King Krule: The Ooz

Rotz zum Verlieben

„The Ooz“ von King Krule
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Auch in Verlorenheiten lässt sich zu Hause sein, tief im Vorübergehen.

Auf der anderen Seite des Tages ist auch die Welt. Dort mit Archy Ivan Marshall unterwegs zu sein, zeigt ein starkes Bild. Dessen Farben und Fabeln entstammen Körpersäften und -auswüchsen: Schuppen abgestorbener Haut, Salz von Tränen, körnigem Schlaf, Schweiß, Rotz im Hals, nachwachsenden Haaren und Nägeln. „The Ooz“, das, was aussickert (ein Kunstwort von englisch oozing), heißt denn auch King Krules zweites, heiß erwartetes Album nach dem Paukenschlag „Six Feet Beneath the Moon“ von 2013. Da war der bleiche rothaarige Schlacks aus Londons Süden 19 und hatte bereits unter anderen Namen vorgelegt. Nun ist der zu Schulzeiten Schwierige mit der viril tiefen Stimme, dem die Musik kreative Ventile öffnete, 23 Jahre alt - und erstaunt weiter. Eben wenn er nachts in seiner Stadt unterwegs ist, inmitten von hungrig Gescheiterten, genialen Verkannten und getriebenen Flaneuren - wo Ratten huschen, Dealer verstohlen einträglich liefern, halsbrecherische Skater Saxophon spielen, Obdachlose und Versprengte unter dunstverhangenen Straßenlaternen Zigaretten schnorren und Liebespaare Verwirrtsein üben. Denn auch in Verlorenheiten lässt sich zu Hause sein, tief im Vorübergehen. Das ist Präzision all der Facetten von Grau und oft Übersehenem - verschleppt oder adrenalingetrieben, aber im Detail genau.

King Krule mit der sonoren Stimme und seiner virtuos gespielten Gitarre schaut hin und sieht alle Nuancen scharf: Die berückenden Mosaike und Collagen changieren organisch zwischen Jazz und Lounge, HipHop, düsterem Wave, reduziertem Dubstep und jüngsten Club-Elektronika. Ganz wie es passt. 19 Tracks, in denen er mal rappt oder spoken words-mäßig erzählt, singt, schreit, schreitet, klagt. Das klingt nach Beat Poets-Revisited, zerquältem Tom Waits sowie unbekümmerter Avantgarde, zitiert vieles und ist doch eigenständig. Hier hat der Hype Recht: King Krule ist ein Ereignis, obwohl er selbst es nicht darauf anlegte, sondern bloß losging. Die Bildfluchten haben Sog, die stimmigen Sounds sind farbecht und bezwingen, die Haltung ist klar wie etwa in „Vidual“: „I put my trust in many things but now I know that‘s dumb/So I don’t trust anyone, only get along with some“. Einer der Up-Tempo-Tracks mit Maschinendrums, dumpfem Bass, Gitarre - fast schon Cramps-Psychobilly. Der Gesang ist getrieben, in breitem Londoner Slang, ein Pete-Doherty-Stomp, bloß eben - waschecht King Krule. Abrupt folgt darauf mit „Bermondsey Bosom Right“ ein meditatives Jazz-Gedicht. Zurückhaltung, die „Half Man Half Shark“ danach gleich wieder verdampft. Saxophontremolo und Bassdrum, darüber Gesang in fesselndem Rap-Groove, der zu Keyboard-Akkorden überraschend sanft ausklingt.

King Krule nimmt mit in die Nacht, ist starker Erzähler, Rezitator und eleganter Crooner oder führt ruppig Beschwerde, aber ohne Anspruch auf Erlösung. Ein blutjunger Nachtschwärmer, der allem, was nachwächst, faszinierend Gestalt gibt. „The Ooz“ ist immens vielgestaltig und doch in sich rund. Rotz zum Verlieben!

Udo Feist

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Jürgen Werbick: Die Angst durchkreuzen

Auf der Höhe

Über die Angst
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Der Münsteraner Theologe breitet mit knappen Strichen das ganze Panorama heutiger Ängste aus, sowohl der individuellen wie der kollektiven.

Es ist ausgesprochen passend, dass eine Predigtreihe zu den Kar- und Ostertagen das abschließende Kapitel dieses Buchs bildet. Der emeritierte katholische Münsteraner Fundamentaltheologe Jürgen Werbick, ein überdurchschnittlich produktiver Autor, treibt nämlich eine Theologie nahe an der Verkündigung als einer der kirchlichen Grundaufgaben. Das macht sich in einem nicht selten predigthaften Ton bemerkbar, der auch sein neuestes Buch Die Angst durchkreuzen prägt und der nicht unbedingt jedermanns Sache ist. Damit geht allerdings keine Schwäche in der Sachargumentation einher, ganz im Gegenteil: Werbick hat auch zum Thema Angst und gläubige Angstbewältigung sehr viel Anregendes und Bedenkenswertes zu sagen, ist dabei voll auf der Höhe der gesamtgesellschaftlichen wie theologisch-kirchlichen Problemstellungen.

