Eugen Drewermann: Geld, Gesellschaft und Gewalt

Fulminant

Neue Kapitalismuskritik
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Drewermann hat mit feinem Sarkasmus eine kenntnisreiche Analyse des kapitalistischen Systems geschrieben.

Der Psychoanalytiker ist zum Kapitalismuskritiker geworden. Derjenige, der den Einzelnen von seiner Angst befreien will, seziert nun das System, das Ängste produziert. Ein System, dem aber „nicht mit psychologischen Mitteln beizukommen“ sei: „Es gibt im Kapitalismus erkennbar keine Messfühler, die auf Mitleid oder Menschlichkeit oder moralische Verantwortung reagieren würden.“ Deswegen seien moralische Appelle zwecklos, es komme also darauf an, die Regeln des Systems zu verstehen und zu ändern.

Im Herzen des Systems macht Drewermann den Preismechanismus aus: also die Tatsache, dass Preise sich durch Angebot und Nachfrage regulieren. Damit ist klar: Es reicht für Drewermann nicht, den neoliberalen Kapitalismus gegen vermeintlich bessere Varianten des Kapitalismus auszuspielen.

Der Psychologe hat sich durch die Lehrbücher der Wirtschaftstheorie gearbeitet und legt dar, was dort zu Preisen, Löhnen und Handel geschrieben wurde. Dabei legt Drewermann sein Augenmerk darauf, dass in den Preisen weder der Naturverbrauch noch die sozialen Kosten einer Unternehmung abgebildet würden, deswegen wachse das kapitalistische System auf Kosten von Natur und Mensch. Die Änderungsvorschläge entlang dieser Analyse fallen unterschiedlich radikal aus: Der Naturverbrauch müsse in die Preise einberechnet werden, wie dies ja schon im Emissionshandel geschehe; darüber hinaus brauche es maßgebliche ökologische und soziale Steuerreformen; Drewermann hat aber auch keine Scheu vor vermeintlich sozialistischen Lösungen, wenn er die Verstaatlichung von Wohnimmobilien vorschlägt.

Drewermanns Vorgehen erinnert an Karl Marx: Auch dieser hatte aus der Auseinandersetzung mit den Standard-Ökonomen seiner Zeit die historischen Gesetze des Kapitalismus entwickelt. Es ist aber fraglich, ob die Verallgemeinerungen der Ökonomen die tatsächliche Preisbildung auf den Märkten abbilden können (Wirtschaftssoziologen arbeiten hier schon längst an lebensnäheren Beschreibungen). So argumentiert Drewermann gegen eine Mietpreisbremse mit Lehrbuch-Analysen: Wenn die Mietpreise gedeckelt würden, würden weniger Mietwohnungen gebaut und bestehende Mietwohnungen würden verkauft statt vermietet. Aber die aktuelle Entwicklung in deutschen Ballungszentren zeigt, dass die Konsequenzen einer Mietpreisbremse nicht anonyme Reaktionen „des Marktes“, sondern miese kleine Tricks von Vermietern sind, die ihre Wohnungen möbliert vermieten, um die Auflagen zu umgehen. Sind diese Vermieter von den Gesetzen des Marktes dazu gezwungen oder sind sie nur getrieben von einer - sicherlich längst allgemeinen und darum auch legitimierten - Gier nach dem größtmöglichen Profit? Kurz: Vielleicht ist der Raum der persönlichen Verantwortung größer, als Drewermann meint?

Damit wird eine Spannung sichtbar, die wohl nur dialektisch aufzulösen ist: Wieso wird der Einzelne, an dessen Veränderbarkeit der Psychologe Drewermann festhält, immer wieder vom System zurechtgestutzt? Können kreative Menschen keine besseren Systeme schaffen? Drewermann betont sehr stark die Macht des Systems; vielleicht ein nötiges Gegengewicht angesichts der herrschenden Diskussionslage, bei der die meisten auf der anderen Seite vom Pferd fallen, wenn sie glauben, Anstand und Coporate Social Responsibility würden uns retten.

