Käptn Peng: Das nullte Kapitel

Wahre Begebenheiten

Neues von Käptn Peng
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Es geht um Innen und Außen, Liebe, Seele, Spaß und Lebensrätsel, um kalte Dogmen und Verbote und den Widerstand.

Robert Gwisdek kann man als Schauspieler kennen, ihn jedoch auch als Rapper schätzen, sehr sogar. Er nennt sich dann Käptn Peng und ist ein Verseschmied, der die Maultiere philosophisch verdichtet bepackt und auf ungewohnten Saumpfaden mit Witz, flotten Wortkaskaden und Metaphern über hohe Pässe ins Nachdenkliche führt. Das dialogische Reimen gefällt bei diesem Hip-Hop besonders gut, in Meister und Idiot etwa: „Ähm, warte kurz, das heißt, du hast mich nur erfunden?“/Korrekt. -„Als ein Bild für all die ungeheilten Wunden, die im dunklen Keller deiner Psyche nach den Stufen suchen?“/Du hast mich gerufen, hör besser auf mich zu verfluchen./„Dieses Verhalten ist doch gespalten!“ - Ich will mich nur unterhalten/denn im Formulieren des Problems ist die Lösung schon enthalten/„Ich versteh dich nicht“ - Doch, tust du und du weißt es/„Ich begreife einfach nicht, wie der Kram gemeint ist“/Es ist nur ein Gleichnis. „Ein Gleichnis? Beweis es!“/Ein Gleichnis ist nicht zu beweisen - „Aber was heißt es?“/Mann, es ist wie ein Blinder, der zeichnet/„Das ist doch paradox!“ - Aber ein Gleichnis beschreibt es/„Ah, toll, und was soll die Sache bringen?“/„Es soll das kalte Herz, das in uns schlägt, zum Lachen zwingen.“

Es geht um Innen und Außen, Liebe, Seele, Spaß und Lebensrätsel, um kalte Dogmen und Verbote und den Widerstand. Die Formen, die er dafür findet, sind eine ganz eigene Reimgalaxie und musikalisch aufgespannt zwischen scheppernder Raga-Bude, dramatisiertem Prog-Rock, Hardcore-Shouting oder Swing à la Woody Allen, jeweils eingebettet in stabiles Hip-Hop-Wiegen. Dafür, dass es läuft, wunderbar groovt, greift und, wo nötig, scheppert, sorgen Die Tentakel von Delphi, vier Film- und Theatermusiker und Schlagwerker, die ihre Sounds auch gerne mal Haushaltsgeräten oder Betonmischern abgewinnen. Das nullte Kapitel ist bereits ihre zweite Platte mit Käptn Peng.

Peng wiederum sorgte erstmals 2012 als Rapper für Furore. Damals gaben er und sein beat-tüftelnder Bruder Shaban, auch er ein Tentakel-Mitglied, mit "Die Zähmung der Hydra" ihr Plattendebut (darauf enthalten der unvergessliche Song Sie mögen sich). Das nullte Kapitel ist nun erneut schriller Dada-Zirkus, einfühlsame Introspektion und grandios abendfüllendes Vaudevile-Theater in einem, das der Titeltrack als mythisches Hörspiel mit deutlichem Jona-Seitenhieb eröffnet: „Das Peng gebar sich selbst im Dichterdarm des Wörterwals, tanzte durch die Blutbahn, kroch voran zum Auge, nahm allen Mut zusammen und sonderte sich als Träne ab, um mit dem Ozean zu verschmelzen.“ Alles fließt, ist elegant und überraschend, verspielt und ernst, Worte toben wie quirlige Welpen und schlafen dann selig ineinander verknotet ein. Ein Album, das tänzelnd schlau ins Blaue marschiert, mit nahrhaft unterhaltsamer Lyrik über Gott und die Welt fasziniert und jene mit einem grandiosen Song über die Zahl Pi doch tatsächlich noch runder macht.

Udo Feist

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Weitere Rezensionen

Joachim Perel (Hg): Martin Niemöller

Lesenswert

Neues Niemöller-Lesebuch
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Das Niemöller-Lesebuch, pünktlich zum 125.Geburtstag des Kirchenkämpfers erschienen, enthält einen bunten Querschnitt von Predigten, Reden und Vorträge aus den verschiedenen Wirkzeiten seines Lebens.

Es sieht wohl so aus, als ob der Teufel nur auf dies Lutherjahr gewartet hätte, um mit diesem Wahn in der evangelischen Christenheit ein Riesengeschäft zu machen. (…) Deswegen, weil es hier leicht dahin kommt, dass der Mensch Luther vor den Propheten Luther gestellt wird, daß wir uns an dem heldischen Mann begeistern, statt auf die Botschaft zu hören, die Gott uns durch ihn aufs Neue hat sagen lassen.“

Was wie eine Kritik am diesjährigen Reformationsjubiläum klingt, sind Worte Martin Niemöllers aus einer Predigt zum Reformationsfest 1935: Der Pfarrer der Bekennenden Kirche wandte sich gegen den Versuch der Nazis, Luther als deutschen Helden und „Typus des religiösen Führers“ für ihre Propaganda zu vereinnahmen. Er stellt dagegen die Lehre Luthers, das Sola Scriptura: „Es hat gar keinen Sinn, innerhalb der evangelischen Kirche (…) Luthers Gedächtnis zu feiern, wenn wir bei dem Bilde Luthers hängen bleiben und nicht auf den schauen, an den Luther uns weist.“