Der Münsteraner Theologe breitet mit knappen Strichen das ganze Panorama heutiger Ängste aus, sowohl der individuellen wie der kollektiven. Immer präsent in seinem Buch ist die derzeit vielfach anzutreffende und politisch instrumentalisierbare Angst vor massenhafter Zuwanderung und speziell vor dem Islam als vermeintlicher Bedrohung für das „christliche Abendland“ und seine Kultur.

Thematisiert werden aber genauso die Angst vieler Zeitgenossen und -genossinnen, im Kampf um Selbstoptimierung und Selbstdurchsetzung zu kurz zu kommen, oder die Angst vor zukünftigen Bedrohungen mit ihrem Rückgriff auf apokalyptische Vorstellungen. Ein eigenes Kapitel gilt dem durch ein Werk des Soziologen Hartmut Rosa unlängst prominent gewordenen Begriff der Resonanz beziehungsweise des Resonanzverlusts als Ursache von Angst.

Es ist typisch für den Umgang des Münsteraner Fundamentaltheologen mit der christlichen Tradition und mit den biblischen Quellen des Glaubens, dass er ausdrücklich auch von der „Glaubens- Angst“ handelt. Tenor seiner diesbezüglichen Ausführungen: „Wer christlich glaubt, zu glauben versucht, ist nie auf der sicheren Seite. Er oder sie muss etwas wagen: sich hineinwagen in die Dynamik Gottes selbst, die er oder sie an der Sendung Jesu, des Christus, kennenlernen, deren ‚Ziel‘ er aber nicht absehen kann.“ Werbick ist dementsprechend sehr kritisch in der Auseinandersetzung mit unzureichenden oder sogar schädlichen Weisen, dem Glauben Trost abzugewinnen, etwa durch ein Kleinmachen des Menschen als Sünder, um die rettende Zuwendung Gottes umso stärker herauszustellen.

Sein Buch wirbt vom Anfang bis zum Schluss im besten Sinn dafür, sich auf den im Leben und Sterben Jesu nachdrücklich vorgezeichneten und von gläubigen Menschen aller Epochen bezeugten Weg mit Gott einzulassen, das Wagnis des Glaubens einzugehen. Im Originalton Werbick: „Nur Gott kann das endlich-leibhafte Menschenleben zu einem Versprechen machen, das nicht hilflos um seine Erfüllung kämpfen muss und schließlich gebrochen wird.“

Auf dieser Grundlage wagt er unter anderem den Versuch, die traditionelle christliche Rede vom endgültigen Gericht oder von der Auferstehung des Fleisches neu zu buchstabieren, ohne dabei ein problematisches Wissen um die „letzten Dinge“ zu suggerieren. Im Blick auf die Kirche plädiert Werbick für Partizipation, deren Geheimnis darin liege, dass nicht Jedem alles gegeben sei, auch nicht den Amtsträgern. Das ist vermutlich in erster Linie an die Adresse seiner eigenen Kirche gesagt, ist aber auch darüber hinaus ein beherzigenswerter Ratschlag.

Ulrich Ruh

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Heinrich Böll: Hörwerke

Fulminant

Heinrich Böll im Originalton
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Eine hervorragende Edition mit Romanen, zahlreichen Erzählungen und Essays des Literaturnobelpreisträgers.

Fast 28 Stunden Heinrich Böll im Originalton im Ohr. Eine hervorragende Edition mit Romanen, zahlreichen Erzählungen und Essays des Literaturnobelpreisträgers (1917-1985), mit langen Interviews, Reden und Gesprächen ist zu seinem 100. Geburtstag erschienen. Sie spannt den Bogen von den frühen Fünfziger- bis in die Mitte der Achtzigerjahre. Diese Aufnahmen aus vier Jahrzehnten der Bonner Republik bieten neben der literarischen Fülle auch ein wunderbares Zeitpanorama. Die große Popularität Heinrich Bölls zeigt sich ebenso in den vielen Radioaufnahmen, die dieser Sammlung zugrunde liegen.

Wer mag, kann Böll chronologisch hören, seinen ersten Texten folgen, den Aufstieg des jungen Autors mit verfolgen. Oder aber, wie die Rezensentin, biographisch einsteigen, und das eigene Erwachsen- und Älterwerden mit den Bölltexten synchronisieren. Die persönliche politische Entwicklung verfolgen, die maßgeblich durch die Lektüre der Romane, Erzählungen und Texte Bölls geprägt worden ist. Mit der Schullektüre Die verlorene Ehre der Katharina Blum in der zehnten Klasse. Da ertönt nach 36 Jahren noch einmal die Rede im Bonner Hofgarten „Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen“ (1981) - sein ruhiger, nie hetzerischer Ton an diesem Nachmittag. Die Rezensentin lauscht den großen Kämpfen gegen die Springerpresse, einem intensivem Gespräch mit Siegfried Lenz über das Schreiben und die Fantasie, und sie hört das Irische Tagebuch, sein vielleicht schönster Text mit einer Mischung aus präziser Alltagsbetrachtung und Humor. Das, und noch vieles mehr, gilt es in diesen Hörwerken zu entdecken. Und: Nicht nur zur Weihnachtszeit.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.