Insgesamt hat Drewermann mit feinem Sarkasmus eine kenntnisreiche Analyse geschrieben und mit vielen konkreten Beispielen aus einer akribischen Zeitungslektüre angereichert. Man darf auf den zweiten Band zu „Kapital und Christentum“ im Sommer 2017 gespannt sein, in dem Drewermann die Möglichkeiten des Menschen im System genauer untersuchen will.

Christoph Fleischmann

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Erik Flügge: Der Jargon der Betroffenheit

Leidenschaftlich

Sprachkritik an der Kirche
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Das Buch ist eine leidenschaftliche Anklageschrift: laut, oft überzogen und radikal.

Erik Flügge ist wütend. Priester, Pfarrer und Pfarrerinnen, lautet die These des Kommunikationsberaters, hätten eine kircheninterne Sprache, sie verwendeten verschrobene und gefühlsduselige Wortbilder. Sie predigten Banalität statt wirklicher Botschaft und sprächen nicht an, sondern redeten an der Lebenswirklichkeit der Menschen heute vorbei. Die Sprache, in der so manche Predigt vorgetragen wird, ist nicht mehr zeitgemäß. Und so brauchen sich Pfarrer und Priester auch nicht wundern, wenn die Kirchenbänke am Sonntag leer sind. Denn diesen „Jargon der Betroffenheit“, so Flügge, wolle niemand mehr hören.

Auf 160 Seiten nimmt Flügge die Sprache der Kirche auseinander. Er sammelt Negativbeispiele, erzählt von seinen eigenen Erfahrungen mit abgegriffenen, schrägen Sprachbildern, analysiert die Sprache von „Wort-zum-Sonntag“-Sprechern und berichtet von einem Facebook-Kontakt mit einem Priester, der nicht an die Wirkmacht von Sprache glaubt. Flügges traurige Bilanz: An keine einzige Predigt in einem Gottesdienst, den er besucht hat, kann er sich erinnern. Kein Wort oder Gedanke ist bei ihm hängen geblieben.

Und so begibt sich der Politikberater in seinem Buch auf die Suche nach einer guten Predigt, nach einer religiösen Sprache, die anspricht. Dabei entwickelt er seine eigenen Thesen für eine gute Predigt: Predigten brauchten Relevanz und brauchten das richtige Timing, sie müssten aktuell sein. Predigten müssten emotional sein, der Prediger müsse mit seiner Wut, seiner Enttäuschung oder seiner Freude sichtbar sein. Predigten müssten aber auch pointiert sein und brauchten theologische Substanz. Dem allen schickt er sein Credo voraus: „Sprecht doch einfach über Gott, wie ihr bei einem Bier sprecht. Dann ist das vielleicht noch nicht modern, aber immerhin mal wieder menschlich, nah und nicht zuletzt verständlich.“

Flügge trifft mit seinem Buch einen wunden Punkt. Denn die Beschreibungen, die Flügge bietet, sind durchaus zutreffend. Und geben Erfahrungen wieder, die viele Menschen mit Kirche gemacht haben, ob es nun um den leiernden Singsang geht, in dem so mache Predigt vorgetragen wird, um abgedroschene Sprachbilder oder um das Gefühl, der Pfarrer stehe nicht hinter dem, was er sagt, und verstecke sich hinter Worthülsen. Pfarrer und Priester, so seine These, setzten auf größtmögliche Distanz und schafften es nicht, Nähe und Vertrautheit herzustellen.

Das Buch ist eine leidenschaftliche Anklageschrift. Flügge, der selbst ein Theologiestudium angefangen und dann abgebrochen hat, provoziert immer und immer wieder. Laut, oft überzogen und radikal. Er verallgemeinert, und tut damit so manchem Pfarrer oder Priester, der nicht dem gezeichneten Klischee entspricht, unrecht. Flügge hadert mit der Kirche und hängt doch an ihr. In seinem Eifer vergreift er sich hin und wieder im Ton, etwa wenn er davon spricht, dass die „Kirche an ihrer Sprache verreckt“ oder er eine Weihnachtsansprache „Scheiße“ findet. Das ist schade und schwächt seine Kritik. Denn mit seinem Plädoyer für eine verständliche Sprache weist Flügge auf einen wichtigen Punkt hin: Damit Kirche auch heute noch relevant sein kann, braucht es dringend einen neuen Kommunikationsstil.

