseid" behauptet. Das zu Recht im Bewusstsein zu haltende bleibende Geheimnis kommt für die Theologie weniger als eine Mahnung zur Wahrung der ihr auferlegten Bescheidenheit in den Blick, als vielmehr als ein flexibel einsetzbares Motiv, das der Theologie immer wieder aus ihrer Verlegenheit hilft. Und so erfahren die Leserinnen und Leser nur wenig über die Probleme, die bestimmte Lösungen mit sich gebracht haben, oder die Brechungen, die ihnen in ihrer Begrenztheit überhaupt erst zu einer nachvollziehbaren Resonanz verholfen haben.

Angesichts des Unverständnisses und der Sprachlosigkeit, die heute verbreitet der Trinität gegenüber herrschen, hätte man sich gewünscht, möglichst klar zu erfahren, welche Probleme die Trinitätslehre zu lösen versucht hat, was mit den Lösungen auf dem Spiel stand und wo auch ihre Grenzen liegen. Der Zugang zur Dogmatik ist heute nur noch offenzuhalten, wenn die Dringlichkeit deutlich wird, warum die erörterten Fragestellungen zu bedenken und auch heute auf irgendeine Weise zu beantworten sind, um das Verständnis des christlichen Glaubens vor dieser oder jener Schräglage zu bewahren. Die schlichte Begegnung mit der beinahe unüberschaubaren Fülle der Tradition und die plakatierte Annoncierung ihrer auch über die Theologie hinausgehenden Reichweite erbringt kaum das erforderliche Problembewusstsein. Der in den Blick genommenen ökumenischen Weite fehlt die kritische Dimension protestantischer Dialektik.

Wenn von einem Lehrbuch erwartet wird, in knapper Form an die klassischen Entdeckungszusammenhänge theologischer Lehre geführt zu werden, so bleiben auch in dieser Hinsicht Fragen offen, weil sich das Buch immer wieder mit Sekundärreferenzen zufrieden gibt. Wenn beispielsweise auf den hermeneutischen Umstand verwiesen wird, dass Gott nur durch Gott erkannt werden könne, wird nicht auf die altkirchliche Hermeneutik und in diesem Fall auf Hilarion verwiesen, sondern auf Walter Kasper, der im Übrigen auch im 20. Jahrhundert nicht der erste war, der an diese Erkenntnisregel erinnert hat.

Zweifellos präsentiert der Band eine enorme Fülle wertvollen Wissens und theologischer Verknüpfungen. Ob es darüber hinaus aber auch zu den nötigen explorativen problemorientierten Erkundungen für die Ausbildung einer eigenständigen theologischen Verantwortung animiert, wird sich zu erweisen haben. Meine Zweifel daran mögen von anderen und vor allem den Studierenden zerstreut werden.

Matthias Haudel: Gotteslehre. Vandenhoeck & Ruprecht, UTB 4292, Göttingen 2015, 333 Seiten, Euro 19,99.

Michael Weinrich

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Margot Käßmann: Im Zweifel glauben

Lebendig

Katechismus a là Käßmann
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Es geht darum, für sich persönlich die Glaubenswahrheit zu finden, die sie mit anderen in der Gemeinschaft zu teilen, und zu respektieren, dass andere Menschen andere Wege zu Gott gehen.

Früher gehörte Martin Luthers Kleiner Katechismus zur geistlichen Leib- und Mag enspeise der Nation. Das ist lange her. Schon die Einstiegsszene der Buddenbrooks von Thomas Mann, in der Tony Buddenbrook von ihrem Großvater jenen Kleinen Katechismus abgefragt wird, verweist auf Zeiten, die schon zur Zeit der Entstehung des Werkes um 1900 lange zurücklagen. Selbst in seinem locus classicus des vergangenen Jahrhunderts, dem Konfirmandenunterricht, kommt er kaum mehr vor. An die Stelle der Unterweisung im christlichen Glauben ist in einer freien Gesellschaft der Versuch getreten, mit Menschen ins Gespräch zu kommen.

Margot Käßmann versteht es meisterhaft, mit Menschen ins Gespräch zu kommen: von Angesicht zu Angesicht, als Rednerin, Predigerin und als Buchautorin. Das Grundprinzip ihrer Art der Glaubensvermittlung legt sie im Eingangskapitel so nieder: "Glaube, wie ich ihn verstehe, kann gerade mit dem Fragen, dem steten Suchen nach Wahrheit, den überraschenden Neuentdeckungen und den Erschütterungen unser Leben im guten Sinne tragen und prägen. Er weicht dem Zweifel und den Bedrängnissen nicht aus. Aber er findet Halt in Gott und führt so zu einer Haltung."