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Christian Kohlross: kollektiv neurotisch

Pointiert

Therapierte Gesellschaft
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Anregend und geistreich formuliert sind die hier vorgelegten Thesen und Interpretationen allemal.

Was von dieser essayistischen Abhandlung zu erwarten ist, das bringen Titel und Untertitel in schöner Klarheit zum Ausdruck: Der Kulturwissenschaftler Christian Kohlross nennt sein nicht allzu umfängliches Buch knapp Kollektiv neurotisch und darunter steht: „Warum die westlichen Gesellschaften therapiebedürftig sind“.

Wohltuend pointiert ist das, allzu provokant aber nicht, denn dass in den genannten westlichen Gesellschaften viel im Argen liegt, wird ja häufiger öffentlich betont. Zu viel Stress und Leistungsdruck, zu wenig Solidarität und Gerechtigkeit - ein Symptom davon scheint eine zeittypische psychische Erkrankung zu sein: die Depression beziehungsweise der Burnout.

Die depressive Gesellschaft lautet denn auch der Titel des ersten Kapitels. Eine Konsequenz der Erkrankung ist die mangelnde Zuversicht, die Utopielosigkeit, von der das viel beschworene, postmoderne „Ende der Geschichte“ ebenso ein Ausdruck (und eine Ursache) ist wie eine angeblich alternativlose Politik, die sich dem Primat einer liberalen bis liberalistischen Volkswirtschaftslehre unterwirft. Zudem bescheinigt Kohlross unserer Gesellschaft Züge der Hysterie, der Zwanghaftigkeit und insbesondere des Narzissmus. Dass überzogene Eitelkeit insgesamt kaum im Schwinden begriffen ist, wird man schwerlich behaupten können.

In den USA werden entsprechende Charaktere neuerdings sogar zum Präsidenten gewählt. Ähnliches kennt man aus Russland oder der Türkei. Und insgesamt werden Versagen und Misserfolge sehr ungern zur Kenntnis genommen, die ja kaum ins Selbstbild von Narzissten passen.

„Vieles also, das zum ganzen Menschsein dazugehört, wird im gesellschaftlichen Selbstgespräch ausgeblendet und verdrängt“, um einen Lieblingsausdruck desjenigen zu zitieren, der als Übervater solcher Unternehmungen anzusehen ist, wie sie Kohlross angeht: nämlich Sigmund Freud. Christian Kohlross’ Analysen verwenden freilich häufig nur andere Begriffe für Sachverhalte, die auch in anderer Form schon beschrieben worden sind. Man muss dies aber nicht als Mangel kritisieren, sondern kann es auch als Bestätigung nehmen. Denn anregend und geistreich formuliert sind die hier vorgelegten Thesen und Interpretationen allemal. Sie laufen darauf hinaus, dass unser Leben und unsere Gesellschaft insgesamt zu wenig Raum für Gefühle lassen, für Selbstwahrnehmung und ja: für Transzendenz.

Es braucht eine Dimension, die die drohende Selbstüberforderung abzufedern hilft. Diese gelte es zu etablieren, das hätte eine Therapie der Gesellschaft zu leisten. Dass es sie in Form der Religion und ihrer Praxis längst gibt, würden Theologen betonen.

Aber Christian Kohlross kommt nun mal aus einer anderen Ecke: Er ist habilitierter Literaturwissenschaftler, arbeitet als Coach und Therapeut. Mithin spricht er eher im Sinne eines kulturwissenschaftlichen „emotional turn“ und pro domo, würdigt die Bedeutung der Religion nur en passant. Ob sich sein Ansatz in eine große Systematik fassen ließe, mag fraglich erscheinen. Die Argumente aber leuchten ein und ergeben gute Bausteine für eine Gesellschaftskritik und ermuntern zur Befreiung, zu welcher auch andere Disziplinen beitragen könnten - und auch sollten.

Thomas Groß

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Bob Dylan: Lyrics

Drei Kilo

Bob Dylan: Komplette Lyrik
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Dylans „Lyrics“ meistern jede erdenkliche Probe aufs Exempel.

Der Literaturnobelpreis für Bob Dylan im vergangenen Jahr hatte so einiges zur Folge - Begeisterung hier, Maulen dort. Die unmittelbarste Folge im deutschen Sprachraum wiegt drei Kilogramm, oder, um genau zu sein: 2,796 Kilogramm. So viel bringt die flugs erweiterte Neuausgabe seiner kompletten „Lyrics“ von 1962 bis 2012 zweisprachig auf die Küchenwaage. „Lyrics“ heißt im Zusammenhang mit Tonträgern „Songtexte“ - aber genau dafür wurde er ja auch ausgezeichnet, weil die von Dylan Lyrik sind, und zwar in herausragend klassischer Weise. Rund 1 300 Seiten.