Barbara Schneider

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C.Nürnberger/P.Gerster: Der rebellische Mönch (…)

Mit Gewinn

Luther für Leute von heute
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Die evangelische Leserin wird am Ende dieses Buches aufs Schönste in ihren ältesten Kindheitsgewissheiten bestätigt

Christian Nürnberger ist bekannt als Jugendbuchautor und evangelischer Publizist, der den kirchlich distanziert Sinnsuchenden das Christentum jenseits der theologischen Begrifflichkeiten vermitteln kann. Zum Reformationsjubiläum legt er ein Luther-Buch vor, das gerade dazwischen liegt: In einem Jugendbuchverlag erschienen und mit märchenhaft surrealen Illustrationen versehen, bietet es sich als Konfirmationsgeschenk an, wird in seinem mehr erklärenden als erzählenden Duktus aber wohl eher die aufgeklärten Eltern der 14-Jährigen interessieren. Nürnberger will die Lesenden nicht in die Welt des späten Mittelalters versetzen, er beschreibt Luthers Weg und die Anfänge der Reformation vielmehr aus der Perspektive des „westlichen Normalbürgers von heute“: die damalige Kirche als „Großkonzern“ und die Rechtfertigungslehre als „Entdeckung eines neuen Gottesbildes“.

Seine Reformationsgeschichte beginnt ganz wie im klassischen Religionsunterricht mit dem Blitzschlag auf dem Weg nach Erfurt, mit der mittelalterlichen Angst vor Hölle und Fegefeuer. Doch lässt er den jungen Luther, der an seiner Fähigkeit zum Gutsein vor Gott zweifelt, dann gleich zum frühen Entdecker der Freud'schen Trieblehre werden. Kundig und kritisch vergegenwärtigt er vom Turmerlebnis bis zum Bauernkrieg die wichtigen Lebensstationen des Reformators, informiert über Humanismus und Renaissance, Kolumbus und Kopernikus, weniger genau über die sozialen und politischen Spannungen im frühen 16. Jahrhundert und die reformatorische Aufbruchsstimmung, die Luther ja nicht nur auslöste, sondern die ihn auch trug. Darin bleibt Nürnberger nun doch konservativ: Luther ist für ihn „der Mann, der in vier Jahren die Welt veränderte“. Als Initiator der Neuzeit wird er gefeiert, weil er die „mächtigsten Autoritäten der Welt absetzte“ und den Autoritäten einer neuen Zeit zum Durchbruch verhalf: „Schrift, Vernunft, Gewissen“ - und damit auch der Relativität aller Wahrheit den Weg bahnte.

Auf Abstand geht der Autor zu dem Luther, der dem Mittelalter verhaftet bleibt, unverständliche Entscheidungen fällt, im Zorn unverzeihliche Dinge zu Papier bringt. Er urteilt vernünftig, kommt dem Menschen und leidenschaftlichen Theologen Martin Luther dabei aber nicht wirklich nahe. Wie ein Ruhepol im furiosen Interpretationsgewitter wirkt das ausführliche Kapitel über Katharina von Bora, das Petra Gerster beigesteuert hat. Auch sie fragt von heute aus, was die Reformation denn zur Gleichstellung der Frau beigetragen habe, und berichtet zugleich sorgsam von den Leistungen der tüchtigen Katharina. Hier erfährt man einiges vom Leben der Familie, lernt Luther als Ehemann und Vater ein wenig aus der Nähe kennen.