Halt in Gott, der zum Glaube als Haltung führt - damit ist jene Melange aus Empfindungen, ethischen Überzeugungen und biblisch-theologischen Mustern beschrieben, mit der Käßmann ein umfangreiches, abwechslungsreiches Bild von dem entwirft, "worauf wir uns verlassen können". Die Autorin findet einprägsame Formulierungen, sei es, um biblische Geschichten zu charakterisieren - so bezeichnet sie die Josephsgeschichte aus Genesis 37-50 als "extreme ,Patchworksituation'", sei es, um theologische Grundsätze auf den Punkt zu bringen, zum Beispiel wenn sie sich von fundamentalistischen Positionen so absetzt: "Es geht darum, für sich persönlich die Glaubenswahrheit zu finden, die ich mit anderen in der Gemeinschaft teile, und gleichzeitig zu respektieren, dass andere Menschen andere Wege zu Gott sehen und gehen." Dabei webt Käßmann ausführlich Zitate anderer Gottesdenkerinnen und -denker ein, Gedichte und Texte von Kurt Marti, Marie Luise Kaschnitz, Johanna Rahner, Dorothee Sölle und vielen anderen.

Die Autorin holt die Leser immer wieder da ab, wo sie sind, zum Beispiel im Kapitel "Verzweifeln an der Welt", wo sie in einer lebhaften Tour d'Horizont die Theodizeefrage abschreitet, die in einem Lobpreis der biblischen Zehn Gebote mündet. Das alles immer im Gestus des "Mir hat es geholfen - ich glaube, es könnte auch dir helfen" und nicht "So hat es zu sein - das musst Du glauben". In den letzten beiden Sätzen des Buches bringt sie ihr Anliegen auf den Punkt: "Immer wieder anfangen im Glauben, gegen allen Zweifel. Ich bin überzeugt, darauf liegt Segen." Diesem Anliegen verleiht Margot Käßmann in ihrem Buch lebendigen Ausdruck.

Margot Käßmann: Im Zweifel glauben. Herder Verlag, Freiburg 2015, 208 Seiten,

Euro 19,99.

Reinhard Mawick

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Karl-Heinz Meyer-Braun: Einwanderung und Asyl

Kompetent

Fakten zur Einwanderung
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Mit einer eindeutigen "Wir-schaffen-das"-Haltung geschrieben. Doch auf Schönfärberei wird - zum Glück - weitestgehend verzichtet.

Die Antwort auf die Frage, was das drängendste Problem in Deutschland ist, lautete bis zum vergangenen Jahr " die Arbeitslosigkeit". Dies hat sich 2015 geändert. Erstmals seit 22 Jahren wurde die Arbeitslosigkeit als größte Sorge der Deutschen abgelöst, stattdessen haben über ein Drittel der von der Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung Befragten erklärt, dass die Zuwanderung die dringendste Aufgabe darstellt. Entsprechend breiten Raum nimmt das Thema derzeit in den Medien und den Gesprächen im Freundes- und Bekanntenkreis ein. Wer in diesen Runden mit Kompetenz und Sachlichkeit den oft diffusen Gefühlen und Stimmungen gegenüber den neuen Fremden begegnen will, sollte das Buch von Karl-Heinz Meier-Braun gelesen oder am besten sogar stets in seiner Tasche haben. Denn - der Titel weist darauf hin - in diesem kompakten Taschenbuch werden die wichtigsten Fragen zum Thema Einwanderung und Asyl kompetent und sachlich beantwortet und notwendige Hintergrundinformationen geliefert. So etwa auch die eingangs zitierte Statistik (Frage 75: "Was denkt die Mehrheitsgesellschaft über Einwanderung und Asyl?").

Der Autor ist Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks, Honorarprofessor für Politikwissenschaft der Universität Tübingen und Vorstandsmitglied im Rat für Migration. Damit ist klar, das Buch ist mit einer eindeutigen "Wir-schaffen-das"-Haltung geschrieben, auf Schönfärberei wird allerdings - zum Glück - weitestgehend verzichtet. Einwanderung sei "stets mit Problemen und Konflikten verbunden", schreibt der Autor selber. Doch "ständig diese Probleme in den Mittelpunkt zu stellen, meist ohne Lösungen aufzuzeigen, geschweige denn sie umzusetzen ist nicht zielführend", heißt es in der Antwort auf die Frage 87 "Hat die Sarrazin-Debatte Deutschland geschadet?". Den fragwürdigen von Sarrazin genutzten Zahlen setzt er die weitaus weniger dramatischen Statistiken des Bundesamtes für Migration entgegen und gibt so auch eine Handreichung für Debatten, in denen noch immer die Angst vor dem sich angeblich selber abschaffenden Deutschland regiert. Sachlich und verständlich beschreibt er die Gesetzeslage, die Geschichte der Einwanderung und das, was wir statistisch über die soziale Situation der in den vergangenen Jahrzehnten und Monaten nach Deutschland eingewanderten Menschen wissen. Erstaunlich - aber auch absolut notwendig - ist die Aktualität dieses Buches, dessen jüngste Passagen aus dem Oktober 2015 stammen, im November kam das Buch auf den Markt. Dass bei diesem straffen Zeitplan der ein oder andere Tippfehler im Lektorat übersehen wurde, ist nachvollziehbar und muss wohl hingenommen werden.