Diese und andere erstaunlich aktuelle Warnungen aus Niemöllers Mund kann man in dem Buch „Gewissen vor Staatsräson“ entdecken. Das Niemöller-Lesebuch, pünktlich zum 125. Geburtstag des Kirchenkämpfers erschienen, enthält einen bunten Querschnitt von Predigten, Reden und Vorträge aus den verschiedenen Wirkzeiten seines Lebens in chronologischer Reihenfolge: Nationalsozialismus, Nachkriegszeit, Sechziger- und Siebzigerjahre mit ihren jeweiligen Themen. Langweilig wird die Lektüre nicht: Ob es um die Aussöhnung mit der Sowjetunion geht, den Irrsinn kriegerischer Logik im Atomzeitalter, Gedanken zur Erinnerungskultur bezogen auf den Nationalsozialismus oder die Rolle des Gewissens des Einzelnen gegenüber der Staatsmacht: viele Ansichten Niemöllers sind heute noch anregend und politisch aktuell.

Trotzdem bleibt die Frage, ob die Texte heute noch für sich sprechen oder nicht des zeitgeschichtlichen Kommentars bedürfen. Der Herausgeber will den Lesenden dieses Experiment offenbar zumuten: Ohne Einleitung oder Vorwort springt das Buch direkt in die Originaltexte; Quellenangaben und zeitliche Einordnung muss man im hinteren Teil der Ausgabe suchen. Was zunächst irritiert, erschließt sich später als Methode, denn die Wirkmacht der Worte Niemöllers kann der Lesende so direkt nachempfinden.

Erhellend und ausgesprochen lesenswert ist die prägnante Zusammenfassung der Biographie Niemöllers durch den Niemöller-Kenner Martin Stöhr. In zehn pointierten Kapiteln wird hier mit der Analyse von Niemöllers Persönlichkeit im Kontext der Zeitgeschichte auch die differenzierte Einordnung der ausgewählten Texte vorgenommen. Dieser Teil des Buches rundet es grandios ab und bringt Niemöllers Lebensleistung auf den Punkt.

Dass Niemöller in fast jeder seiner Lebensphasen gegen den politischen Strom schwamm und es sich nie leicht machte, ja, sich selbst - etwa bei der Schuldfrage - nie schonte, bleibt nach der Lektüre des Buches eindrücklich haften. Dabei gilt, was Niemöller über Luther predigte, auch für ihn selbst: „…es kommt nicht auf mich, nicht auf den Menschen, den Kämpfer, nicht auf den Helden - oder wie ihr mich sonst noch nennen wollt - an; macht nur keinen Heiligen aus mir, um Gottes Willen nicht.“

Die Widersprüche und Brüche in Niemöllers Leben zeigen das Ringen mit dieser Frage und machen ihn gerade glaubwürdig: Vom U-Boot zur Kanzel, vom anfänglichen Hitleranhänger zum Gegner der Nazis, vom Militaristen zum Pazifisten: Niemöllers Wandlungen zeigen nicht Schwäche, sondern Kraft zur Selbstkorrektur, Mut zum Umdenken. Das können wir von ihm ebenso lernen wie das Aufbegehren des christlichen Gewissens gegen den Mainstream.

Marion Gardei

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Foto: Sabeth Stickfort

Marion Gardei

Marion Gardei ist Beauftragte für Erinnerungsarbeit der Evangelischen Kirche Berlin-schlesische Oberlausitz. Sie wohnt in Berlin.

Weitere Rezensionen

G.Kallweit/B.Colell: Passagio

Zauberhafte Zweisamkeit

Alpiner Barockn´Roll
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Diese CD ist ein großes Glück für die Ohren, die Füße und ein Glück für die die Schwingen ausbreitende Seele.

Auch wenn Hermann Hesse als stilistischer Spätromantiker der barocken Affektenlehre eher fernsteht - er war lange Jahre in den Tessiner Alpen zu Hause und hat für diese klingende barocke Überquerung eine Beschreibung, die so klingt: Es ist ihr ein „Glanz eigen, wie der Blitz in der Wolke wohnt in einer kurzen Silbe, die so schmelzend und lächelnd mit GL beginnt, im Ü so lachend ruht und so kurz, und im CK so entschlossen und knapp endet“. Es ist ein Klang „zum Lachen und zum Weinen“, eine Musik „voll Urzauber und Sinnlichkeit … Kein Zweifel … sie ist „eins und rund, vollkommen, aus dem Himmel oder aus der Erde wie Sonnenlicht oder Blumenblick.“

Was immer in der Regel am Ende einer Rezension stehen soll, hier muss es an den Anfang: diese CD ist ein großes Glück - ein Glück für die Ohren, ein Glück für die Füße, ein Glück für die die Schwingen ausbreitende Seele - und ein Glück, dass sich mit jedem erneut staunenden Hören ohne weiteres Zutun verdoppelt. "ombra e luce" - Geiger Georg Kallweit und Lautenist Björn Colell - spiegeln eine Welt der klingenden Gebärde, eine Welt des Einsseins mit und in der Welt. Die schmeckt den Ohren wie die fruchtigen Jahreszeiten des Giuseppe Arcimboldo und riecht in ihrer atemberaubend zelebrierten Virtuosität nach ekstatischer Seligkeit, wie sie nur in zauberhafter Zweisamkeit entsteht und aufgeht.