Nürnberger schließt mit einer kurzen Darstellung der Geschichte des Protestantismus und der Reformationsjubiläen und empfiehlt im letzten Kapitel die Protestanten als die Religionsgemeinschaft, die wegen ihrer „Dynamik und Flexibilität“ besser „als jede andere Glaubensgemeinschaft in eine multikulturelle, säkulare Individualistengesellschaft passt“ und darum geeignet sei, das Gespräch über die „Grundregeln multikulturellen Zusammenlebens“ zu moderieren.

So fühlt sich die evangelische Leserin am Ende dieses so kritisch und aufgeklärt wirkenden Buches aufs Schönste in ihren ältesten Kindheitsgewissheiten bestätigt, die da lauten: Erstens: Martin Luther hat die Reformation ganz alleine gemacht. Zweitens: Die Evangelischen sind die Besten. Wer für das eine wie das andere Argumente in zeitgemäßer Sprache sucht, wird das Buch mit Gewinn lesen.

Angelika Obert

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Baba Zula: XX

Cool Istanbul s

Krautrockdub vom Bosporus
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Hohe Trancegefahr, aber die Spiritualität wurzelt definitiv diesseits tanzender Derwische

Als Recep Erdogan nach dem Putschversuch zum Großevent in den Istanbuler Stadtteil Yenikapi rief, lud man auch haufenweise Celebrities diverser Sparten, die sich nicht lumpen ließen. Bloß Sängerin Sila erklärte, sie sei zwar gegen den Putsch, aber auch gegen diese Show in Yenikapi. Ein Shitstorm und Hassartikel regierungshöriger Blätter folgten. AKP-regierte Städte sagten Silas Konzerte ab, die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen wegen „Herabsetzung der türkischen Nation“ ein. De facto-Auftrittsverbote haben Baba Zula bislang nicht, doch sie drohen. Mit ihrer anarchischen Quirligkeit und kritischen Texten stehen sie eh für Aufstand gegen den Sultan, eines ihrer Alben heißt nicht von ungefähr Itaat Etme (Do Not Obey), und 2013 waren sie bei den Gezi-Park-Protesten dabei. Sie verkörpern das Cool Istanbul, wo sich Ost und West auch in den Stilen treffen. Auf diese Vielfalt der 15-Millionen-Metropole beziehen sie sich immer wieder emphatisch.

Baba Zula gibt es seit 1996, weithin bekannt machte sie 2005 Fatih Akins Film „Crossing the Bridge“ über den Sound von Istanbul. Sie nennen ihre Musik Orientaldub - ein funkelnder, tanzwütiger Mix aus türkischem Folk, Dub, Psychedelia, Krautrock, Rock‘n‘Roll, Blues und Funk, der einen Heidenspaß macht. Baba Zual sind Osman Murat Ertel (Saz, Gitarre, Vocals, Bass, Percussion) und Mehmet Levent Akman (Maschinen, Elektronik, Becken, Löffel, Percussion) mit wechselnden Sängerinnen und Weggefährten. Zum 20-jährigen Bestehen liegt nun die Doppel-CD XX vor: CD 1 bietet 13 Tracks, darunter zwei Liveversionen, die ihre Spielfreude und hypnotische Kraft auf den Punkt bringen. Besonders fasziniert das 20-minütige Abdülcanbaz. Yororo Kanto beginnt als psychedelischer Funkpop à la Steely Dans Do it again und kippt dann in Dub. Der absolute Hit ist Asiklarin Sözü Kalir (Eternal Is The Word Of Poets). Die treibende Krautrocknummer mit Seitenhieben auf Politiker fährt gleich unentrinnbar in Herz, Becken und Beine - nach einem interreligiösen Gebet gespielt, geriete die Begegnung unweigerlich körperlich, alle gingen in Bauchtanzmodus über. Hohe Trancegefahr, aber die Spiritualität wurzelt definitiv diesseits tanzender Derwische und vermählt Sinn und Sinnlichkeit.