Nun stand gerade bei ihm vielen stets die Stimme im Weg, und so wurde das mit dem Erfolg bei denen auch nie was. Andererseits ist die Zahl spätbekehrter früherer Verächter mittlerweile beträchtlich, und wie das bei Konvertiten so ist, sind sie oft die eiferndsten Verfechter, bis hin zu gröbster Proselytenmacherei. Doch dafür können der Dichter und die Lyrik ja nichts. Die hat es in diesen Zeiten indes schwer, überhaupt wahrgenommen zu werden - die man genau darum bedauern mag, liegt doch der Ursprung der Lyrik im Gebet. Gedichte gibt es nicht, weil sie so schön klingen. Ihr ältester Zweck sei es, „Geister anzusprechen - Götter gnädig stimmen, Krankheiten heilen, Missernten abwenden, Feinden schaden“, so der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer in seinem Buch „Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik“. Deren Ursprung sei die Anrufung der Götter, und der Bogen reiche bis heute, wo uns Götter als Gegenüber abhandengekommen sind. Gedichte erreichen weiter unser Herz, trösten, geben Geborgenheit, drücken besser als andre Sprachformen aus, was wir empfinden: Der Zauber wirke auch ohne Glauben an ein Gegenüber. Er stecke gleichsam in Gedichten.

Dylans „Lyrics“ meistern jede erdenkliche Probe aufs Exempel. Das taten sie bereits in den früheren „Zweitausendeins“-Ausgaben mit den mitunter salopp-wurstigen Übertragungen von Carl Weissner, erst recht nun in der aktuellen, im Verlag Hoffmann und Campe erschienenen Fassung, deren durchaus angenehmere deutsche Übersetzungen von Gisbert Haefs stammen. Sie sind hilfreich, aber auch irgendwann verzichtbar, denn schließlich stehen die Originale daneben. Denn es gibt Wörterbücher, nach wie vor, und: Wir haben den Klang im Ohr.

Es ist der Sound, über den Zauber, Bilder und Geheimnis wirken. Darauf kommt es an. Dass der bereits aus nacktem Text ersteht, ist ein kleines Wunder! Und das gehört zu einer großen Trias, die der Musiker und Produzent Joe Henry, der Schwager von Madonna, mal so umrissen hat: Obwohl er und seine Frau mit der Religion eher auf Kriegsfuß stünden, legten sie dennoch Wert darauf, dass ihre Kinder die Bibel läsen - denn ohne Bibel seien sowohl Shakespeare als auch Dylan nur zur Hälfte zu verstehen! Als Beispiel nannte er dessen Songgedicht „Desolation Row“. Dylan-Übersetzer Gisbert Haefs empfahl nach der Nobelpreis-Entscheidung „Visions of Johanna“. Es dürfen und können nun auch gern ein paar Gramm mehr sein.

Udo Feist

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Uwe Ochsenknecht: Luthers Tischreden

Kotzt und furzt

Luthers Tischreden
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Die Herausgeber interessieren sich nicht für religiöse Themen neben Tod und Teufel. Es geht ihnen um Luthers legendäre „Deftigkeit“.

Kaum, dass ich die CD eingelegt habe, brüllt Luther mich auch schon an: „Wir haben beim Essen alle die tyrannische Art der Tiere an uns!“ Uwe Ochsenknecht, der dem Reformator seine Stimme leiht, interpretiert dessen Klage über das menschliche Essverhalten als wütenden Ausbruch. Damit wird signalisiert, wen die Hörerin kennenlernen soll: Luther, den Polterer.

Der Herder-Verlag bietet mit dieser Auswahl von Luthersprüchen eine Alternative zu „hoch theologischen“ - und deshalb schlecht verkäuflichen - Gedanken des Reformators. Die Herausgeber interessieren sich nicht für religiöse Themen neben Tod und Teufel. Es geht ihnen um Luthers legendäre „Deftigkeit“. Entsprechend „regiert“ erst mal „der Hintern“. Des Menschen „Madensack“ von Leib stinkt, scheißt, kotzt, säuft, furzt, rotzt und pinkelt vor sich hin, dass es der Hörerin fast zu viel wird.

Uwe Ochsenknecht bemüht sich hörbar um Distanz. Offenbar möchte er nicht den Verdacht nähren, er inszeniere Luthers Irrtümer als Einstieg in einen Herrenabend. Im nächsten Komplex könnte er in den Modus der Zärtlichkeit umschalten. Müsste der alte Polterer nicht sanfter klingen, wenn er Gedanken und Gefühle gegenüber Kindern preisgibt, wenn er über die Schönheit einer Rose schwärmt? Uwe Ochsenknecht aber bleibt sachlich bis kalt.

Zugegeben: Aus etwa 3.000 Mitschriften eine Auswahl zu treffen, die repräsentativ für Inhalt und Stil eines Autors wie Luther sind, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Wer sich daran versucht, sollte - etwa in einem Vorwort zum Inhaltsverzeichnis - wenigstens seine Kriterien nennen.