Das Glück dieser klingenden Vertrautheit liegt in dem virtuos verflochtenen Vielklang ihrer Zweisamkeit. Es scheint, als wäre erst diese Intimität und das Zusammenspiel der beiden Instrumente und ihrer kongenialen Virtuosen Bedingung für das Aufscheinen und Entdecken verbal verborgener Affekte. Jedes Instrument ist eins und begegnet dem anderen doch mit vielen Saiten. Dem Strich begegnet das Schlagen, dem Zupfen das Flageolett, der Melodie der Akkord. Gleich der Beginn dieser CD, Johann Heinrich Schmelzers (ca. 1620-1680) „Sonatae unarum fidium, seu a violino solo“ (Nürnberg, 1664) ist von so bezaubernder Innigkeit und gleichzeitiger Leichtfüßigkeit, die alle Hingabe schwerelos macht. Ähnlich leichte Füße ruft Johann Joseph Vilsmayrs (1663-1722) sechsteiliges „Artificiosus concentus pro camera“ hervor. Raffiniert und brillant illusionistisch ist das „Musicalisch Uhrwerck“, das beide Protagonisten bei höchst uhrwerklicher Präzision zu lustvoll fulminanter Rasanz verführt. Die gereicht nicht nur dem Komponisten zur Ehre, sondern macht doppelt deutlich, was für Künstler und Könner hier aufspielen und uns beschwören. Bravissimo e meravigliosa!

Klaus-Martin Bresgott

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Weitere Rezensionen

Gerhard Schreiber (Hg.):Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften

Pionierarbeit

Im falschen Körper leben
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Transsexualität war auch in der Antike und in indigenen Kulturen kein unbekanntes Phänomen.

Wie soll man Menschen bezeichnen, die in einem Körper leben, der dem angeborenen Geschlechtsempfinden entgegengesetzt ist? Bei der in diesem Sammelband dokumentierten Frankfurter Tagung, die erstmals umfassend Geistes- und Naturwissenschaften zum Thema Transsexualität zusammenbrachte, fand eine Theologin und Seelsorgerin die radikalste Sprachlösung. Ilka Wieberneit bezeichnet Personen, die sich einer operativen Geschlechtsangleichung unterziehen, als „trans* Pat“ (von Patient) und umgeht so alle geschlechtsspezifischen Endungen. Aber Sprache übt Macht aus, und so drückt die scheinbar analoge Kurzform „Psy*“ in dem Netzwerkbericht von Eltern transsexueller Kinder deutliche Kritik an den Berufsgruppen aus, die sich an Therapie oder Begutachtung der psychischen Krankheit beteiligen, als die Transsexualität vom medizinischen Diagnoseverzeichnis ICD-10 immer noch eingestuft wird.

Die deutschsprachige Theologie ist für solche Fragen spätestens seit der „Bibel in gerechter Sprache“ sensibilisiert. In ihr wird der Kämmerer aus Äthiopien als „Eunuch“ bezeichnet. Damit Philippus ihn aber als solchen erkennen konnte, muss der Kämmerer, so Joan Roughgarden, als Frau in Erscheinung getreten sein, so dass „Eunuch“ hier eigentlich „transsexuelle Frau“ bedeutet - eine Hypothese, der das Jesuslogion über Eunuchen von Geburt zur Seite steht. Dass Transsexualität in der Antike und in indigenen Kulturen kein unbekanntes Phänomen war, belegt ein eigener kulturwissenschaftlicher Teil des Bandes für verschiedene Erdteile.

Es sind solche Entdeckungen, die das Thema Transsexualität für die Theologie interessant machen. An sich gehört hier das Feld den Neurowissenschaften, seit der Nachweis gelang, dass das Geschlecht nicht in eine biologische Körperbeschaffenheit (Sex) und eine soziale Rolle (Gender) eingeteilt werden kann, sondern beide Faktoren bereits pränatal bestimmt werden, jedoch zu unterschiedlichen Zeiten: In der sechsten bis zwölften Woche bildet sich das genitale Geschlecht. Das hirnphysiologische Geschlecht, von dem später subjektives Geschlechtsempfinden und Rollenverhalten determiniert sind, bildet sich erst ab Mitte der Schwangerschaft (brain sex) und kann vom "genital sex" abweichen, wie es bei Transsexuellen der Fall ist.

Die Theologie muss diese Erkenntnisse, die quer zu katholischer wie evangelischer Sexual- und Eheethik stehen, erst einmal hinnehmen. Dass führende theologische Vertreter des Nationalen Ethikrates am vorliegenden Band nur mit (starken) Beiträgen zu den Themen Ehe (Eberhard Schockenhoff) und Homosexualität (Peter Dabrock) beteiligt sind, zeigt den Nachholbedarf. Die Theologie reagiert teils mit metaethischen Reflexionen oder Reflexen, die die These vom "brain sex" als Neuauflage der deterministischen Kritik am freien Willen der Person wahrnehmen.

Hilfreicher scheint aber Dirk Evers, der "brain sex" durch den Hinweis auf die Erste-Person-Perspektive transsexueller Menschen ergänzt und nicht ersetzt, die kein neurowissenschaftlicher Zugang erreicht. So erst kommt das Bewusstsein vieler Transsexueller in den Blick, unter dem Leben im falschen Körper zu leiden - auch wenn Transsexualität keine Krankheit ist und deshalb weder Psychotherapie noch psychiatrische Begutachtung braucht, sondern eine Novelle des Transsexuellen-Gesetzes, die Hilfen zum Leben im empfundenen Geschlecht auch ohne die große Lösung der geschlechtsangleichenden Operation bietet. Die Erste-Person-Perspektive Transsexueller zu hören, scheint mir wichtiger als die im Band erhobene Forderung nach theoretischer Überwindung des Geschlechterdualismus. Denn das zurückliegende Leben im alten Geschlecht bleibt für viele Transsexuelle im neuen Leben ein wichtiger Teil der eigenen Geschichte. Dem Herausgeber gebührt Anerkennung für eine echte Pioniertat.

