Stefan Hertmans: Die Fremde

Heimat und Flucht

Ein Mittelalter-Panorama
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Stefan Hertmans "Die Fremde" ist keine Strandkorblektüre, sondern ein gebildeter, so detail- wie kenntnisreicher historischer Roman.

Frankreich im 11. Jahrhundert. Eine heimliche Liebe, verbotene Leidenschaft und abenteuerliche Flucht. Eine Reise voller Gefahren, ehe die Liebenden endlich am Ziel sind. Sie heiraten, lassen sich nieder, gründen eine Familie. Aber ihr Glück währt nur kurz; ihr Dorf und ihre Gemeinschaft werden zerstört. Der Mann ist tot, die junge Frau flieht mit ihren Kindern, doch zwei der Kinder werden entführt. Auf der Suche nach ihnen setzt sie sich erneut endlosen Strapazen und Gefahren aus, und als es endlich scheint, ein Leben in Frieden könnte doch möglich sein, schreckt eine Nachricht sie auf, treibt sie wieder hinaus und letztlich in Wahnsinn und Tod.

Das klingt nach dem Stoff, aus dem die Schmöker sind, aber Stefan Hertmans Die Fremde ist keine Strandkorblektüre, sondern ein gebildeter, so detail- wie kenntnisreicher historischer Roman, der die Leser an der Spurensuche des Autors nach einer Frau teilhaben lässt, die im Mittelalter als Konvertitin in der jüdischen Gemeinde von Monieux lebte.

In dem Dörfchen in der provenzalischen Vaucluse hat Hertmans seinen zweiten Wohnsitz, und er ist dort auf Dokumente gestoßen, die die Existenz einer solchen Frau bezeugen, deren Ehemann, wie fast die gesamte jüdische Gemeinde, bei einem von durchziehenden Kreuzrittern verübten Pogrom ermordet wurde. Dieser Frau gibt Hertmans einen Namen, ein Gesicht und eine Geschichte und vollzieht die Stationen ihres Lebens nach, von Rouen nach Monieux und schließlich bis nach Kairo, wo damals eine große jüdische Gemeinde existierte, in der sie Unterschlupf gefunden haben könnte. Integration und Identität, Fundamentalismus und Fanatismus, Heimat und Flucht - die Themen von heute spiegeln sich in dem Mittelalterpanorama, das Hertmans entfaltet.

Parallel dazu erzählt er dabei die Geschichte von Vigdis, die zu Hamutal wird, um 1100, sowie die Geschichte seiner fast zwanzig Jahre dauernden Recherche in der Gegenwart. Hier könnte es gewesen sein, so könnte es sich zugetragen haben, so sah es damals vermutlich aus - immer wieder findet Hertmans Orte, Plätze, Winkel, in denen er sich seiner Protagonistin ganz nahe und verbunden fühlt, sie fast in heutigen Personen zu erkennen glaubt.

Die historischen Irrungen und Wirrungen der Zeit blättert er auf, erzählt von Päpsten und Kaisern und martialischen Aufrufen zum Kreuzzug, lässt einen arabischen Chronisten ebenso wie einen französischen Mönch und viele andere zu Wort kommen. Vor allem aber immer wieder Vigdis/Hamutal, „die Bekehrte“ (wie der flämische Originaltitel auch übersetzt werden kann), die in vielerlei Hinsicht eine Fremde bleibt: Schon äußerlich ist sie, blond und blauäugig, anders als die anderen Frauen der jüdischen Gemeinde, aber auch innerlich bleibt sie zwischen dem Glauben ihrer Kindheit und den neuen, fremden Ritualen und Gebeten zerrissen, so sehr sie sich auch zum Judentum als einer Religion hingezogen fühlt, deren Geschichte und Zeitrechnung „nicht bei Folter und Kreuzigung beginnt“, sondern „mit einer kreativen Tat einsetzt, nämlich dem Anfang des Lebens selber...“

Ihr eigenes Leben ähnelt freilich eher einer Passionsgeschichte; dass sie uns nicht wirklich berührt, mag genau daran liegen: Es ist zu viel, was diese gebrochene Heldin erleiden muss, denn jeden erdenklichen Schicksalsschlag bürdet der Autor ihr auf. Ein Zuviel auch in manchen Passagen, in denen Hertmans die Gefühle und Leidenschaft Hamutals und ihres Geliebten zu beschreiben versucht; dort wird es mitunter schwülstig und pathetisch. So liest sich oft die wahre Geschichte von Hertmans Spurensuche spannender als die erdachte seiner Protagonistin, die letztlich auch für die Leserin eine Fremde bleibt.

Jutta Schreur

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Samuel Scheidt: Cantiones Sacrae

Das dritte „Sch“

Samuel Scheidt ist wieder da
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Wer sie hört, kann sich der Suggestivkraft dieser wunderbaren, jahrhundertelang vergessenen Musik nicht entziehen.

Unter den drei großen „Sch“ in der deutschen Musik des 17. Jahrhunderts überstrahlt Heinrich Schütz die beiden anderen. Nicht nur, dass der schon zu Lebzeiten als „Vater unser deutschen Musik“ verehrte Dresdner Hofkapellmeister am längsten von allen dreien auf Erden wirkte - sagenhafte 87 Jahre von 1585 bis 1672 -, sondern überdies gehört sein Werk zu den Schätzen, die seit über einem Jahrhundert verlässlich gehoben und vermessen werden.