Natürlich kann man sich fragen, ob Meier-Braun wirklich die "101 wichtigsten Fragen" zum Thema gestellt und beantwortet hat. Dass die Antworten auf die Fragen, ob Goethe wirklich türkische Vorfahren hatte (Frage 8), ob tatsächlich noch Portugiesen in Deutschland leben (Frage 38) oder ob die Zeit reif für ein Migrantenmuseum ist (Frage 100), der Debatte wirklich sinnvolle Impulse geben, darf bezweifelt werden. Aber diesen einzelnen eher entspannten Seiten für Liebhaber stehen eine Fülle von kompakten Informationen gegenüber, die in der Tat alle interessieren (sollten), die sich öffentlich oder im privaten Kreise zur Einwanderung nach Deutschland zu Wort melden. Denn dieses Buch verschweigt die Probleme, die die Vielzahl von Flüchtlingen mit sich bringt, nicht, hilft aber dennoch gegen Ängste vor den neuen Deutschen und gegen die Stimmungsmacher von afd , Pediga und all den anderen, die diese Ängste befeuern und für ihre eigenen Zwecke missbrauchen.

Karl-Heinz Meier-Braun, Einwanderung und Asyl. C.H. Beck, München2015, 160 Seiten, Euro 10,95.

Stephan Kosch

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John Boyne: Die Geschichte der Einsamkeit

Tief erschüttert

Roman über den Wandel Irlands
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Dass Boynes als Ire den Missbrauch von Kindern durch Priester thematisiert, liegt nahe. Denn dessen Aufdeckung hat Irlands Gesellschaft tief erschüttert.

Heinrich Böll notierte in seinem Irischen Tagebuch , das 1957 erschien, dass im Kino einer Stadt, die er besuchte, die Filmvorführung erst begonnen habe, nachdem die römisch-katholischen Ortsgeistlichen eingetroffen waren. Diese Episode spiegelt, welche Autorität die römisch-katholische Kirche in Irland besaß. Dass das nicht mehr der Fall ist, wurde im vergangenen Mai deutlich. Die Iren, die zu 84 Prozent römisch-katholisch sind, machten den Bischöfen eine lange Nase: 62 Prozent der Wahlberechtigten stimmten - bei einer Wahlbeteiligung von 61 Prozent - dafür, die Ehe für Schwule und Lesben zu öffnen. Wer John Boynes Roman liest, kann nachempfinden und verstehen, warum sich das Land so tiefgreifend verändert hat. Seine Hauptfigur, der römisch-katholische Pfarrer Odran Yates, erzählt aus ihrem Leben und schlägt dabei einen Bogen von 1964 bis 2013. Dass Boynes ihn 1973 ins Priesterseminar eintreten lässt, mag Zufall sein. Aber im selben Jahr wurde Irland Mitglied der Europäischen Gemeinschaft, heute: EU. Und dies dürfte die Öffnung des Landes und die Befreiung von klerikaler Bevormundung befördert haben.

Die Mutter hat entschieden, dass Odran zum Geistlichen berufen ist. Also bezieht er mit 17 Jahren das Priesterseminar. Dort gefällt ihm "das geruhsame Leben". Sexuelle Bedürfnisse hat er anscheinend nicht. Und so hält Yates schon als Student den Zölibat ein. Nur einmal fühlt er sich stark zu einer Frau hingezogen.

27 Jahre arbeitet Yates in einem Internat als Seelsorger und Bibliothekar - und ist zufrieden. Aber eines Tages teilt ihm der Erzbischof mit, er müsse die Gemeinde seines Zimmergenossen aus dem Priesterseminar übernehmen. Der wurde wieder einmal nach kurzer Zeit versetzt, was in den vergangenen 25 Jahren regelmäßig geschehen war. Während der Leser die Gründe ahnt, macht sich Yates keine Gedanken. Umso mehr ist er erschüttert, als rauskommt, dass der Studienfreund Kinder missbraucht hat.

Odran Yates ' Lethargie hat zwei Sei ten: Zum einen lässt er viel mit sich machen. Und im Alter von 56 Jahren muss er sich eingestehen, dass er - wie andere katholische Iren - "die Wahrheit verdrängt" und sich "standhaft geweigert" hat, "ihr ins Gesicht zu sehen". Zum anderen sind ihm aber Fanatismus und Dogmatismus fremd. So pflegt er auch mit dem Neffen, der sich als schwul outet, ein gutes Verhältnis.

Dass Boynes als Ire den Missbrauch von Kindern durch Priester thematisiert, liegt nahe. Denn die Aufdeckung nach jahrzehntelanger Vertuschung hat Irlands Gesellschaft und die Stellung der römischen-katholischen Kirche tief erschüttert. Aber der Roman ist mit Problemen überfrachtet. So ist Odran Yates in seiner Familie mit Selbstmord, Mord und Alzheimer konfrontiert. Während eines Studienaufenthaltes in Rom wird der 22-Jährige als Diener zu Johannes Paul I. abgeordnet, ist aber ausgerechnet, als der Papst stirbt, nicht auf seinem Posten, sondern bei einer Frau.