Henning Theißen

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Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit

Laues Bad

Immer wieder Uhren
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Endlich der neue Ransmayr! Und dann das. Körper und Geist bleiben immun. Mehrfach bin ich durch eine Tapetentür ausgestiegen.

Ich gestehe: Ich bin Ransmayr-süchtig. Bereits während der Lektüre des ersten Romans wurde ich abhängig: Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Eine Kartographie der Abenteuerlust. Dann: Die letzte Welt. Eine horizontale Offenbarung. Morbus Kitahara. Ein dunkler Kraftspender. Der fliegende Berg. Druckmuster der Seiten auf meinen Linsen. Atlas eines ängstlichen Mannes. Die Klimaanlage in meinem Kopf setzte vor Glück aus.

Gott sei Dank ist Ransmayr kein Vielschreiber. Zwischenzeitlich können sich Körper und Geist erholen und sich mit schlechteren Autoren, mit Bauchnabelpoplern und historischen Fake-Artisten wütend trösten. Und jetzt endlich der neue Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit. Und dann das. Körper und Geist bleiben immun. Mehrfach bin ich durch eine Tapetentür ausgestiegen. Und wieder eingestiegen. Ich fühle mich wie ein Nestbeschmutzer, wenn ich sage: Ich bade in dem Buch nur lau.

Ein Blick in die Feuilletons erhöhte noch meine Verzweiflung: Andreas Platthaus in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zieht die höchste Note, spricht von Weltliteratur und, alle anderen Rezensenten stimmen glückstrunken ein, nur Thomas Steinfeld von der Süddeutschen Zeitung entdeckt einige kitschnahe Szenen, die er großmütig vergibt, Ijoma Mangold in der Zeit ist immerhin beglückt, wenn auch nicht erleuchtet.

Liegt es vielleicht an meiner nur mäßig ausgebildeten Chinabegeisterung, die durch chinesische Betriebsanleitungen bei Elektrogeräten gedrosselt wurde? Nein. Ransmayr hat mich wiederholt auf Exkursionen zu Orten geschickt, wo ich nie hin wollte. Und auch diese Geschichte müsste funktionieren. Eine historische Figur, ein berühmter englischer Uhrmacher namens Cox, wird (kontrafaktisch) von einem Gesandten des Kaisers von China in die verbotene Stadt eingeladen, um Uhren zu bauen, die den höchst subjektiven Lauf der Zeit messen: das Zeitempfinden eines Kindes, eines zum Tode Verurteilten, schließlich ein Uhrwerk, das die Dauer der Ewigkeit darstellt.

Ransmayrs Text erzeugt in der Tat CinemaScope. Großartige Panoramen werden aufgerufen, Bilder, die Pracht und Schrecken einfangen. Auch der emotionale Schmerz, Cox trauert um den Tod seiner Tochter, und die Angst seiner drei Mitarbeiter vor dem Versagen werden plastisch. Ermüdungsbrüche erleide ich immer, wenn Ransmayr wortreich die Herstellung der Uhrwerke beschreibt. Auch eine zweite Lektüre funktioniert nicht besser.

Es spricht für die Grandezza von Ransmayr, wenn er an einer Stelle des Romans nicht ohne feine Ironie das mögliche Scheitern einräumt: „Die Uhr. Hatte die ungeheuerliche Mechanik, die auf der wie atmenden, vom Gewicht der Luft erzwungenen Bewegung eines flüssigen, tödlichen Metalls beruhte und die mit ihrem endlosen Lauf zumindest eine Ahnung der Ewigkeit beschwören konnte, noch irgendetwas zu tun mit den simplen Rasselbüchsen, die bloß Stunden schlugen, einen Schläfer weckten oder eine Glocke zum Bimmel brachten? Der Kaiser hatte an einem frühen Morgen versucht, ein Gedicht über dieses Werk zu Papier zu bringen (…): Er hatte also die Hälfte des Morgens mit diesem Schreibversuch vergeudet und schließlich die auf Reispapier gemalte Kalligraphie in einem Glutbecken verbrannt: Die Arbeit der englischen Gäste sollte, durfte unter keinen Umständen gestört werden. Genau das aber konnte geschehen, wenn ein Gedicht - und sei es ein Gedicht eines Allmächtigen - eine entstehende Schöpfung mit den falschen, kraftlosen Worten in Sprache verwandeln wollte.“

Wenn nicht einmal das Gedicht eines Allmächtigen diese Schöpfung in Sprache verwandeln kann, dann, so die Folgerung, wird es auch die Prosa eines beinahe Allmächtigen nicht vermögen. Ransmayr teilt das Schicksal vieler Künstlerromane, die die Werke eines Malers beschwören, ohne dass der Leser dieser Werke trotz aller Sprachmacht ansichtig wird. Im Netz finden sich wunderbare Uhren, die wenigstens erahnen lassen, was Ransmayr beschwören wollte. Ich aber warte unverdrossen auf den nächsten Ransmayr.

Klaas Huizing

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Foto: Privat

Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.