Da haben es die anderen „Schs“ schwerer: Johann Hermann Schein (1586 bis 1630) war ein deutlich kürzeres Leben als Schütz vergönnt, und im Chorwesen der Gegenwart kommen zumeist nur seine Motetten aus der unter dem Namen „Israelsbrünnlein“ bekannt gewordenen Sammlung zur Geltung. Noch schwerer hat es bis heute Samuel Scheidt (1587 bis 1654), das dritte „Sch“ im Bunde. Während Schein, der von 1616 bis zu seinem frühen Tod in Leipzig als Thomaskantor wirkte, in seinen Motetten eher dem italienischen Madrigalstil nacheiferte, ging Scheidt, der durch unglückliche Umstände zeitlebens nirgends länger eine auskömmliche Anstellung fand und schließlich in Halle ein Armenbegräbnis bekam, kompositorisch andere Wege. Ihm war es in seinen Vokalwerken mehr um das musikalisch-architektonische Moment und um eine konsequente kontrapunktische Setzweise als um unmittelbare Textausdeutung zu tun. Wer aber meint, Scheidts überlieferte Motetten über Psalmen und Choraltexte (zumeist von Martin Luther) seien deswegen spröde, täuscht sich sehr. Das Athesinus Consort Berlin entfaltet in seiner aktuellen Aufnahme eine tiefgründig intensive Klangschönheit, die mit reizvoller Sprachbetonung und lustvoll entfalteter wie gezähmter Dynamik gepaart ist, so dass sich der Hörer - einmal angefangen - der Suggestivkraft dieser wunderbaren, jahrhundertelang vergessenen Musik nicht entziehen kann.

Ihrer Kombinations- beziehungsweise Konfrontationsstrategie treu bleibend, haben Bresgott und seine Athesinüsse wie auch schon in der Vergangenheit moderne Chormusik von ihrem Hauskomponisten Frank Schwemmer (geboren 1961) eingeflochten, dem mit einer sechsteiligen Hoheliedmotette „Die Stimme meines Freundes“ für Violoncello und zehnstimmigen Chor von 2016 ein Meisterwerk gelungen ist, an dem man sich kaum satthören kann: Gezogene Sprache, Zischlaute und dabei eine Klanglichkeit, die sowohl in Sachen Dramatik und Harmonik Fesselndes und Reizvolles bietet. Summa: Diese CD ist eine Pioniertat, die hoffentlich eine Fortsetzung findet, denn noch schlummert genügend Scheidt in den Archiven und Frank Schwemmer scheint - so ist zu hören - vor Tatendrang zu sprühen. Na dann …

Reinhard Mawick

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Manfred Lütz: Der Skandal der Skandale

Irritierend

Konfessionelle Streitschrift
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Viele richtige Fakten, aber eine polemisch-tendenziöse Verarbeitung...

Dieses Buch beschert ein irritierendes Leseerlebnis. Über die ersten 1000 Jahre Geschichte des Christentums zieht Manfred Lütz den Leser in seinen Bann. Ab da erscheint manches fragwürdig. Doch beginnend mit Reformation und Aufklärung fängt man an zu überblättern und legt das Buch schließlich verärgert aus der Hand.

Lütz will die in der öffentlichen Meinung weitgehend unbekannte und verzerrt wahrgenommene Geschichte des Christentums dar- und richtigstellen. Sein passendes Gegenstück ist Herbert Schnädelbachs Fluch des Christentums. Als wissenschaftliche Basis dient dem Autor Toleranz und Gewalt - das Christentum zwischen Bibel und Schwert von Arnold Angenendt. Das gelingt ihm zunächst. Er arbeitet den friedfertigen Kern und die befriedende Wirkung dieser Erlösungsreligion heraus: Bergpredigt und Naturrecht erlauben es nicht, andere Völker per se abzuwerten. Das Gleichnis von Unkraut und Weizen verbiete es, abweichende religiöse Meinungen auszumerzen. Weiter zeigt Lütz: In der Hexen- und Ketzerverfolgung war die Kirche nicht die treibende Kraft. Und die Opferzahlen der Inquisition liegen weit unter dem, was landläufig an Informationen verbreitet wird. Freilich hantiert Lütz dabei mit einem gestuften Kirchenbegriff: Kirche umschließt für ihn zunächst primär Päpste, Priester und Orden.

Die Schandtaten der Kreuzzüge und Pogrome aber werden vornehmlich den Laien - weltlichen Herrschern und einfachen Leuten - zugerechnet. Entschuldigend führt der Autor zudem an, die von ihm so definierte Kirche habe gar nicht die Macht gehabt, Menschen hinzurichten. Sie habe Menschen nach Religionsprozessen lediglich an den weltlich richtenden Arm übergeben.