Boynes, der durch den Roman Der Junge im gestreiften Pyjama weltweit bekannt geworden ist, schreibt flüssig und fesselnd. Und unsympathische Figuren wie der Kinderschänder und der Erzbischof, der ihn deckt, geraten nicht zu Karikaturen.

Sonja Finck hat den englischen Text gut übersetzt - mit Ausnahme kirchlicher Begriffe. Katholische Priester werden im englischen Sprachraum mit Father angeredet. Das muss mit "Pfarrer" übersetzt werden und nicht mit "Pater" wie Finck es tut. Im Deutschen wird nur ein Ordenspriester als "Pater" tituliert, nicht Weltpriester wie Odran Yates und die anderen Pfarrer im Roman. Falsch ist auch die Formulierung, die Seminaristen seien "zum Komplet" zusammengekommen. Es muss "zur" heißen, denn Komplet ist grammatikalisch gesehen weiblich.

John Boyne: Die Geschichte der Einsamkeit. Piper Verlag, München 2015, 416 Seiten, Euro 16,99.

Jürgen Wandel

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Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer

Außerordentlich

Neuauflage: Müntzer-Biographie
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Auch ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Erscheinen liest sich das - überarbeitete - Buch frisch und ideologiefrei, getragen von einer unverhohlenen Sympathie für den vielfach fremd gewordenen Reformator.

Vor dem Hintergrund der enormen Konzentration der 2017er-Maschinerie auf Martin Luther ist es wohltuend, dass nun, gut ein Vierteljahrhundert nach ihrem ersten Erscheinen, die Müntzer-Biographie von Hans-Jürgen Goertz neu aufgelegt wurde, "völlig überarbeitet", wie es zu Recht heißt. Dass das Buch gleichwohl im Grundansatz bleiben konnte, was es war, verdankt es seiner außerordentlichen Qualität: Auch 2015 liest es sich noch frisch und ideologiefrei, getragen von einer unverhohlenen Sympathie für den vielfach fremd gewordenen Reformator. Die Grundanlage des Buches von Goertz hat aber auch deswegen noch heute Bestand, weil es in der Forschung um Müntzer in den vergangenen Jahren ruhig geworden ist. Erstmals war es im Jubiläumsjahr 1989 erschienen - das Jahr ist uns aus ganz anderen Gründen im Gedächtnis geblieben. Die mit ihm verbundene politische Wende hat rasch dazu geführt, dass das durch die Müntzer-Verehrung der DDR wach gehaltene Interesse an dem Reformator erlahmte. So musste Goertz nun Sätze, die seinerzeit die marxistische Forschung im Präsens beschrieben, ins Imperfekt setzen: Es gibt sie nicht mehr.

Goertz hatte aber auch schon 1989 eine Deutung vorgelegt, durch die es ihm gelang, die Errungenschaft der westlichen Forschung, Müntzer von seinen theologischen Motiven her zu verstehen, mit der Betonung revolutionärer Elemente in der DDR-Forschung zu verbinden. Wenn nun der damalige Untertitel "Mystiker, Apokalyptiker, Revolutionär" zum "Revolutionär am Ende der Zeiten" geworden ist, ist der Nachhall der damaligen Debatten freilich nur noch schwach zu hören. Eher wirkt dies wie die Antwort auf die Stilisierung Luthers zum "Rebellen in einer Zeit des Umbruchs" bei Heinz Schilling im selben Verlag. Angesichts des in den vergangenen Jahren gesteigerten Interesses der reformationshistorischen Forschung an der Mystik ist es bedauerlich, dass diese fortgefallen ist. Sachlich bleibt sie in dem Buch aber erhalten.

Tatsächlich hat Goertz bei der Bearbeitung die theologischen Komponenten in beeindruckender Weise verstärkt. So ist das früher fünfte, jetzt vierte Kapitel um ausführliche Passagen zur Schrifthermeneutik gewachsen, in welchen Goertz die Arbeiten Ulrich Bubenheimers konstruktiv rezipiert hat. Auch an anderen Stellen hat er neue Forschungsakzente integriert - etwa Günter Voglers Kritik an der Rede von einem Prager Manifest, die sogar zur Änderung einer Kapitelüberschrift geführt hat.

Die Bearbeitung ist also, wie diese Beispiele zeigen mögen, tatsächlich gründlich erfolgt - erhalten bleibt die gute Lesbarkeit. Goertz gibt wiederholt zu erkennen, dass wir über Müntzer wenig wissen - was wir aber wissen können, präsentiert er in einer Weise, die zugleich wissenschaftlich fundiert und einem breiteren Publikum zugänglich ist.