Ein Pendant zum eingemischten Pferdewiehern, das man so frei wie brünstig finden kann, ist der recht explizite Erotika Hop mit signifikantem Stöhnen. Dub-Mastermind Mad Professor nimmt es im Remix Erotik Adab Dub genüsslich auf. CD 2 umfasst insgesamt 15 Dub-Versionen ihrer Songs. Dieses Reggae-Remix-Spiel mit Hall und Echo ist eh ein Steckenpferd von Baba Zula, am Bosporus geerdete Kosmopoliten, die schon mit vielen zusammenarbeiteten (etwa Jaki Liebezeit von Can). Etliche berühmte Gäste sind auch auf XX dabei.

Udo Feist

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Wilfried Härle: "...und hätten ihn gerne gefunden"

Auf der Spur

Eine beherzte Gottessuche
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Härles Buch ist so etwas wie ein populärwissenschaftlicher Streifzug durch die Systematik und greift alle relevanten Themen auf.

Der Glaube ist nicht jedermanns Ding“, so steht es schon im biblischen Thessalonicherbrief. Was den christlichen Glauben angeht, so trifft das heute in Deutschland auf einen großen Teil der Bevölkerung zu. Die einen sind nie damit in Berührung gekommen, anderen sagen christliche Glaubensinhalte nichts mehr. Während die einen nichts vermissen, wenn sie nicht glauben, gibt es immer wieder auch Menschen, die von sich sagen: Ich würde ja gerne glauben, aber ich kann es nicht. Ihnen möchte Wilfried Härle helfen, „Gott auf der Spur“ zu bleiben, wie es im Untertitel seines Buches heißt, beziehungsweise Gott auf die Spur zu kommen.

Der emeritierte Professor für Systematische Theologie will „die Einwände und Vorbehalte gegen den Glauben an Gott, die sich gewissermaßen von selbst melden, sich aber nicht von selbst beantworten“, ernstnehmen, und er will sie nach Möglichkeit überwinden helfen. Anders als etwa Hans Küng fragt Härle nicht „Existiert Gott?“, sondern „Wie kann ich Gott finden?“. Er will nicht voraussetzungslos nach Gott, nach dem Glauben fragen, sondern erklärtermaßen als überzeugter Christ anderen den Zugang zum Glauben erleichtern, indem er christliche Glaubensinhalte darstellt, sich mit den Fragen und Einwänden dazu auseinandersetzt und seine persönliche Antwort zu geben versucht. Sein Buch ist so etwas wie ein populärwissenschaftlicher Streifzug durch die Systematik und greift alle relevanten Themen auf. Das Verhältnis von Schöpfungsglauben und Naturwissenschaft, die Theodizeefrage und die Auseinandersetzung mit der Opfertheologie oder die Bedeutung der Trinität kommen ebenso zur Sprache wie die hochaktuellen Themen Religion und Gewalt, Glaube und Politik und die Frage, ob es denn derselbe Gott sei, an den die drei monotheistischen Religionen glauben.

Die verschiedenen Positionen und Gegenpositionen werden klar und verständlich dargestellt, freilich nicht immer so schlicht wie in einem Text zur Trinität, entstanden im Rahmen eines theologischen Seminars, wo es heißt: „Da hatten sie Gott zweifach. Und um sie unterscheiden zu können, nannten sie Jesus den Sohn und Gott den Vater. Denn häufig gleichen die Söhne ja ihren Vätern.“ Im Kapitel über „Gott und die Welt“ fallen hingegen schwierige Begriffe wie Theismus, Deismus, Pantheismus und Panentheismus, wobei Härle selbst letzteren schon in der Überschrift als die „Angemessenste Verhältnisbestimmung“ bezeichnet und damit seine Position verdeutlicht, wie er überhaupt immer mit seiner Meinung klar erkennbar bleibt. Das ist eine Stärke seines Buches. Seine Schwäche ist eine gewisse Uneinheitlichkeit in Niveau und Stil. Neben manchen pathetischen Passagen („im Licht seiner heiligen Liebe…“) finden sich auch sympathisch offene Worte über eigene Grenzen, aber dort ist auch die Dankbarkeit, selbst glauben zu können.