Susanne Krahe

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Tomáz González: Was das Meer ihnen vorschlug

Im Meer

Magischer Realismus
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Nach und nach bröckelt die Idylle, und man blickt in die schizophrene, stimmentönende Welt der Mutter, in die des cholerischen Vaters.

Kolumbien ist exotisch, man kennt aus Garcia Màrquez´Romanen den magischen Realismus Lateinamerikas, der keine rein literarische Erfindung ist, sondern aus dem Volk hervorging, entstanden aus der jahrhundertelangen Vermischung von Spaniern, indigenen und afrikanischen Völkern, mit all ihren Glaubensrichtungen und Phantasien, den alten Riten und ererbten Erinnerungen.

Auch Tomás Gonzáles, der viele Jahre als Übersetzer und Journalist in New York arbeitete und heute wieder in seiner Heimat schreibt, weiß um diese Mystik und lässt sie geschickt in seinen Roman einfließen, der in dem fiktiven Ort Playamar spielt. In der kleinen Ferienanlage an der Küste, weit ab vom mondänen Cartagena, entspannt der kolumbianische Mittelstand. Man wohnt in kleinen Strandhütten, badet im warmen Meer, döst in Hängematten unter Palmen, trinkt den landesüblichen Aguardiente und geht abends ins Restaurant, um frischen Fisch zu essen. In dem despotisch geführten Familienbetrieb bleiben die Zwillingssöhne stets Handlanger ihres Vaters, dem sie auch beim Fischen helfen. So fahren die drei Männer auch an diesem Samstag um vier Uhr morgens mit ihrem kleinen Boot auf Fangtour, obschon der Wetterbericht nichts Gutes verheißt. Mit dem weiten Meer und drohenden Unwetter bedient sich Gonzáles zweier bekannter Metaphern, um zwischenmenschliche Spannungen darzustellen.

In diesem Psychothriller mit siebenundzwanzig Kapiteln, die einen Zeitraum von siebenundzwanzig Stunden beschreiben, wechselt der Autor Perspektiven und Zeitebenen. Nach und nach bröckelt die Idylle, und man blickt in die schizophrene, stimmentönende Welt der Mutter, in die des cholerischen Vaters, der sein Leben mit der jungen Geliebten und dem gemeinsamen Kind rechtfertigt, während die Söhne zwischen Aushalten, Abhauen, Liebe und Pflichtgefühl gegenüber der Mutter schwanken. Den einen lockt das intellektuelle Leben Bogotás, den anderen das leichte Leben und schnelle Geschäft. Alles scheint der Vater ihnen vorzuenthalten, sie fühlen sich abhängig, seltsam unerwachsen mit ihren achtundzwanzig Jahren. In episodenhaften Monologen lassen einige Feriengäste und Angestellte ihr Leben Revue passieren, ihre Probleme aufblitzen und deren Sichtweise auf die seltsame Familie erkennen.

Auch Tomás Gonzáles, der viele Jahre als Übersetzer und Journalist in New York arbeitete und heute wieder in seiner Heimat schreibt, weiß um diese Mystik und lässt sie geschickt in seinen Roman einfließen, der in dem fiktiven Ort Playamar spielt. In der kleinen Ferienanlage an der Küste, weit ab vom mondänen Cartagena, entspannt der kolumbianische Mittelstand. Man wohnt in kleinen Strandhütten, badet im warmen Meer, döst in Hängematten unter Palmen, trinkt den landesüblichen Aguardiente und geht abends ins Restaurant, um frischen Fisch zu essen. In dem despotisch geführten Familienbetrieb bleiben die Zwillingssöhne stets Handlanger ihres Vaters, dem sie auch beim Fischen helfen. So fahren die drei Männer auch an diesem Samstag um vier Uhr morgens mit ihrem kleinen Boot auf Fangtour, obschon der Wetterbericht nichts Gutes verheißt. Mit dem weiten Meer und drohenden Unwetter bedient sich Gonzáles zweier bekannter Metaphern, um zwischenmenschliche Spannungen darzustellen.

In diesem Psychothriller mit siebenundzwanzig Kapiteln, die einen Zeitraum von siebenundzwanzig Stunden beschreiben, wechselt der Autor Perspektiven und Zeitebenen. Nach und nach bröckelt die Idylle, und man blickt in die schizophrene, stimmentönende Welt der Mutter, in die des cholerischen Vaters, der sein Leben mit der jungen Geliebten und dem gemeinsamen Kind rechtfertigt, während die Söhne zwischen Aushalten, Abhauen, Liebe und Pflichtgefühl gegenüber der Mutter schwanken. Den einen lockt das intellektuelle Leben Bogotás, den anderen das leichte Leben und schnelle Geschäft. Alles scheint der Vater ihnen vorzuenthalten, sie fühlen sich abhängig, seltsam unerwachsen mit ihren achtundzwanzig Jahren. In episodenhaften Monologen lassen einige Feriengäste und Angestellte ihr Leben Revue passieren, ihre Probleme aufblitzen und deren Sichtweise auf die seltsame Familie erkennen.