Auch die Änderung der Kapitelzählung stellt keinen fundamentalen Eingriff dar, sondern folgt der stärkeren Ausrichtung auf theologische Fragen: Das Kapitel "Verzerrte Bilder" ist vom Anfang in einen gewichtigen Anhang gerutscht und leitet hier den bemerkenswerten neuen Abschnitt ein: "Thomas Müntzer und die Theologie heute". Man mag auch in den starken Sympathien für die Befreiungstheologie die Nachwirkungen der Stimmungslage der Siebziger- und Achtzigerjahre hören, aber Hans-Jürgen Goertz bringt seine Anliegen auf die einprägsame Formel von einer "relationale[n] Denkform Müntzers", die "Kirche, Obrigkeit und Reich Gottes (...) in dem Verhältnis, das Menschen zu ihnen eingehen", versteht. So kann er aus Müntzers Schriften Anregungen für die Gegenwart gewinnen, ohne die historische Distanz zu verschweigen - und möglicherweise die Jubiläumsvorbereitungen neu beleben.

Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer. Verlag C. H. Beck, München 2015, 352 Seiten, Euro 24,95.

Volker Leppin

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Foto: epd

Volker Leppin

Volker Leppin (geboren 1966) ist Professor für Kirchengeschichte in Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen beim Mittelalter, der Reformationszeit und der Aufklärung, in den Themen Scholastik und Mystik und bei der Person und Theologie Martin Luthers.

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Christian Lehnert: Windzüge

Vorzüglich

Ton religiöser Rede
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Auf Bahngleise, die irgendwohin führen, nehmen diese Gedichte den Leser mit und führen ihn auf Bitumen, durch den die Pflanzen dringen.

Diese Gedichte sprechen nicht mehr im Stil erlebter Rede und deklamieren keinen Text auf einer Bühne. Sie wollen auch keinen Abschied mehr nehmen, sondern haben bereits alles verloren, was noch als Elegie geschrieben sein und an Vergangenes erinnern könnte.

Sie beklagen nicht mehr den Verlust des Ganzen, des Heils, sondern fühlen noch Zeile für Zeile dem Hunger und dem Schmerz nach.

Aber doch sind sie durchzogen von einfachen Paar- und Kreuzreimen, von Terzinen und klingen sogar in Sonetten. So als suche der Dichter im poetologischen Handwerk Schutz, spricht er im Gedicht "Der Holzweg" im klassischen Versmaß: "Nichts zu suchen steht mir der Sinn, nur ein wenig zu spüren."

Mit seinem großen handwerklichen Können sucht der Theologe und Schriftsteller Christian Lehnert aber nicht den Beweis der Form, sondern will sich wie von Windzügen ergreifen lassen, um sich über einem Grund zu bewegen, von dessen Verlässlichkeit nur noch der Zweifel geblieben scheint. Wo der Leser in solch einen Windzug gerät, kann er etwa im Gedicht "Die Geschichte von der Pharaonenkatze und dem Krokodil" in einen Dialog und in eine Geschichte geraten, in der ihm zuletzt nur die Faszination des Schreckens bleibt:

Katze und Krokodil lauern einander auf, und jeder wittert im anderen seine Beute. Sie sind, kurz vor dem Sprung, vor dem Öffnen des Rachens, gefangen in einem Rollenschema, das nur Hunger und Nahrung kennt. Die Katze will dem Reptil die Leber zerreißen, das Reptil erwartet die Beute im gähnenden Rachen.

So erscheint die Welt in ihrem Daseinskampf, als den sie sich einzig zu erkennen gibt, im Gleichgewicht unversöhnlicher Gegenwart von Ewigkeit zu Ewigkeit. Hoffnung auf Versöhnung aber wird wach in der Stilisierung eines für den grausamen Transport gefesselten Schlachtschafs zum Agnus Dei "... dessen Blicke langsam zurücktauchen in die glasige Demut/jenseits des Schmerzes, wo niemand mehr ist,/ der Sterblichkeit kennt, leicht und immer leichter,/ und lebt, hofft ohne Hoffnung, atmet und...".

Auf Bahngleise, die irgendwohin, aber nicht mehr ins Unendliche führen, nehmen diese Gedichte den Leser mit und führen ihn auf Bitumen, durch den die Pflanzen, die "Wegwarten", noch dringen. Aber deren heilende Wirksamkeit wird keine Hoffnung stiften, so lange sie für sich bleiben.

Das Erdreich kann als Heimat schon nicht mehr betreten werden. Auch wer im Versmaß und in Reimen den Boden bereiten will, wird ihn nicht mehr zum festen Grund stampfen können.

Doch dem Leben und der Welt der Monaden (Gedicht "Aquarium) bleibt ein uneinholbares Außen, ein Anderes: Lehnert weiß um den geistesgeschichtlichen Sprung, und er stellt im Gedicht "Unter Null" den Lehrsatz Spinozas voran: "Ein Ding, das von Gott bestimmt ist, etwas zu wirken, kann sich nicht selbst zu einem selbstbestimmten machen." Das Reich der Religion ist nicht vom Erdreich dieser Welt, und so will der hohe Ton des Glaubens auf dieser aufgerissenen Erde nicht verstummen. Viele dieser vorzüglichen Gedichte lassen den Ton religiöser Rede und biblischer Überlieferung hören, aber sie wollen keinen zwingen, darauf zu hören. Sie wollen sich nicht mit festen Gewissheiten bei ihren Lesern verorten. Gleichwohl steht das letzte Kapitel der Windzüge unter einer Ortsangabe, unter einem Woher: "Aus dem Bergwerk", so lautet der Titel der vier abschließenden Texte, in denen Martin Luther und Thomas Müntzer sprechen: Luther spricht als Kind, das von der Mutter gerade bis "aufs Blut gestäupt worden ist, und sieht sich selbst als das Blutopfer, aus dem der Satan ausgetrieben werden muss. Müntzer hofft nicht mehr in dieser Welt, weil er ihr Ende schauen will."