Lütz macht sich so zum Apologeten seiner Kirche. Die Orthodoxie wird kaum erwähnt und pauschal als machtverquickt gebrandmarkt, der Protestantismus meist mit ein paar tendenziösen oder gar falschen Behauptungen abgewatscht. Lütz behauptet: Der Protestantismus kenne kein Naturrecht, obgleich etwa Philipp Melanchthon selbst den feindlichen Türken Gottebenbildlichkeit und eine natürliche Erkenntnis der Zehn Gebote zuschrieb. Er greift die Aufhebung der weiblichen Orden als diskriminierend für alleinstehende Frauen an. Er beklatscht die Abstinenz gegenüber neuen geistigen, oft protestantisch geprägten Entwicklungen im 19. Jahrhundert, da sie letztlich zu einer Stärkung des katholischen Milieus geführt hätte. Und er findet gar gute Seiten an Index und Zensur.

Das alles ist Geschichte. Doch in der Gegenwart gibt es noch andere Probleme. Lütz tippt sie erst an und vollzieht dann Ausweich- und Ablenkungsmanöver. Thema Frauenpriestertum: In der Messe handle der katholische Priester in der Rolle Christi. Da Christus aber ein Mann gewesen sei, könne es keine katholischen Priesterinnen geben. Gegenangriff: Evangelische Pastorinnen trügen mit Bäffchen und Talar „verräterischerweise“ Männerkleider. Zugeständnis: Es ginge beim Priesteramt auch um Macht. Sein Vorschlag: Ämter nicht als Macht sondern als Dienst zu verstehen, und schon sei die Machtfrage relativiert. Außerdem beinhalte Macht ohnedies „eher Gefährdungen des eigenen Seelenheils“. Thema sexueller Kindesmissbrauch: Dieser sei kein spezifisch katholisches Problem. Zudem gäbe es jetzt die neue Opfergruppe der unschuldig Beschuldigten. Fazit: „Wie immer es die katholische Kirche anstellt, am Ende ist sie Opfer.“

Als Eindruck der Lektüre bleibt, viele richtige Fakten, aber eine polemisch-tendenziöse Verarbeitung. Als Anwalt seiner Kirche bietet Lütz eine entlastende Story, die immer weniger zu überzeugen vermag. Der Psychiater und Theologe hat hier eine knallige konfessionelle Streitschrift fabriziert. Ökumene sieht anders aus.

Sebastian Kranich

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Manfred Herzer: Magnus Hirschfeld und seine Zeit

Einstein des Sex

Über Magnus Hirschfeld
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Ein Standardwerk zur Geschichte der Sexualforschung und zugleich ein fundiertes Sitten- und Gesellschaftsgemälde.

Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, und schuf sie als Mann und Frau“ (Genesis 1, 27). Im Bibelmythos scheint klar, dass die Menschen geschlechtlich getrennte Wesen sind. So verstand man das jahrtausendelang in der jüdisch-christlichen Welt. Frauen und Männer lebten in klar abgegrenzten Sozialbereichen, und oft wurde Weibliches patriarchalisch abgewertet. Erst im vergangenen Jahrhundert veränderte sich diese Sicht. Daran hat die Sexualwissenschaft und mit ihr der Mediziner Magnus Hirschfeld (1868-1935) großen Anteil. Hatte Albert Einstein mit seiner 1916 abgeschlossenen Relativitätstheorie dargelegt, dass es in Raum und Zeit keine unbedingten, universell gültigen Ordnungsstrukturen gibt, sondern nur relative, vom Standpunkt des Betrachters abhängige, so erkannte Hirschfeld durch die Behandlung tausender Patienten, dass es keine absoluten Männer und Frauen gibt, sondern nur durch die jeweiligen Verhältnisse bedingte Personen: „Jeder Mensch ist Mann und Weib zugleich, nur in einem bestimmten Verhältnis (Relation) beider Geschlechtskomponenten.“

Der Historiker Manfred Herzer, 1982 Mitbegründer der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und seit 1985 Herausgeber der Zeitschrift für schwule Geschichte, Capri, hat vielfach zu diesem Thema publiziert. Im Oktober 2017 veröffentlichte er die Summe seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Sexologen: Magnus Hirschfeld und seine Zeit ist ein Standardwerk zur Geschichte der Sexualforschung und zugleich ein fundiertes Sitten- und Gesellschaftsgemälde. Die wissenschaftliche Untersuchung kennzeichnet eine außerordentliche Detail- und Sachkenntnis; getragen wird sie von steter Empathie des Autors für seinen Protagonisten.

Herzer begleitet Hirschfeld von seiner Kindheit in einer jüdischen Arztfamilie im pommerschen Kolberg bis zum Tode am 67. Geburtstag im Exil in Nizza. Hirschfeld wollte zeitlebens das „Rätsel der Liebe“ entschlüsseln. Auch aufgrund seiner eigenen Disposition kämpfte er unablässig für die Befreiung der Homosexuellen. 1897 war er Initiator des „Wissenschaftlich-humanitären Komitees“ und mit seinem Berliner „Institut für Sexualwissenschaft“ leistete er durch Publikationen und Petitionen Pionierarbeit in der Sexualaufklärung. Der Nervenarzt war davon überzeugt, dass Menschen bisexuell sind, jede(r) habe weibliche und männliche Eigenschaften in einem individuellen Mischungsverhältnis. Weiblichkeit und Männlichkeit umfasse unzählige Schattierungen, intersexuelle Varianten, es gebe von einem zum anderen viele „Zwischenstufen“. Die jeweils vorhandene primäre Triebrichtung könne durch äußere Einflüsse, wie Erziehung und Gesellschaft, gefördert, gelenkt oder unterdrückt werden.