Alle blicken sorgenvoll auf die Männer, die das Meer in diesem Tropengewitter verschlucken könnte. Draußen auf dem Boot entsteht derweil ein Kräftemessen zwischen drei unterschiedlichen Charakteren, der in der Luft liegende Vater-Sohn-Konflikt und ein Bruderzwist scheinen sich zu entladen. Als der boshafte Alte über Bord geht, stellt sich den Söhnen die entscheidende Frage: er oder wir? Wie soll unser Leben weitergehen? An Land, geplagt von Vorahnungen, fragt sich die Mutter: Werden die Söhne das akzeptieren, „was das Meer ihnen vorschlägt“?

„Die Welle gelangt immer an den Ort, zu dem sie unterwegs ist, und beginnt immer dort, wo sie entstanden ist“, schreibt Tómas Gonzáles der in Bogota Philosophie studierte und 1983 seinen ersten Roman veröffentlichte. Und so endet der Roman nach 153 Seiten beinah unspektakulär dort, wo er begann. Der Sturm hat sich verzogen, der Alte leckt seine Wunden, die Zwillinge liefern ihn bei seiner jungen Frau ab und bleiben in ihrer Welt verfangen.

Angelika Hornig

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Peter Cornehl:Vision und Gedächtnis

Wie ein Gespräch

19 Studien zur Liturgie
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Mit seiner doppelten Programmatik erschließt sich die Kohärenz des Buches, das Vorträge aus einem weitgespannten Zeitraum versammelt.

Herausforderungen für den Gottesdienst gibt es viele. Der emeritierte Praktische Theologe Peter Cornehl, der an der Universität Hamburg lehrte, benennt in seinem kürzlich erschienenen Buch vor allem die Herausforderung, Gottesdienst „nach der Aufklärung“ zu feiern. Damit ist eine spannungsvolle hermeneutische Situation beschrieben, die nach Cornehl von Traditionsabbrüchen und Kritik am Christentum, von politischen Konflikten und globalen Katastrophen bestimmt ist, zugleich aber auch durch Hoffnung, Freiheit und neue Lebenschancen charakterisiert wird. In dieser Spannung kommt dem Gottesdienst wesentlich die Aufgabe zu, die Hoffnung zu stärken, den Glauben zu wecken und zur Umkehr zu rufen. „Der Gottesdienst ist herausgefordert - und er ist selbst eine Herausforderung.“

Vision und Gedächtnis nimmt den Titel eines 1994 erschienenen Predigtbandes Cornehls auf, der Predigten aus dem Hamburger Universitätsgottesdienst versammelte. Tatsächlich ist das Hamburger Kolorit auch in diesem Band erkennbar, insbesondere in dem Text, der ausführlich der (poetischen) Sprache und der Theologie Dorothee Sölles (1929-2003) gewidmet ist.

Über weite Teile sind die Texte sehr stark an Mündlichkeit orientiert. Ihr ursprünglicher Charakter als anlassbezogene Vorträge bleibt bei der Lektüre somit ständig präsent. Zugleich nehmen die Texte aber auch den Duktus des Gesprächs an. Das Dialogische, so Cornehl im Vorwort, ist ein wesentliches Prinzip des Nachdenkens über den Gottesdienst. In 19 Studien zu Predigt und Liturgie, auf sieben Kapitel verteilt, verfolgt Peter Cornehl das titelgebende Programm von Vision und Gedächtnis. Visionär, so legt die Lektüre des Buches nahe, ist vor allem die an der Unheilsprophetie geschulte kritische Situationsanalyse zu nennen, die der Wirklichkeitskritik mit wesentlich politischen Implikationen gewidmet ist.

Der zweite Leitbegriff, das Gedächtnis, spielt neben der biblischen Tradition und den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls insbesondere auf solche historischen Konstellationen an, in denen Gottesdienste modellhaft die Herausforderung wahrgenommen haben, zur Umkehr zu rufen und Hoffnung zu wecken: beispielsweise die biblische Predigt im Kirchenkampf oder das Jahr der Taufe nach Fukushima. Die homiletischen und liturgischen Studien Cornehls sind auf Umbrüche zugespitzt, und zwar sowohl auf die von Selbstkritik bestimmten notwendigen Abbrüche als auch auf die Chancen neuer Aufbrüche. Cornehl spielt auf eine solche Dialektik der Aufklärung ausdrücklich an.