Aber doch ist diese ganze Welt für Luther voller Sprache. Lehnert bezieht sich auf dessen Predigt über den Taubstummen und schließt das letzte Gedicht und damit die "Windzüge" mit dem Ruf: "Hephetah ("tu dich auf)."

Christian Lehnert: Windzüge. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 108 Seiten, Euro 18,-.

Friedrich Seven

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Bernd Kohlhepp/ Jürgen Treyz: Die Schneekönigin

Eiszeit

Die Schneekönigin im Hörspiel
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66 Minuten wohltuende Träumerei für Menschen ab sechs.

Nachdem Kays Herz durch einen Eissplitter vereist ist, entführt ihn die Schneekönigin in ihren Palast. Getrieben von Hoffnung macht sich Gerda auf die Suche nach dem Freund und befreit ihn schließlich kraft ihrer Tränen. Die Schneekönigin ist eines der vielschichtigsten Märchen von Hans Christian Andersen. Das gleichnamige Hörspielmusical von Bernd Kohlhepp und Jürgen Treyz aus dem Jahr 2000 hat der Verlag nun neu herausgebracht.

Empfohlen ist die Produktion ab einem Alter von sechs Jahren. Das passt, muss aber nicht so eng gesehenen werden, denn es kann durchaus auch Älteren zu 66 Minuten wohltuender Träumerei verhelfen. Der Text wurde dem modernen Kindermund angepasst, die Geschichte etwas verträglicher gestaltet. Die Version ist leicht und mit Witz gespickt. Neben dem sprachlichen Feinsinn ist das auch Treyz zu verdanken: Mit Percussion, Klarinetten, Flöten, Violinen, Gitarren und Akkordeon erzeugt er erholsame Hörpausen, beschwingende Abwechslung und passende Stimmungen - düster metallisch, klirrend kalt, polternd markant bis heiter. Das Sprecherensemble tritt charakterstark auf: Der Erzähler führt mit angenehm sonorer Stimme durch das Abenteuer, Gerda kommt heiser und liebreizend unschuldig daher, nur von Kay wünschte man sich weniger ausgewachsene Männlichkeit, dafür mehr Varianz. Gestrichen hat Kohlhepp die Verheißung auf das Christkind: Die Rose als Kay und Gerda vereinendes Element steht bei Andersen für Natürlichkeit, Vergänglichkeit und den christlichen Glauben, die Schneekönigin für kalte Rationalität und künstliche Perfektion. Für kleine und große Ohren ein zauberhafter Hörgenuss in der Winterzeit.

Bernd Kohlhepp/Jürgen Treyz: Die Schneekönigin. Argon Verlag, Berlin 2014.

Katharina Lübke

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Susanne Lang/Serge Embacher: Recht auf Engagement

Wichtig

Ehrenamtliches Engagement
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Welche Rolle spielen die Engagierten vor Ort bei der politischen Debatte?

Bürgerschaftliches Engagement hat Konjunktur. Ohne engagierte Bürgerinnen und Bürger, die Betten und Frühstück zubereiten, Kinderspielzeug sammeln, Deutschunterricht geben, ließe sich die aktuelle „ Flüchtlingskrise“ nicht bewältigen. Zehntausende Gastgeberinnen und Gastgeber, viele davon Ehrenamtliche in den Kirchengemeinden, haben unserem Land eine neue Willkommenskultur geschenkt. Wo aber die ehrenamtlich Engagierten an ihre Grenzen kommen, weil eine berufliche Freistellung nicht über Wochen und Monate möglich ist oder weil die Supervision fehlt, da stellt sich immer häufiger die Frage, ob Ehrenamtliche nicht zum „billigen Jakob“ eines schlank gesparten Staates werden. Inzwischen wird nachjustiert: Neue Verteilzentren werden eingerichtet, Wohnungsbauprogramme aufgelegt. Tatsächlich wird jedoch viel mehr gebraucht: mehr Investitionen in Tageseinrichtungen und Schulen, mehr Traumatherapeuten und Deutschlehrerinnen. Welche Rolle spielen die Engagierten vor Ort bei der politischen Debatte? Sie haben die Willkommenskultur geprägt – werden sie nun auch dazu beitragen, die Sozial- und Gesellschaftspolitik für die Einwanderungsgesellschaft zu gestalten? Welche Rolle können dabei Mittlerorganisationen wie die Kirchen spielen? Und werden sie auch die Migrantinnen und Migranten im Blick haben, die in diesem Prozess selbst zu Ehrenamtlichen geworden sind?