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Christian Lehnert: Der Gott in einer Nuß

Sprengkraft

Über den Gottesdienst
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Dieses Buch ist nicht als praktisch-theologisches Handbuch gedacht, sondern will mit seinen Lesern eine Sehnsucht artikulieren.

Der Liturgiewissenschaftler und Dichter Christian Lehnert beobachtet bei den westlichen Kirchen „Implosion“ und Unfähigkeit, dem gesellschaftlichen Außendruck standzuhalten. Dabei leitet ihn keine frömmelnde Freude über das „Gesundschrumpfen“ der Kirchen(n), sondern das Vertrauen auf den Kern des christlichen Glaubens und Lebens, der als der „Gott in einer Nuß“ nicht verlorengehen kann.

Auf zweiundachtzig Blättern schreibt Lehnert nicht über Kult und Gebet, sondern von beiden. Er stellt sich hinein in den überlieferten Ablauf, in den „Fluss“ des Messgottesdienstes, vom Introitus bis zum Agnus Dei. Dabei erinnert er sich an seine Zeit im Pfarramt, an verstörende wie erhellende persönliche Begegnungen, schildert Traumvisionen und reflektiert die erschließende Kraft des Kultes.

Mit der von ihm gewählten literarischen Form des Essays verwahrt er sich vor den Zumutungen systematischer Geschlossenheit, begrifflicher Eindeutigkeit und zeitloser Wahrheiten.

Lehnert zielt vielmehr auf das Wahrwerden des christlichen Glaubens und seiner Inhalte im aktuellen Vollzug des Gottesdienstes, er zielt auf den Menschen, der erst beim Beten zum Beter „gewandelt“ wird.

In solcher prozessualen Hermeneutik gewinnen auch und gerade die gottesdienstlichen Lesungen ihr Profil, wie es Lehnert dann an Jesu Predigt in Nazareth (Lukas 4, 14-29) zeigt: Mit seinen Worten „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren“ wird Jesus „aus dem Text heraus wirklich, er geschieht“. Es spricht für Lehnerts hohe theologische Kompetenz, wenn er in diesem Zusammenhang auf die Literarisierung des Gottesbegriffs bei Johann Georg Hamann (1730-1788) verweist.

Die Lesungen der Texte sind wegen der Möglichkeit des Präsentwerdens Gottes in ihnen keine Fremdkörper, sondern hervorragende Momente im energetischen Zusammenhang der Gottesdienstliturgie. Weshalb sie auch in ihrer Sperrigkeit und Fremdheit gerade nicht auf das Niveau leichter Verständlichkeit einzuebnen sind.

Mit ihrem Streben nach Verständlichkeit ihres liturgischen und homiletischen Tuns sieht Lehnert die Kirche ohnehin auf der schiefen Bahn einer Anpassung an den kommunikativen Konsens in der Gesellschaft. Gottesdienstliches Handeln sollte aber ins Mysterium führen und sich nicht auf Mitteilung und Gemeinschaftserlebnis reduzieren lassen. Der Bedeutungsverlust der Kirche(n) liege schließlich nicht nur am religiösen Desinteresse westlicher Konkurrenzgesellschaften, sondern auch an den Kirchen selbst, die mit der Reduktion ihrer Inhalte gesellschaftlichen Imperativen gehorchen.

Gott sei Dank formuliert Lehnert diese Gedanken aber nicht als Vorwurf. Er verleugnet auch nicht seine Solidarität mit der Kirche und vermeidet jede Anweisung, wie es besser gemacht werden könnte.

Denn der Gottesdienst kann an keiner Stelle „gemacht“ werden. Die Liturgie ist lediglich das „Gefäß“, in das der Geist fließen muss, damit die „transzendente Wandlung“ geschieht und die Gemeinde schließlich beim Sanctus einstimmt in den Gesang der Seraphim: „Heilig, heilig, heilig.“ Hier hilft keine Reduzierung der Schwellenangst, hier wird der Gemeinde der „Zustand der Auslöschung“ zugemutet, und „ausgebrannt sind die Identiäten“.

So überrascht es nicht, wenn dieses Buch nicht als praktisch-theologisches Handbuch gedacht ist, sondern mit seinen Lesern die Sehnsucht artikulieren will, „der Gott in der Nuß“ möge endlich wieder die Schale aufsprengen, die ihn von den Menschen trennt. Doch es gilt auch Vorsicht vor der Sprengkraft, denn dieser Gott ist „zu viel für uns“.

Endlich wieder ein Buch, das den christlichen Gottesdienst nicht mehr vor den Richterstuhl des Konsenses stellt, sondern auf die Höhe des religionswissenschaftlichen Diskurses bringt.

Friedrich Seven

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Rias Kammerchor/Capella de la Torre: Da Pacem

Versöhnlich

Neues vom Rias-Kammerchor
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Wer ein musikalisches Sinnbild für die in diesen Tagen vielbeschworene versöhnte Verschiedenheit sucht - hier wird er fündig.

Mögen auch die Wogen im Streit um Zweck und Deutung des Reformationsjubiläums zurzeit hochschlagen (siehe Seite 20), eines ist gewiss unstrittig: Das Jubiläum beschert uns insbesondere in Deutschland herrliche Konzerte und Produktionen, die den Reichtum der Musik der Reformation präsentieren. Um diese Fülle gebührend wahrzunehmen, wird das Jubiläumsjahr nicht ausreichen. Aber das macht nichts, denn das Leben geht ja auch nach 2017 weiter, und die aufgenommene Musik wird nicht schlecht, sondern kann und soll noch lange nachklingen.