Mit seiner doppelten Programmatik, der Vision und dem Gedächtnis, erschließt sich die Kohärenz des Buches, das anlassbezogene Vorträge aus einem weitgespannten Zeitraum versammelt. Das Buch liest sich daher auch als ein Stück Liturgiegeschichte der vergangenen Jahrzehnte. Das politische Nachtgebet, das Feierabendmahl, die Einführung des Evangelischen Gottesdienstbuches - Phänomene und Debatten, die es wert sind, dass man sich ihrer erinnert. Nachdrücklich, beinahe eindringlich weist Cornehl immer wieder auf Forschungslücken hin, die es wert wären, geschlossen zu werden; weniger aus enzyklopädischen Gründen, sondern vielmehr um der Herausforderung Gottesdienst willen. Bei der Lektüre der Beiträge, so vielfältig die Themen auch aufgefächert sind, kristallisiert sich immer wieder ein Anliegen heraus, das der Autor auch mehrfach ausdrücklich formuliert: Auch eher sperrige theologische Konzepte sollen im Gottesdienst präsent bleiben. „Indem wir ihre Fremdheit und Größe respektieren, wahren wir ihren Mehrwert.“ Das ist die Herausforderung, die das Buch einschärft.

Birgit Weyel

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Paula Schneider: Bleibe bei mir, denn es will Abend werden

Bedeutsam

Versinken in der Demenz
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Sensibel, teils wie beiläufig, mit aufmerksamen Einzelbeobachtungen erzählt die Autorin das allmähliche Versinken in der Demenz.

Bis auf den Titel ist nichts kitschverdächtig an dieser „Geschichte einer langen Liebe“, wie es im Untertitel heißt. Literarisch gekonnt werden zehn Jahre einer Ehe erzählt, in die die Goldene Hochzeit eines Paares fällt und die mit einem Herbstnachmittag in einem christlichen Pflegeheim endet. Dort lebt Ida Wächter seit einiger Zeit, da sie an Demenz erkrankt ist und Ehemann Ole sie nicht mehr pflegen und vor Unfällen bewahren kann. Der Roman spielt im Weimar der Gegenwart; Ole und Ida sind DDR-sozialisiert; für das evangelische Pflegeheim hat Ole sich entschieden, weil es der gemeinsamen Wohnung direkt gegenüber liegt.

Als das spätnachmittägliche Singen mit der Strophe „So legt euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen nieder“ beschlossen wird, ist Ole „nicht der Einzige, der erst die letzten Worte wieder mit-singt“. Die meisten Heimbewohner und ihre Angehörigen wissen mit „in Gottes Namen“ nichts anzufangen. Angesichts der religiösen Stummheit in großen Teilen Ostdeutschlands zeugt der Titel des Romans vom Stilbewusstsein und von der Kenntnis der 1976 in Leipzig geborenen Autorin. Ein Lied, das im Pflegeheim gesungen wird, beginnt mit dem Satz „Herr, bleibe bei uns“. Das „bleib bei mir“ des Titels richtet sich an den geliebten Ehemann.

1953 haben Ida und Ole geheiratet. Im Jahr zuvor hatten sich beide freiwillig zur Kasernierten Volkspolizei gemeldet, der Vorläuferin der Nationalen Volksarmee der DDR, erzählt Ida den Enkeln. Auf deren Nachfragen fährt sie fort: „Pazifismus war damals, nach dem Krieg, gar keine passende Kategorie.“ Ida und Ole sind nicht aus Karrieregründen, sondern aus Überzeugung in die SED eingetreten. Auch nach 1990 sind sie in der Partei geblieben und arbeiten bei den Linken mit. Als Ida für ihre langjährige Parteimitgliedschaft gewürdigt wird, empfindet sie „Genugtuung, nicht von den weltanschaulich-politischen Grundüberzeugungen abgefallen zu sein“. Einer der wenigen Punkte, die Ida und Ole bereuen, ist, dass sie ihren „Söhnen zu so langer Armeezeit geraten haben“.

Das Verhalten alter SED-Mitglieder wird sehr überzeugend gezeigt. Unbefriedigend bleibt, dass die Autorin diese Haltung nicht hinterfragt. Sensibel, teils wie beiläufig, mit aufmerksamen Einzelbeobachtungen erzählt sie das Kraftloserwerden der Eheleute und Idas allmähliches Versinken in der Demenz. Den größten Teil des Buches bilden Idas tagebuchähnliche Aufzeichnungen. Für Kinder und Enkel schreibt sie ihre Lebenserinnerungen auf. Mit zunehmender geistiger Einengung zweifelt sie gelegentlich am Sinn dieser Arbeit. Immer kürzer werden die Einträge, zum Schluss finden sich Verschreib- und orthografische Fehler. Als Ida nicht mehr schreiben kann, führt Ole das Tagebuch weiter. Daneben stehen von Anfang an, typografisch abgehoben, erzählte Passagen, weniger als Korrektiv, mehr als Ergänzung.