„Es geht um ein neues Verhältnis von Staat und Gesellschaft, das nicht in Kategorien staatlicher Planung und Steuerung von gesellschaftlichen Prozessen definiert wird, sondern im Sinne einer neuen, kooperativen und partnerschaftlichen Verantwortungsteilung“, zitieren die Herausgeber des vorliegenden Buches den inzwischen verstorbenen Michael Bürsch, der von 1999–2002 der Enquetekommission des Deutschen Bundestages zur Förderung Bürgerschaftlichen Engagements vorsaß. Die Beiträge spiegeln die Debatte um das „Leitbild Bürgergesellschaft“ und das Ringen um eine „Engagementpolitik“ des Bundes wie der Länder und Kommunen. Begriffe wie „altes“ und „neues“ Ehrenamt und auch die Ergebnisse des – 2016 in der vierten Staffel erscheinenden – Freiwilligensurveys der Bundesregierung sind inzwischen auch für die kirchlichen Engagement-Strategien handlungsleitend geworden. Die Texte machen da-rüber hinaus deutlich, in welchem Maße der Strukturwandel des Ehrenamts zum Querschnittsthema geworden ist, weil er den gesellschaftlichen Wandel insgesamt spiegelt – von der Arbeitsmarktentwicklung bis zur Rentenpolitik, von der Vereinbarkeit bis zur Bildungspolitik.

Wie das Beispiel oben zeigt, griffe es zu kurz, bürgerschaftliches Engagement vor allem nach seinem gesellschaftlichen und sozialen Nutzen zu beurteilen; leider weist die zunehmende „Monetarisierung“ des Ehrenamts mit Übungsleiterpauschalen und Freiwilligendiensten als Ersatz für Erwerbsarbeit in diese Richtung. Vielmehr sind Selbstwirksamkeitserfahrungen die wesentliche Triebfeder des Engagements. Es geht um gesellschaftliche Teilhabe, von der niemand ausgeschlossen sein sollte – auch Menschen mit Behinderung, Hartz-IV-Empfänger oder Migranten nicht. Das signalisiert der Titel „Recht auf Engagement“. Wer das Buch unter der Perspektive kirchlicher Organisationsentwicklung und Ehrenamtsstrategien liest, könnte enttäuscht sein. Trägerorganisationen in Kommunen, Wirtschaft und Verbänden sind zwar durchaus im Blick; es geht aber in erster Linie um die Entwicklung demokratischer Teilhabe in einer vielfältig aufgestellten Zivilgesellschaft. Was Kirche und Diakonie dazu beitragen könnten – in Bürgerkommunen wie in vielfältigen Netzwerken –, ist allerdings längst noch nicht ausgeschöpft.

Susanne Lang/ Serge Embacher (Hg.): Recht auf Engagement. J. W. Dietz Verlag, Bonn 2015, 176 Seiten, Euro 14,90.

Cornelia Coenen-Marx

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Foto: privat

Cornelia Coenen-Marx

Cornelia Coenen-Marx  ist Oberkirchenrätin a. D.  Nach Eintritt in den Ruhestand machte sich Coenen-Marx 2015 mit dem Unternehmen „Seele und Sorge“ selbständig, um soziale und diakonische Organisationen sowie Gemeinden bei der Verwirklichung einer neuen Sorgeethik zu unterstützen.


 

Weitere Rezensionen

Roderich Barth/Christopher Zarnow: Theologie der Gefühle

Chapeau

Eine Theologie der Gefühle
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Souverän und ohne sich an Größen der Theologiegeschichte kleinmachend anzulehnen, ist man hier Gast in der Werkstatt einer Theologie der Gefühle.

Begriffsgangster. Diese lange gültige Zuschreibung für die denkende Elite der evangelischen Theologie gilt nicht länger, denn, milde verspätet, haben Roderich Barth und Christopher Zarnow eine Theologie der Gefühle auf die Agenda gesetzt und im eleganten Tanzschritt sich in jenen „emotional turn“ eingedreht, der seit den Achtzigerjahren fächerübergreifend auf der Tagesordnung steht. Die Essays des Aufsatzbandes versuchen auf drei systematische Leitfragen Antworten zu geben: Gibt es religiöse Gefühle – und sofern ja, wie lässt sich ihr Spezifikum bestimmen? Gibt es eine dem Gefühl eigene Rationalität, oder ist das Gefühl das Andere der Vernunft? Beinhaltet eine Theologie der Gefühle auch eine Kritik oder Pädagogik der Gefühle?

Alle drei unter der systematischen Perspektive rubrizierten Aufsätze (Bernhard Grom, Eva Weber-Guskar, Sabine Döring) kommen trotz unterschiedlicher Anfahrtswege darin überein, religiöse Gefühle von nicht-religiösen Gefühlen durch den Objektbezug und nicht durch die Erlebnisqualität zu charakterisieren. Spannend zu lesen sind auch die problemgeschichtlichen Vertiefungen, weil Claus-Dieter Osthövener an die Gefühlskulturen der Aufklärung erinnert und Christopher Voigt-Goy den Faden gleichsam aufnimmt und die Erweckungsbewegung in Neuengland untersucht.