Zu viele Hervorhebungen machen das Lesen bisweilen anstrengend, sie wirken penetrant pädagogisch und oft eher beliebig als einleuchtend. Und der Schluss mit Pablo J. Luis Molineros Gleichnis „Gibt es ein Leben nach der Geburt?“ bleibt eindeutig unter dem Gesamtniveau des Buches, auch wenn Härle im ausführlichen Anmerkungsteil immerhin selbst schreibt, dass „dieses Gleichnis nicht in jeder Hinsicht stimmig ist“. Auch an anderer Stelle wird manches recht verkürzt dargestellt. So lässt sich ja die Paradieserzählung durchaus auch als eine Geschichte des Mündigwerdens lesen. In Gemeinden kann das Buch zum Beispiel in Glaubens-und Konfirmationskursen sicherlich seinen Einsatz finden und zu weiterführenden Diskussionen anregen.

Jutta Schreur

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Werner Thiede: Evangelische Kirche - Schiff ohne Kompass?

Debattenbuch

Klarer Kurs gefordert
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Thiede weist mit wohltuender Sachlichkeit auf die Herausforderungen hin, denen sich die Kirche zu stellen hat.

Aus Anlass des Reformationsjubiläums legt Werner Thiede ein hilfreiches Debattenbuch vor. Er fragt nach dem Zustand der Evangelischen Kirche. Er sieht eine drohende Zerreißprobe auf die Kirche zukommen. Das Reformationsjubiläum sei für die evangelische Kirche kaum Anlass zum Jubel, wohl aber einer zur Besinnung auf ihre Identität. Drei divergierende Strömungen des Protestantismus nennt Thiede: eine konservative, eine liberale und eine wachsende passive Mitte. Dabei habe in den vergangenen Jahrzehnten der liberale Flügel eine gewisse Vorherrschaft erlangt, sowohl in der Universitätstheologie als auch in der kirchlichen Hierarchie. Das Reformationsgedenken sei der richtige Zeitpunkt für den Dialog zwischen den verschiedenen Strömungen.

Angesichts starker Anpassung an „aufklärerische“ Kritik müsse man die Schattenseiten sehen. Thiede benennt die nach wie vor starke Schrumpfung der Kirche. Der Negativtrend sei nicht allein demographisch zu erklären. Stärker als der Katholizismus habe in der evangelischen Kirche mit der Aufnahme moderner Weltdeutungsangebote das religiöse Bindungspotenzial abgenommen. Vom missionarischen Auftrag Jesu und der Einladung an Fernstehende sei in den Landeskirchen kaum etwas zu bemerken.

Thiede vermisst den praktischen Rang der überkommenen Bekenntnisse der evangelischen Kirche. Die apostolischen und reformatorischen Zeugnisse seien Einladungen zum Einstimmen in eine bestimmte Beschreibung des Glaubens. Hier seien Brüche entstanden, die Vielen keine Identifizierung mehr ermöglichten.

Die Säkularisierung habe der Kirche den Boden entzogen. In den seichten Gewässern des Säkularismus brauche die evangelische Kirche wieder einen klaren Kurs. Sie habe allen Grund zu kritischer Selbstvergewisserung. Denn es könne ja sein, dass die Konservativen in Kirche und Theologie mit ihren Mahnungen in mancherlei Hinsicht eher Recht haben, als den Liberalen lieb ist.

Thiede weist im ersten Teil seines theologisch gründlich geschriebenen Buches mit wohltuender Sachlichkeit auf die Herausforderungen hin, denen sich die Kirche zu stellen hat. Er fordert, die unterschiedlichen Strömungen wahrzunehmen, die dem Schiff „Evangelische Kirche“ gefährlich sind. Ein neuer Kulturprotestantismus habe sich breit gemacht, in dem liberale Theologie die theologischen Grundprinzipien der Reformation, nämlich das Christus allein, die Schrift allein, die Gnade allein, der Glaube allein inhaltlich aufgeweicht oder gar aufgegeben habe. Trotz oder wegen der gemeinsamen Erklärung von 1999 würde die reformatorische Rechtfertigungslehre von vielen nicht mehr als die klare Grundlage der evangelischen Kirche betrachtet.