Als Hirschfeld vor den Nazis fliehen musste, verbreitete er von 1931 bis 1935 seine Erkenntnisse auf ausgedehnten Vortragsreisen in den usa, Asien, Ägypten und Palästina. Doch in Deutschland fiel der Homosexuellenparagraph 175 erst 1994, 2016 trat ein Entschädigungsgesetz, 2017 die „Ehe für alle“ in Kraft. Das alles ist auch ein Verdienst Magnus Hirschfelds.

Die wegweisende Untersuchung fordert heraus, die eigene Sexualität und Geschlechterrollen im Allgemeinen - auch die der Bibel - zu reflektieren. Die Verfasser des Schöpfungsmythos glaubten, Gott habe den Menschen singulär weiblich und männlich geschaffen. Doch sollte im Ebenbild getrennt sein, was im Urbild vereint ist? Manfred Herzer setzt als Mut machendes Motto über seine Monographie ein Bibelwort in der Übertragung des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber - einem Unterstützer der Schwulenemanzipation: „Für alles ist eine Zeit, eine Frist für alles Anliegen unter dem Himmel“ (Prediger 3, 1).

Robert M. Zoske

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Jürgen Kaube: Lob des Fußballs

Edles Kaminholz

Jürgen Kaube über Fußball
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Fußballinteressierte werden das Buch in einem Zug an einem Nachmittag durchlesen.

Die Fußballweltmeisterschaft steht vor der Tür, und folglich naht auch in gebildeten Kreisen die Beschwernis, den Fußball als gesellschaftlich-kulturelles Phänomen ernst nehmen zu müssen, denn mit der WM kommt die Zeit, in der auf Empfängen und Einladungen selbst im gehobenen Smalltalk der Fußball ins Zentrum rückt.

Was tun? Wie redet man intellektuell-gehoben über Fußball? Wie bereitet man sich auf Abende am imaginären Fußballkamin während der WM vor, wie kann man glänzen, wie sticht man den luzide parlierenden Konkurrenten aus?

Rettung naht, denn Jürgen Kaube, der für das Feuilleton verantwortliche Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat nun ein intelligentes und kurzweiliges Buch veröffentlicht, ein Lob des Fußballs, das Abhilfe schafft. Kaubes neuste Fußball-Veröffentlichung ist nicht nur ein geistreiches Lesevergnügen, sondern sie schließt auch eine wichtige Lücke, sofern davon in der schier unüberschaubaren Zahl jener Veröffentlichungen, mit denen sich das Feuilleton, wie der Schriftsteller F.C. Delius kürzlich verlautbarte (siehe Seite 49), an den Fußball heranschmeißt, überhaupt noch die Rede sein kann.

Kaube liefert in - wie kann es anders sein - elf Kapiteln tiefschürfende Erkenntnisse und entlegene Fakten, die auch Kenner des Metiers beeindrucken können. So wird jeder bei David-Goliath-Erinnerungen im Fußball auf die schon etwas abgedroschenen Beispiele Deutschland 1954, Nordkorea 1966 oder in Sachen DFB-Pokal auf HSV-Bezwinger SC Geislingen 1984 oder den Bayernkiller TSV Vestenbergsgreuth 1994 kommen. Aber die wahre David-Goliath-Geschichte des Fußballs präsentiert Kaube, wenn er seine Leserschaft mit dem Sporting Club Union El Biar bekannt macht, einem Club aus einem Vorort von Algier, der im Februar 1957 im Sechzehntelfinale des französischen Pokals in Toulouse gegen die damalige französische Spitzenmannschaft Stade de Reims 1:0 siegte und dies im Schatten des tobenden Algerienkrieges, dessen Kampfhandlungen es El Biar unmöglich machten, das nordafrikanische Heimrecht wahrzunehmen. Wahnsinn! Mit dieser Geschichte ist man der König intellektueller Fußballplaudereien. Hundertprozentig!

Des Weiteren führt Kaube in seinem Buch in ästhetische und existentielle Tiefen und spart auch mit bitteren Weisheiten nicht, die jedes Fußballgeflachse existenziell erden, zum Beispiel wenn er über die Fußballmillionäre unserer Tage schreibt: „Viele (Spieler) leben wie in einer Kapsel, die von innen mit Spiegeln ausgekleidet ist, in denen sie ihre Körper betrachten. Sie begreifen nicht, wer sie sind, weswegen es ohne Berater für sie gar nicht geht, aber mit Beratern liegt häufig auch kein großer Segen auf diesem Leben.“ Wohl wahr. Oder wenn er kluge Erwägungen über den spektakulären Platzverweis des Weltstars Zinedine Zidane im WM-Finale 2006 in einem Zitat der Soziologin Nikola Tietze münden lässt: „Zidane flößt nicht nur Respekt ein, vielmehr hat man ihn zum Inbegriff des Respekts stilisiert.“ Schließlich verblüfft Kaube mit Sinnsprüchen der Selbsterkenntnis, auf deren Formulierung man in der Tat erst mal kommen muss, nämlich, dass das Verfolgen der Fußballwelt eine „romantische Übung des Poetisierens von etwas selbst ganz Sprachlosem“ sei. Wow.