Zu solcher nachklingenswerter Musik gehört auf jeden Fall die Produktion mit dem Rias-Kammerchor und der Capella de la Torre. Der Titel Da Pacem (Gib Frieden) ist Programm, denn das gleichnamige altkirchliche Antiphon zieht sich wie ein Leitmotiv durch die CD. Es inspirierte Martin Luther zur Dichtung und Komposition eines seiner bekanntesten Lieder: „Verleih uns Frieden gnädiglich.“ Der Titel Da Pacem ist für die beiden von Katharina Bäuml und Florian Helgath geleiteten Ensembles aber auch insofern Programm, als dass gleichsam subkutan die engen Beziehungen zwischen protestantischen und römisch-katholischen Musikern aufgezeigt und in friedvoller Eintracht zelebriert werden. So erklingt das hinreißende kleine geistliche Konzert „O süßer, o freundlicher Herr Jesu Christ“ von Heinrich Schütz für Solo und Continuo im Verbund mit dem prächtigen Dulcis Jesu patris et salus nostra imago (Süßer Jesu, Ebenbild des Vaters und unser Heil) für zwei Solostimmen, ein prächtiger Bläsersatz von seinem Lehrer Giovanni Gabrieli. Dessen überwältigendes Werk erweitert sich nach der Hälfte zu 20-stimmiger Klangpracht. Daran anschließend geht es dann weiter mit dem archaisch anmutenden „Verleih uns Frieden“ von Martin Luther und Johann Walter, deren individuelle Friedensbitte mit der Motette „Gib unsern Fürsten und aller Obrigkeit Fried’ und gut’ Regiment“ aus der berühmten Geistlichen Chormusik von 1648 von Heinrich Schütz geweitet wird.

Wer ein musikalisches Sinnbild für die in diesen Tagen vielbeschworene versöhnte Verschiedenheit sucht - hier wird er fündig. Dass es die Lutheraner auch prächtig liebten, macht das überwältigende Schlusswerk deutlich, die 17-minütige Magnificat-Komposition „Meine Seele erhebt den Herren“ aus der wunderbaren Sammlung Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica von 1619 von Michael Praetorius, dem zweiten frühen Großmeister des musikalischen Luthertums. Es ist ein intellektueller und sinnlicher Genuss, den beiden Spitzenensemble durch diese Perlenkette musikalischer Kostbarkeiten zu folgen. Und darüber muss man sich auch gar nicht streiten. Großartig!

Reinhard Mawick

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Martin Heckel: Martin Luthers Reformation und das Recht

Meisterwerk

Über das Rechtsdenken Luthers
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Dieses Buch ist ein großer und bleibender Beitrag zur historischen Würdigung und Vergegenwärtigung der Reformation.

Bücher können erfreuliche Überraschungen bieten. In diesem Fall beginnt die Überraschung schon beim Preis. Ein tausendseitiges wissenschaftliches Werk wird in edler Leinenausgabe für weniger als 70 Euro und als Broschur sogar für weniger als 30 Euro angeboten. Überraschungsreich ist aber vor allem sein Inhalt. Der Tübinger Rechtsgelehrte Martin Heckel bündelt eine lebenslange Beschäftigung mit dem Rechtsdenken Luthers wie mit den rechtlichen Voraussetzungen und Wirkungen der Reformation in einer packenden, kraftvoll geschriebenen Darstellung.

Heckel sieht in der Reformation ein großes rechtsgeschichtliches Ereignis. Besonders anschaulich zeigt sich das daran, dass die Reformation nur deshalb ihren Gang nehmen konnte, weil die ihr vorausgehende Reichsreform Kaiser Maximilians die Rechte des Kaisers zu Gunsten der Reichsstände eingeschränkt hatte. Wegen dieser Verschiebung lief der Versuch Kaiser Karls V., den päpstlichen Bann 1521 auf dem Wege der Reichsacht durchzusetzen, ins Leere.

Doch das starke Gewicht, das Heckel auf die rechtliche Seite der Reformation legt, ändert nichts daran, dass er sie als zentrales theologisches Geschehen begreift. Auch dafür muss ein Beispiel genügen. Mit erfrischender Klarheit arbeitet Heckel den ursprünglichen Sinn von Luthers Anschauungen über das Verhältnis zwischen Gottes Reich und dem Reich der Welt sowie der damit verbundenen Unterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Regiment heraus. Gegenüber verkürzenden Darstellungen, die Luthers so genannte „Zwei-Reiche-Lehre“ nur als Unterscheidungslehre begreifen, arbeitet Heckel in exemplarischer Anknüpfung an die Bergpredigt-Auslegung des Reformators die Zuordnung der Reiche und Regimente als entscheidende Pointe heraus. Denn die Verkündigung des Evangeliums als Kern des geistlichen Regiments soll die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit erreichen und die weltliche Gewalt soll den Frieden aufrechterhalten, damit Raum für die freie Weitergabe des Evangeliums entstehe.