In zwei funkelnden Lektüren inventarisieren Michael Moxter die Probleme der Gefühlstheorie des „ganzen Schleiermacher“ und Markus Buntfuß die Gefühlstheorie De Wettes, der im produktiven Anschluss an Fries als Grundformen des religiös-ästhetischen Gefühls Begeisterung, Ergebung und Andacht ausmachte. Luzide theologische Konkretionen bieten Elisabeth Naurath für die Praktische Theologie und Friedhelm Hartenstein für das Alte Testament. Johannes Fischer bekräftigt noch einmal seine nach meiner Einschätzung bleibende Einsicht, dass die Engführung der Moral auf die Handlung dazu geführt hat, die religiöse Dimension der Moral zu verunklaren.

Einen flamboyanten Aufsatz über den Neid legt Notger Slenczka vor. Slenczka, der durch seine angestoßene Kanondebatte einen wahren Shitstorm über sich ergehen lassen musste (ich bin ihm dankbar, weil man als Liebhaber des Alten oder Ersten Testaments jetzt endlich gegen alle Verkürzungen Tacheles reden kann), zeigt sich souverän auf der Höhe des Diskurses, deutet in einer dichten phänomenologischen Beschreibung Neid als negatives Selbstverhältnis, das auch die Grundformulierungen der Sündenlehre neu deutbar macht. Souverän und ohne sich an Größen der Theologiegeschichte kleinmachend anzulehnen, ist man hier Gast in der Werkstatt einer Theologie der Gefühle. Auch wenn ich theologisch Slenczka nicht immer zustimme, kann ich mich nicht entsinnen, während der letzten Dekade einen so großartigen Aufsatz aus der Feder eines Theologen gelesen zu haben. Chapeau!

Die Debatte ist also eröffnet. Künftig wird man weiterhin klären, welchen Theorieansätzen zu folgen ist: der Emotionsforschung in der Breite der Angebotspalette von de Sousa, Salomon, Griffiths bis zu Nussbaum oder eher der Gefühls- und Leibtheorie von Hermann Schmitz, der, lange schnöde übersehen, inzwischen viele Anhänger auch in der jüngeren Forschergeneration besitzt. Mir scheint das Theorieangebot von Schmitz besonders geeignet, um die drei aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Für alle Leserinnen und Leser, die sich nicht zu den Begriffsgangstern zählen und sich in den „emotional turn“ eindrehen wollen, bietet dieser leider etwas teure Sammelband eine erste Choreographie.

Roderich Barth, Christopher Zarnow (Hg.): Theologie der Gefühle. De Gruyter Verlag, Göttingen 2015, 247 Seiten, Euro 69,95.

Klaas Huizing

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.

Weitere Rezensionen

Robert Walser: Der Gehülfe

Sarkastisch

Familienkostellationen
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Dieser autobiografische Roman Walsers gilt mithin als langweilig. Die gekürzte Fassung als szenische Lesung ist es definitiv nicht.

Der Gehülfe“ gilt als Muster eines realistischen Romans, handelt aber von einer Illusion. Zwei Männer spielen gelingendes Leben. Der Eine, seines Zeichens Erfinder kurioser Gegenstände, tritt mit großer Geste als Chef auf. Sein „Gehülfe“ übernimmt die Rolle seines loyalen Angestellten, der sich keinen Moment erlaubt, am Erfolg des Unternehmens zu zweifeln. Dabei registriert er sehr wohl die Anzeichen des Niedergangs. Die familiäre Einbindung, aber auch die faszinierende Landschaft des Zürichsees scheinen alle Nachteile aufzuwiegen. Für ein halbes Jahr taucht der Protagonist in der Scheinwelt eines Bankrotteurs unter, bevor er sich in die Realität absetzt. Der Stil dieses stark autobiografischen Romans imitiert die Beschaulichkeit dieses Abtauchens. Er hat dem Werk gelegentlich den Ruf der Langweiligkeit eingetragen. Die – von Dieter Lohr gekürzte – Fassung als szenische Lesung bügelt diese Gefahr aus. Martin Hofer und Heinz Müller versetzen den Roman durch ihren schweizerischen Zungenschlag perfekt in die Atmosphäre der Spielhandlung.

Vor allem profilieren sie gekonnt den sarkastischen Unterton des Textes, der in der Gemächlichkeit des Erzählverlaufs vielleicht überlesen, nun aber nicht mehr überhört werden kann. Eine gute Idee ist auch, die Lesung von Klavierstücken Robert Schumanns, gespielt von Till Barmeyer, begleiten zu lassen. Das Klavier gehörte einst zu jedem großbürgerlichen Haushalt. Umso ironischer, dass Walser diesem Symbol geistiger Erziehung in seinem Text keinen Platz zugestanden hat. Jetzt ergänzt das Instrument mit seinen illustrierenden Unausgesprochenheiten die Authentizität dieses Hörbuchs.

Robert Walser: Der Gehülfe. 2 CDs, LohrBär Verlag, Regensburg 2015.

Susanne Krahe

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