So geht es in einer Tour. Fußballinteressierte werden das Buch in einem Zug an einem Nachmittag durchlesen. Dem Sport fernstehendere Zeitgenossen werden schon etwas länger brauchen und sollten sich Notizen machen. Dann aber haben sie genug Kaminholz, sprich Gesprächsstoff, um WM-Abende mit funkelnden Erkenntnissen und Pointen zu bestreiten. Nur in einem Punkt muss der Rezensent Kaubes fulminantes Wissen infrage stellen, wenn derselbe zu den Widersprüchen unterschiedlicher Anspruchshaltungen in der Clubwelt schreibt: „In München entlässt man Trainer, wenn man sich auf Platz zwei befindet oder deutlich in Paris verliert, andernorts tut man gut daran, (…) jeden erzielten Punkt von 38 abzuziehen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie weit es noch bis zum Klassenerhalt ist.“ Ob 38 Punkte in der laufenden Saison in der Zweiten Liga zum Klassenerhalt reichen, steht zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen bedenklich in den Sternen. Was meinen Sie, Herr Kaube?

Reinhard Mawick

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Hans Joas: Die Macht des Heiligen

Anregend

Entzauberung der Welt
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In seinem neuen Buch versucht Hans Joas nichts Geringeres, als der geläufigen Rede von der Entzauberung eine Alternative entgegenzusetzen

Der Begriff der „Entzauberung“ stellt einen bedeutenden und zugleich schillernden Schlüsselbegriff der Moderne dar. Er geht zurück auf den Soziologen Max Weber und steht für einen linearen geschichtlichen Rationalisierungsprozess, in dem sich unterschiedliche Kulturbereiche wie Politik, Recht und Wirtschaft ausdifferenzieren, und auch die Religion auf ihr eigenes Gebiet zurückgedrängt wird. Darin ist er mit dem Säkularisierungsbegriff verwandt. In seinem neuen Buch versucht Hans Joas nichts Geringeres, als der geläufigen Rede von der Entzauberung eine Alternative entgegenzusetzen: eine alternative Geschichtsdeutung, die neben Entwicklungen der Entsakralisierung auch (Re-) Sakralisierungsphänomene berücksichtigt.

Der zu den renommiertesten Soziologen und Sozialphilosophen zählende Joas, der zugleich einer der profiliertesten Religionstheoretiker der Gegenwart ist, führt diese alternative Geschichte jedoch nur skizzenhaft im letzten der sieben Kapitel dieses Buches durch. Die vorausliegenden Teile fragen vielschichtig nach den Bedingungen der Möglichkeit einer solchen neuen Religions- und Sozialgeschichte. Dies macht die rund 500 Seiten aber keineswegs weniger lesenswert.

In den ersten drei Kapiteln geht Joas zunächst der Frage nach, ob Religion überhaupt Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung sein kann, wenn doch bei jedem Wissenschaftler religiöse oder antireligiöse Motive mit im Spiel sind. Joas widmet sich wissenschaftshistorisch drei Disziplinen, die sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet haben: der Geschichte, der Psychologie und der Soziologie der Religion, für die große Denker wie David Hume, William James und Émile Durkheim Pate stehen. Joas kommt zu dem Schluss, dass eine wissenschaftliche Erforschung der Religion trotz vorausliegender religiöser oder antireligiöser Motive gelingen kann. Zugleich bestimmt er Religion als auf individueller Erfahrung beruhend, historisch bedingt, durch Symbole vermittelt und durch soziale Praktiken konstituiert.

Im vierten Kapitel präsentiert Joas die beiden klassischen Syntheseversuche des frühen 20. Jahrhunderts durch den protestantischen Theologen Ernst Troeltsch und durch Max Weber. Dabei hebt er die Bedeutung von Troeltschs Konzeption hervor, die die Bildung von religiösen Idealen „als Wechsel von Sakralisierungs- und Entsakralisierungsprozessen“ in politisch-sozialen Kontexten rekonstruiert. Demgegenüber kritisiert er auf Grundlage einer minutiösen Textanalyse die Unklarheiten von Webers Rede von der Entzauberung, die zu Missverständnissen einlädt. Joas hält Troeltschs abgeschlossenes Programm deshalb für tragfähiger.

Nach Kapiteln zur „Achsenzeit“ und den Gefahren von Prozessbegriffen bietet Joas im letzten Abschnitt die angesprochene Alternativskizze. Dabei erneuert er seine grundlegende These, dass „Menschen in ihrem Zusammenleben wesentlich von Idealen“ geleitet sind, die nicht zuletzt aus religiösen Quellen speisen. Diese können auch Auswirkungen auf andere Bereiche der Gesellschaft haben. Diese Bereiche, wie es die Politik exemplarisch darstellt, behandelt er unter der Perspektive der „Macht“. Deshalb konzipiert er seine Alternative zur Entzauberungsgeschichte als „Geschichte der Fusionen von Religion und Macht“. Sie möchte dem machtstützenden und dem machtkritischen Potential von Religion gleichermaßen Rechnung tragen.