Zugleich beachtet der Verfasser die kontingenten historischen Gegebenheiten und Entwicklungen dieser Zeit. Sie beeinflussten die Haltungen und Aussagen der Reformatoren tiefgreifend, bisweilen auch in verhängnisvoller Weise. Ohne die detaillierte Kenntnis der geschichtlichen Bedingungen lassen sich die Schärfen der Auseinandersetzung wie auch Inkonsistenzen und Fehlentwicklungen theologischer Art nicht verstehen. Nicht nur an Luthers Aussagen zu den aufrührerischen Bauern und zu den Juden, sondern noch grundsätzlicher an seinem Umgang mit der staatlichen Toleranzpflicht macht Heckel das deutlich. Denn zunächst verweigert der Theologe Luther dem Staat in klarer Weise das Recht, über Irrlehren zu urteilen, und verpflichtet ihn somit zur Toleranz, solange sich die Irrlehrer an die Rechts- und Friedensordnung halten. In seinen Äußerungen zu den Dissentern der Reformation verstößt Luther jedoch gegen diese Toleranz, weil er falsche, von ihm „schwärmerisch“ genannte Auffassungen über die Umwandlung der politischen Ordnung in einem verfehlten Glaubensverständnis begründet sieht. Er fordert deshalb den Staat dazu auf, gegen dieses Glaubensverständnis als solches vorzugehen; die Grenze, die er zuvor dem staatlichen Handeln gezogen hatte, hebt er damit selbst wieder auf.

Der Autor hat sein Forscherleben nicht nur der staatlichen wie kirchlichen Rechtsgeschichte, sondern ebenso dem geltenden staatlichen wie kirchlichen Recht gewidmet. Er zieht deshalb auch klare Schlüsse für die Gegenwart. Dabei wird seine persönliche Haltung erkennbar, ohne Ausschließlichkeit zu beanspruchen.

Heckels Werk verhilft seiner Leserschaft dazu, zwischen dem bleibend Wichtigen und dem Zeitgebundenen in Luthers Denken zu unterscheiden. Gerade dadurch ist dieses Buch ein großer und bleibender Beitrag zur historischen Würdigung und Vergegenwärtigung der Reformation. In einer Zeit, in der die einen die Reformation theologiefern „historisieren“ während andere sie geschichtsfern „theologisieren“, zeigt dieses Meisterwerk, dass historisches Verständnis und theologische Tiefenschärfe einander nicht konterkarieren. Sie können sich vielmehr zu einem Gesamtbild verbinden. Für das Reformationsjubiläum ist ein solches Gesamtbild unentbehrlich.

Wolfgang Huber

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Mark Schaevers: Orgelmann

Faszinierend

Der Maler Felix Nussbaum
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Mark Schaevers formt eine Erzählung, die Felix Nussbaum faszinierend gegenwärtig macht.

Die Heimat, die ihn nicht will, holt Felix Nussbaum 1940 wieder ein. Deutsche Truppen überfallen Belgien. Das prekäre Exil wird für den Fabrikantensohn aus Osnabrück nun noch gefährdeter. Er wird in ein Lager nach Frankreich deportiert, flieht, kehrt nach Brüssel zurück. Ihm und seiner Frau gelingt es unterzutauchen. Sie leben versteckt, bis man sie denunziert und 1944 mit dem letzten Transport aus Belgien nach Auschwitz verschleppt, wo sie im Gas ermordet werden.

Überlebt haben seine Bilder, doch es dauerte, bis sich ihre Spuren wieder fanden. Rund 400 Zeichnungen und Gemälde insgesamt, von denen inzwischen 130 im von Daniel Libeskind entworfenen Nussbaum-Museum in Osnabrück zu sehen sind. In seinem großartigen Buch über den Maler, für das er jahrelang aufwändig recherchierte, erzählt der belgische Journalist Mark Schaevers auch diese Geschichte. Das erste Bild, das er selbst von Nussbaum wahrnahm, war zugleich wohl dessen bekanntestes: das „Selbstbildnis mit Judenpass“.

Es zeigt den schmächtigen kleinen Mann als Gehetzten mit Hut und Mantel, den Kragen hochgeschlagen. Schlecht rasiert, in die Enge getrieben, vor hohen Mauern mit Judenstern unterm Kragen. Den Pass hält er in der Hand, als wäre der fremd und giftig. Doch benannt ist die Biographie nach dem, ebenfalls 1943 beendeten, „Orgelmann“. Auf eine Drehorgel gestützt schaut er aus einer gespenstischen Gasse heraus den Betrachter und die Betrachterin an. Vom Schrecken gezeichnet, aber seltsam gefasst. Zerstörung und Gerippe beherrschen die Szenerie. Die Orgelpfeifen sind perforierte Menschenknochen.

Nussbaum-Bilder erzählen. Fantastik spielt in vielen eine große Rolle. Er ist darin ein Maler des magischen Realismus, ein Hellsichtiger, der oft Finsteres zu sehen bekam. Niederdrückend ist das erstaunlicherweise nie, vielmehr wirkt es gültig, mitunter sogar heiter. Ocker ist ein zentrales Merkmal seiner Farbpalette. Er war in Berlin unter den Nachexpressionisten ein Star.

Als Stipendiat bezieht er 1932 in der Villa Massimo in Rom ein Atelier, zeitgleich mit Arno Breker, der schon bald zum „Dekorateur der Barbarei“ (Klaus Staeck) avancieren und sich selbst bis ins hohe Alter stets „unpolitisch“ nennen würde. Während Felix Nussbaum und die anderen Internierten 1940 in Frankreich im Lager von Krankheiten zermürbt in große Tonnen schissen, was Nussbaum später auch malte, spazierte Arno Breker mit Adolf Hitler durch das eroberte Paris.