Das Buch beginnt damit, dass sich Ida und Ole eine Wohnung ohne beschwerliches Treppensteigen suchen. Noch fühlen sie sich nicht alt. Gegen die neue Wohnung hat Ida allerdings einen Einwand: im unmittelbar daneben liegenden Krankenhaus ist ihre Mutter gestorben. In einer Abteilung dieses Krankenhauses wird sie später selbst leben. So enthält das gesamte Buch vollkommen unaufdringlich Verweise auf Zukünftiges und erhält eine große Dichte. Aber das wirklich Bedeutende ist die behutsame, alle Lebensbereiche einschließende, niemals denunzierende künstlerische Gestaltung des Hinfälligwerdens und der bis zum Schluss lebendigen Liebe. Ole resümiert: „Ich soll mehr loslassen, sagt die Pflegedienstleiterin. Tja, hat sie eine 57-jährige Ehe geführt? Gar zu sehr loslassen würde mir den Garaus machen.“

Jürgen Israel

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Karen Krüger: Eine Reise durch das islamische Deutschland

Immer anders

Reise durch den Islam
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Nicht das x-te Buch über den Islam in Deutschland, sondern ein facettenreicher Bericht, der die Lebenswelten von deutschen Muslimen und Musliminnen für sich selber sprechen lässt.

Ein Lieblingszitat in meinen Islamkursen stammt von der israelischen Schriftstellerin Batya Gur: „Die Verallgemeinerung ist die Mutter der Feindseligkeit. Differenzierung ist die Mutter des Friedens.“ Wie herrlich ist es, als Leser feststellen zu dürfen, dass es auch noch Bücher über den Islam gibt, die dieser Einsicht Rechnung tragen. Zu ihnen zählt der bemerkenswerte Reisebericht der Journalistin Karen Krüger. Sie ist keine Islamwissenschaftlerin, doch Soziologin. Und angesichts dessen, dass zwei von drei Deutschen keine regelmäßigen persönlichen Kontakte zu Muslimen haben, setzt die teilweise in Istanbul aufgewachsene Autorin konsequent auf Kontakte, Beziehungen und Gespräche mit Muslimen.

Herausgekommen ist dabei nicht das x-te Buch über den Islam in Deutschland, sondern ein bodenständiger, persönlich gefärbter, facettenreicher Bericht, der die vielfältigen Schicksale, Lebenswelten und Berufe von deutschen Muslimen und Musliminnen für sich selber sprechen lässt. Krüger besucht, begleitet und befragt die unterschiedlichsten Muslime, sei es in ihrem privaten, sei es in ihrem beruflichen Umfeld. Wir lernen den Alltag eines muslimischen Bestatters in Hamburg kennen, das progressive Engagement der Hamburger Imamin Halima Krausen oder den Kölner Kabarettisten Fatih Çevikkollu, der seine Show mit den Worten schließt: „Sagen wir: Ich hasse Moslems, oder sagen wir: Ich hasse Terroristen? Die den Unterschied nicht kennen, die sind das Problem.“ In Köln, wo sich deutsch(-türkisch)e Muslime besonders wohl fühlen, hat Krüger viele Kontakte hergestellt, teilweise sogar bis über den Rand der islamischen Community hinaus. Sie nimmt die Leser mit, wenn sie die Muslime besucht und sich gerade von Frauen deren oft leidvolle Lebensgeschichte erzählen lässt, wie etwa von den Gründerinnen des „Zentralrats der Ex-Muslime“ Mina Ahadi und Arzu Toker.

In der Justizvollzugsanstalt Wiesbaden sucht Krüger den Sufi Husamuddin Meyer auf, der zu den wenigen muslimischen Seelsorgern in Deutschland gehört, die im Gefängnis arbeiten. Dabei sollte es gerade hier viel mehr Imame und Sozialarbeiter geben, da Gefängnisse zu den gefährlichsten Radikalisierungsmilieus überhaupt zählen. Meyer zufolge hatten die meisten der (muslimischen) Jugendlichen im Gefängnis bereits Kontakt zu Salafisten. So leistet der Imam wichtige Vorbeugungs- und Aufklärungsarbeit: der Gott des Koran sei kein Gott von Rache und Gewalt, sondern von Vergebung und Barmherzigkeit. Krüger sucht die entlegensten Orte auf, sogar eine muslimische Pfadfindergruppe im Wald, eine islamische Bank oder die Modefirma „StyleIslam“, die auch T-Shirts mit dem Aufdruck „Jesus and Mohammed - Brothers in Faith“ herstellt.

Gelegentlich und wohl dosiert recherchiert und referiert Krüger Hintergründe und Zusammenhänge, deren Darstellung dann den Reisebericht unterbrechen, ehe es wieder weitergeht. Sehr anschaulich ist das Kapitel über die Goethestraße im Münchener Bahnhofsviertel, wo die Autorin Hotel- und Cafébesitzer interviewt hat. Und wo die politische Großwetterlage der Türkei ebenso für Spannungen sorgt wie in einer ditib-Moschee.

Auch wie extrem weit auseinander die innerdeutschen islamischen Welten sind, macht dieses Buch deutlich. Wir lernen eine christlich-islamische Familie im Schwabenland kennen, wohingegen im Sachsenland die Stimmung beklemmend wird: das kleine Islamische Zentrum von Dresden droht von den Rechtspopulisten und der riesigen Aufklärungsarbeit, die gerade hier zu leisten ist, aufgerieben zu werden. Fazit: das Buch macht Mut, direkte Kontakte zu Muslimen zu suchen. Wem man auch begegnet, sie sind immer anders.

Martin Bauschke

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