Hans Joas’ groß angelegtes, informatives und höchst anregendes Werk verlangt dem Leser Aufmerksamkeit ab, ist aber in vielerlei Hinsicht ein intellektueller Genuss.

Gregor Bloch

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Foto: Mario Brink

Gregor Bloch

Gregor Bloch ist Pfarrer und theologischer Mitarbeiter des Evangelischen Bundes Westfalen und Lippe. Er wohnt in Detmold.

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Daniel Kehlmann: Tyll

Variantenreich

Gehört: Der Dreißigjährige Krieg
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„Eulenspiegeleien“ gibt es immer, doch je grauenvoller die Zeiten sind, desto lebensnotwendiger wird es, sich etwas vorzugaukeln

Früher war jetzt. Und jetzt ist jetzt. Und in der Zukunft, wenn alles anders ist, und wenn es andere Menschen gibt, und keiner außer Gott mehr von ihm… weiß, dann wird es immer noch jetzt sein.“ Als Tyll seine Angst in diesen Gedanken versenkt, steht dem Jungen wieder einmal einer der Traumatisierungen bevor, die seine Kindheit vergiften.

Der Satz erklärt zugleich, warum Daniel Kehlmann die Geschichte des Eulenspiegels vor der Kulisse des Dreißigjährigen Kriegs erzählt. „Eulenspiegeleien“ gibt es immer, doch je grauenvoller die Zeiten sind, desto lebensnotwendiger wird es, sich und allen anderen ein schmerzreduziertes Jetzt vorzugaukeln. Tyll jongliert, tanzt, balanciert auf dem Seil, damit die Zeit still steht. Er ist Entertainer der kleinen Leute und Begleiter von gekrönten, aber geplagten Häuptern, denen er als Hofnarr ungestraft die Wahrheit um die Ohren hauen darf.

Eine dritte Funktion teilt die Figur wiederum mit ihrem Autor: Beide setzen ihre Künste ein, um prä- und postmoderne Wissenschaften als Trug zu entlarven; von theologischen „Beweisen“ für die Hexerei bis zu einer Historiografie, die sich auf gefälschte Lebensberichte stützt. Es geht nur um „Performance“. Entsprechend wagemutig jongliert dieser Roman mit Personen, Namen und Anekdoten. Zwischen Darsteller, Dargestellten und Leserinnen entsteht eine - scheinbare? - Gleichzeitigkeit, jenes literarisch erzeugte „Jetzt“, das historische Abstände einfach wegzaubert. Ohne die Kunst Ulrich Noethens stünde die Hörerin in der Gefahr, sich im Labyrinth der Charaktere zu verirren. Aber der Schauspieler gibt mit seiner ungeheuren Variationsbreite jeder von ihnen eine unverwechselbare Stimme.

Susanne Krahe

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Christoph Morgenthaler u.a.: Assistierter Suizid ...

Differenziert

Assistierter Suizid in der Schweiz
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Differenziert, ausgewogen und trotz der komplexen Thematik sehr gut verständlich.

Sterbehelfer und Assistierter Suizid im kirchlichen Altenheim? Ja, sagte 2001 die Reformierte Kirche der Kantone Bern-Jura und erlaubte nach intensivem Diskurs Sterbehilfeorganisationen den Zugang zu ihren Pflegeeinrichtungen. Es war der Beginn einer Entwicklung, in deren Verlauf das Schweizer Bundesgericht 2016 das Recht aller Bürger auf Suizid auch in Pflegeeinrichtungen schwerer gewichtete als die Selbstorganisationsrechte gemeinnütziger (Religions-) Gemeinschaften. Sehr konsequent, dass die Reformierte Kirche ihren Weg verantwortungsbewusst weitergeht und nun einen lesenswerten und äußerst feinfühlig konzipierten Zwischenbericht zum Thema vorlegt.

In diesem wird, wissenschaftlich fundiert, die aktuelle Situation rund um den Assistierten Suizid in der Schweiz faktenreich beschrieben. Mit kommentierten Fallbeispielen gewährt Christoph Morgenthaler, emeritierter Professor für Seelsorge und Pastoralpsychologie an der Universität Bern, einen Einblick in die Arbeit von Gemeindepfarrerinnen und -pfarrern, die Menschen und deren Angehörige bei einer „Abdankung“ begleiten. Die Gespräche finden im Kontext vom ersten noch ganz unsicheren Gedanken an einen Suizid bis zur Gestaltung eines Trauergottesdienstes und dessen Nachsorge statt. Verbatim-Auszüge und Kommentare machen diese Sektion zur lohnenswerten Poimenik-Lektüre für alle Seelsorgenden, die Menschen in Sterbe- und Trauerphasen - weit über das Umfeld eines Suizids hinaus - beistehen.