Mark Schaevers schildert denkwürdig, wie sich ihre Wege kreuzten, in welche Richtungen sie weiterführten und - eine besondere Stärke seines Buchs - setzt sie zueinander in Beziehung. Das ist so erschütternd wie erhellend. Das gilt noch mehr für den verfolgten, schwer gefolterten Hans Mayer, alias Jean Améry, mit dessen Schicksal und Schriften er Nussbaums Biographie ebenfalls in einen inszenierten Dialog bringt. Den Raum für dieses Geflecht bietet die Form, denn der Orgelmann ist als Reisebericht angelegt, analog zu Schaevers Recherche: Er besucht die Orte, an denen Felix Nussbaum lebte, an die es die Bilder verschlug, spricht mit Zeitzeugen, Nachkommen, durchforstet Archive der Fremdenpolizei, Briefe, die Listen von Zügen, Zeitungen und Bücher jener Zeit.

Aus dem, was er findet, sieht, hört, versteht, formt er eine Erzählung, die Felix Nussbaum faszinierend gegenwärtig macht. Viele von Nussbaums Bildern kehrten nach Deutschland zurück, er selbst streifte die verräterische Heimat nur noch einmal, auf der Fahrt in den Tod. Für ihn und seine Frau Felka Platek hatte 1932 in Rom das Exil begonnen, in dem er übrigens oft gemein zu ihr war. Auch davon erzählt das Buch. Hagiographie ist es also keineswegs, dafür aber eine engagierte, packende Biographie, die im lebhaften Dialog mit Abbildungen von vielen seiner Bilder Nussbaums Geschichte zugänglich macht und zugleich glänzend in sein Werk einführt.

Udo Feist

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Margot Käßmann: Sorge dich nicht, Seele

Kraftvoll

Zwischen Glaube und Welt
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Käßmanns Stärke ist ihre Zugewandtheit den Menschen gegenüber.

Vom christlichen Glauben sprechen und seine Relevanz mitten in der Welt überprüfen, ist das Lebensthema von Margot Käßmann. Ob als Pfarrerin, Bischöfin, EKD-Ratsvorsitzende oder jetzt als Reformationsbotschafterin, sie erzählt in Predigten, im Dialog ebenso wie vor großem Publikum von ihrem christlichen Glauben und welche Verantwortung sich daraus in der Welt ergibt. Dabei gilt für Käßmann immer: Es gibt keine weltabgewandte Frömmigkeit, sondern nur eine, die mitten im Alltag gelebt wird und diesem auch standhält. Und die 58-Jährige hat oft genug am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, wenn man den Glauben in den Konflikten der Zeit lebt.

Käßmanns Stärke ist ihre Zugewandtheit den Menschen gegenüber. So widmet sie sich auch als Autorin immer wieder den Menschen mit ihren Fragen nach Gott, ihren Konflikten und Sorgen. Was hilft in Lebenskrisen, bei Scheidung, Verlust, bei Tod? Und warum muss der Mensch trotz allem nicht verzagen? Die Leserin muss sich diese Fragen selbst beantworten. Doch dabei hilft ihr die Lektüre dieses Buches, das Kristina Johlige Tolstoy mit mehreren Reliefbildern illustriert hat. Da geht es um Krankheit, um Arbeitsplatzverlust und auch um Gewalterfahrungen - Geschichten, die jeden Tag irgendwo passieren.

Zumeist eröffnet ein Popsong, eine Szene aus einem Kinofilm oder ein Gedicht ein Kapitel, in dem die Theologin zum Beispiel von Enttäuschungen, Ungerechtigkeiten, vom Kosmos Familie, dem Altwerden oder auch von schwierigen Gottesbildern berichtet. Käßmann zitiert aus Briefen, in denen sich Menschen an sie wenden, aus Gesprächen und Begegnungen. Ihre Erfahrungen, aber auch Fragen lässt die vierfache Mutter und Großmutter einfließen und gleicht diese mit denen aus den jahrtausendalten biblischen Geschichten ab. Sie weiß: Manchmal hilft es, den Blickwinkel oder die Perspektive zu wechseln. Denn Sorgen und Ängste zerfressen am Ende nur die Lebenslust. Einfach ist das nicht. Daraus macht die Reformationsbotschafterin keinen Hehl. Schönreden und beschwichtigen will sie nicht, vielmehr Menschen Mut machen, „anzunehmen, was ist, und zu gestalten, was man noch selbst umsetzen kann“. Das Gute im eigenen Leben wahrnehmen, dankbar sein und trotzdem Mut für neue Aufbrüche zu haben, diese Balance gilt es ihrer Ansicht nach zu finden. Was dabei hilft: Beziehung, Freunde, Menschen, die einem beistehen. Das will sie weitergeben.

Dabei berichtet Käßmann von dem, was ihr hilft, im Leben und in der Welt zu bestehen: „Für mich ist der Glaube die Kraft, die mir die Möglichkeit gibt, im Leben zu bestehen, eine Orientierung zu finden für mein Denken, Reden und Handeln. Diese Kraft speist sich aus der Bibel, den Erzählungen von den Glaubenserfahrungen unserer Väter und Mütter im Glauben“, schreibt die Theologin. Und es kommt darauf an, eine Haltung zu bekommen, „mit der wir unseren Lebensweg gehen, gestalten oder eben auch ertragen, wenn wir daran nichts ändern können“. Und manchmal dringt Empörung in ihre Formulierungen, wenn die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens nicht weiter verfolgt wird oder die Waffenexporte nicht zurückgehen. Und als Antwort auf den Terror setzt die Reformationsbotschafterin den Dialog der Religionen. Denn eines lässt sie sich nicht nehmen - die bleibende Hoffnung auf eine bessere Welt.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.

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