Im Anschluss beleuchtet Matthias Zeindler, Systematischer Theologieprofessor an der Universität Bern, ethische und theologische Grundsatzfragen, die bei der Begleitung Sterbewilliger berührt sind. Etwa anthropologische Fragen, wie die Geschöpflichkeit des Menschen und die Reichweite seiner Entscheidungskompetenz über Leben und Tod. Schließlich gelingt es David Plüss, Professor für Homiletik und Liturgik, ebenfalls in Bern, die Verknüpfung von Reflexionsebene und pastoralen Praxiserfahrungen nicht aus den Augen zu verlieren. Er schärft den Blick von Gemeindeseelsorgern für kirchliches Handeln im gesellschaftlich wie theologisch kontrovers diskutierten Suizidumfeld und thematisiert zu Recht, dass Sterbebegleitung durch Kirchenvertreter neben der höchstprivaten auch eine öffentliche Dimension aufweist. Welchen Auftrag wollen Sterbewillige, welchen Angehörige den Seelsorgern erteilen? Wie soll, wie darf im Rahmen der kirchlichen Bestattung vom Suizid gesprochen werden? Mit welcher Haltung lässt sich ressourcenorientiert gleichzeitig vom Ja zum Leben und von der Akzeptanz eines Sterbewunsches sprechen? Und was bringen gerade Religionsvertreter als Gesprächspartner mit, wenn es um die Einordnung von und eine rituelle Schau auf Leben, Sterben und die Zeit danach geht? Welche biblischen Texte und Sprachbilder sind angemessen?

Differenziert, ausgewogen und trotz der komplexen Thematik sehr gut verständlich: Assistierter Suizid und kirchliches Handeln. Fallbeispiele - Kommentare - Reflexionen.

Michael Friess

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Timothy Snyder: Über Tyrannei

Parallelisierungen

Vergleichbar? USA und Europa
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Durchgehend arbeitet Snyder mit Parallelisierungen, die analytisch undifferenziert und somit wenig plausibel sind.

Gewiss: Die bereits über ein Jahr andauernde Amtszeit von Donald Trump ist eine weltpolitische Herausforderung. Und ebenso gewiss wird der Einwohner eines bürgerlich bis linksliberal regierten Staates in West- oder Mitteleuropa trotz kontinuierlicher Berichterstattung aus Übersee nur schwer nachvollziehen können, was es in praxi für einen kritischen Geist bedeutet, unter der Regierung eines, wenn auch demokratisch gewählten, teils irrational agierenden Rechtspopulisten zu leben, der über ein enormes Waffenarsenal verfügt.

Vor diesem spezifischen Hintergrund ist Timothy Snyders Denkschrift "On tyranny. Twenty lessons from the twentieth century" zu verstehen, die in der Übersetzung von Andreas Wirthensohn jetzt auch auf Deutsch erschienen ist. Diese 20 Lektionen aus der Geschichte der großen totalitären Strömungen des 20. Jahrhunderts können erst einmal als ein Seismograph dafür verstanden werden, welche gefährlichen Entwicklungen ein amerikanischer Osteuropahistoriker - aus der Perspektive seines Fachgebietes -in der gegenwärtigen US-amerikanischen Politik ausgemacht hat. Wenn ein deutscher Verlag Snyders grundsätzliche Überlegungen zur Anwendung auf die politischen Entwicklungen in Europa empfiehlt, ergeben sich freilich - neben großer Zustimmung für das Grundanliegen - kritische Rückfragen.

Zunächst einmal steht außer Frage, dass diese Forderungen insgesamt und jede für sich ihre Berechtigung haben - weshalb sie allerdings auch bereits mehrheitlich bekannt und (mithin unter Anknüpfung an die deutsche und die europäische Zeitgeschichte) im politischen Bildungskanon fest verankert sind; etwa das Prinzip, keinen vorauseilenden Gehorsam zu leisten, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen oder Fehlinformationen im öffentlichen Diskurs gegenzusteuern. Hinzu kommen einzelne Lektionen, die sich tatsächlich auf neuere Phänomene und Herausforderungen beziehen, wie die Privatisierung von Gewalt (Lektion sechs: „Nimm dich in Acht vor Paramilitärs.“) oder so genannte Fake News (Lektion zehn und elf: „Glaube an die Wahrheit.“ - „Frage nach und prüfe.“).

Durchgehend arbeitet Snyder bei der Herleitung dieser Forderungen aus der Geschichte mit Parallelisierungen, die analytisch undifferenziert und somit wenig plausibel sind, wodurch historische Unterschiede nicht klar genug herausgearbeitet werden - etwa der Unterschied zwischen dem nationalsozialistischen Deutschen Reich der Dreißiger- und Vierzigerjahre und den Vereinigten Staaten der vergangenen acht Jahre. Durch diese Nivellierung gewinnt Snyders Text zwar an rhetorischer Schärfe; letztlich überschattet dieses alarmistische Angstszenario einer bevorstehenden autoritären Herrschaft jedoch seine Analyse der Gegenwart und seine Vorschläge zur Lösung des Problems.

So hinterlässt das Buch am Ende den Eindruck, dass es dem Autor von "Über Tyrannei" weniger um eine pragmatische Anleitung zu angemessenen Reaktionsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft auf populistische und autoritäre Tendenzen in Politik und Gesellschaft geht, sondern in erster Linie darum, den Trump-Kritikern eine gemeinsame Identität zu verschaffen, indem er ihnen die Möglichkeit gibt, sich in die Tradition des Widerstandes gegen die totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts hineinzulesen. Doch je mehr Snyders Thesen von einer emotional aufgeladenen politischen Situation sui generis in den USA herrühren, desto stärker muss ihre Rezeption im Hinblick auf rechtspopulistische Strömungen in Europa differenzieren, die mit den USA korrespondierende, aber dennoch eigenständige Phänomene darstellen; zumindest solange es bei dieser Rezeption um mehr gehen soll als um eine weitere Verhärtung bereits bestehender ideologischer Fronten.

Tilmann Asmus Fischer

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Rolf Dobelli: Die Kunst des guten Lebens

Ross und Reiter

Warnung vor falschen Ratgebern
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Ein Amalgam aus stoischer Philosophie, positiver Psychologie und Milliardärsweisheiten.

Neben Krimis sind Ratgeber im Buchgeschäft Melkvieh zum Querfinanzieren hoher Literatur. Da sollte man nichts gegen sie haben. Kommen sie jedoch auf hohem Ross daher, darf man meutern, mitunter gar barren - den Autor, nicht das Pferd. Mit dem Amalgam aus stoischer Philosophie, positiver Psychologie und Milliardärsweisheiten mit sonorem Selbstbewusstsein ist der Herrenreiter Rolf Dobelli so ein Kandidat dafür. Erfolgreich liefen bereits "Die Kunst des klaren Denkens" beziehungsweise "... des klugen Handelns", nun legt er mit "Die Kunst des guten Lebens" einen drauf. „52 überraschende Wege zum Glück“, so der Untertitel, mithin Wochenlosungen, was mit der Kunst des guten Verkaufens zu tun hat: Neue Zürcher Zeitung und Handelsblatt brachten sie in wöchentlichen Vorabdrucken.

Unter der Maßgabe „Warum es sinnlos ist, in der Vergangenheit zu wühlen“ knüpft er sich etwa das Selbstmitleid vor. Zu Recht, findet man intuitiv, staunt dann jedoch, dass er auch so genanntes Aufarbeiten zu einem Akt des Selbstmitleids erklärt, gegen das er anschreiben zu müssen meint. Ein Trend? Erst unlängst klassifizierte der umstrittene Historiker Jörg Baberowski die „Aufarbeitung“ als ein „protestantisches Konzept“. Was er damit eigentlich andeuten wollte, führt uns indes auf ein Nebengleis. Dobelli zieht indes nach einer spottenden Anekdote von „Investor“ Charles Munger, dessen Ansichten er neben denen des Megamilliardärs Warren Buffett gern zitiert, vom Leder: „Da ist zum einen das gesellschaftliche Aufarbeiten, bei dem große Gruppen sich als Opfer von teilweise Hunderte von Jahren zurückliegenden Vorfällen fühlen.“

Trotz sachter Generosität gegenüber Schwarzen in den USA urteilt er hart: „Unproduktiv, ja geradezu toxisch, ist dieses Denken trotzdem.“ Vergangene Unbill und Widrigkeiten der Gegenwart gelte es zu bewältigen oder zu ertragen, kollektives Selbstmitleid sei so unergiebig wie individuelles - was er sich dann vorknöpft. Ruppig stößt er jene von „der Couch des Therapeuten“, die dort Verstehen suchen, indem er behauptet: „Wer noch mit vierzig die Eltern für seine Probleme verantwortlich macht, ist so verdammt unreif, dass er diese Probleme schon fast verdient hat.“

Als ob es etwa bei der Analyse darum ginge! Sei’s drum, er hat Untersuchungen in petto, die deren Unsinn belegen. Studien von „Think Positive“-Psychologen sind für einiges gut. Das Fallbeil: „Viel bestimmender als unsere Geschichte sind unsere Gene - und deren Verteilung ist reiner Zufall.“ Folge Unglücklichsein daraus, gelte es dies zu bewältigen oder zu ertragen. So funktioniert Stoizismus: Wohltemperierte emotionale Selbstbeherrschung. Mag sein, dass das manche aus dem Selbstmitleid rettet, der Geist, der daraus exemplarisch spricht, ist jedoch deutlich: Die Welt ist, wie sie ist, man sollte sich darin einrichten, so bequem es geht, sie nicht verbessern wollen, sondern den eignen Status optimieren und sich gut dabei fühlen. Zielgruppe sind deutlich Chef- oder Oberärzte auf dem Weg dorthin, nicht Krankenschwestern und Gesellen. Leute halt, die ein Milliardärskasino mit unverdientem Einkommen goutieren oder sich, so sie darauf stehen, Pferde halten. Hier führt ein hochgebildeter Reicher schreibbegabt die Feder. Dobelli (51) war vor deren Punktlandung schon sehr jung Boss diverser Swissair-Töchter, zudem einer der getAbstract-Mitbegründer, einem einträglichen Lieferanten von Buchzusammenfassungen.

Indem er die evolutionäre Zuchtwahl der Arten auf die Gesellschaft überträgt, reüssiert er als Säulenheiliger der Affirmation, dem die Leute in Scharen folgen, wie die Dauerpräsenz der „Kunst des“ auf den Bestsellerlisten belegt. Doch davor ist aus protestantischer Sicht zu warnen - denn ganz wie Luther schrieb: „Frösche brauchen Störche.“

Udo Feist

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