Im zweiten, „Vergewisserungen“ genannten Teil geht es dem Verfasser um das Kirchenverständnis Luthers, Melanchthons, Zwinglis und Calvins. Hier arbeitet er Gemeinsames und Unterschiede heraus. Gemeinsam sei die Betonung der unter Wort und Sakrament versammelten Gemeinde. Und hier, in den Ortsgemeinden, habe die Erneuerung anzusetzen. Sie sei geboten durch eine klare Bestimmung von Ordination und kirchlichem Amt. Thiede betont, dass jeder Christ zu Gott in einem priesterlichen Verhältnis stehe. Der bevollmächtigte Dienst an Wort und Sakrament bedürfe jedoch einer klaren Beauftragung an Männer und Frauen, die durch Gaben, Ausbildung und Versprechen die Kontinuität mit der Überlieferung der Botschaft gewährleisten müssten. Die Gemeinden haben so ihre Verbundenheit untereinander durch den geschwisterlichen Dienst der Visitation zu organisieren. Hier sieht Thiede unterschiedlich große Mängel in den Landeskirchen.

Am Bespiel von Taufe und Konfirmation nennt er Erneuerungsbedarf. Er hält es für die Kirche stabilisierend, wenn die Praxis der Erwachsenentaufe gestärkt und die Konfirmation nicht schon mit 14 Jahren angeboten würde. Der Vollzug solle die beabsichtigte Integration der Menschen in die Gemeinde Jesu Christi deutlicher betonen. Hier nimmt Thiede eine Diskussion aus den Siebzigerjahren auf, mit ähnlichen Argumenten und Zielen wie damals.

Die konfessionsübergreifende Feier des Abendmahls entspricht der Sehnsucht der Mehrheit in allen Konfessionen. Noch steht das Weiheverständnis der römischen und orthodoxen Kirchen dem im Wege. Einstweilen sollten sich die evangelischen Gemeinden um klare Formen mühen, damit erkennbar werde, was wo und wie geboten wird.

In einem eigenen Abschnitt wirbt Thiede um das „vergessene Sakrament“, die Beichte. Er verweist auf Luther, der angesichts der endgültigen Zueignung der in Christus gründenden Gnade wohl gewusst habe, dass kein Christ im weiteren Verlauf seines Lebens von Sünden frei sei, sondern der Buße bedürfe. Als dritten Teil formuliert Thiede seine Perspektiven für eine Erneuerung der evangelischen Kirche in 95 Thesen. Die 91. These fasst zusammen, worum es dem Autor geht: „Initiatoren, Lenker und Gestalter von besonderen Kirchenreformprozessen sollten sich an zwei grundlegenden Bedingungen ausrichten: Zum einen müssen ihre Schritte theologisch genau begründet und dabei dem Diskurs in der kirchlichen Öffentlichkeit ausgesetzt sein; zum andern sollten sie von einer spürbaren Vielzahl von Gemeinden mit ihren Pfarrerinnen und Pfarrern an der Spitze bejaht und engagiert mitgetragen werden.“

Manfred Kock

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Uta Pohl-Patalong/Eberhard Hauschildt: Kirche verstehen

Profilierte Vielfalt

Wie Kirche zu verstehen ist
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Nur durch die Kombination vielfältiger Perspektiven lässt sich sagen, was die Kirche heute ist.

Dieses handliche, gut lesbare Buch zeigt auf dem Cover „Gelmeroda IX“ von Lyonel Feininger, eines seiner typischen Gemälde von Thüringer Dorfkirchen. Die Wahl dieses Bildes passt gut zu den inhaltlichen Akzenten, die diesen Band aus der Fülle von Sach- und Meinungsbüchern über die Kirche herausheben.

Auf Feiningers Bild lösen sich die Konturen des Gebäudes in zahlreiche Farbflächen und Schattenrisse auf - und zugleich bleibt deutlich, dass hier eine Kirche zu sehen ist. Nur durch die Kombination vielfältiger Perspektiven lässt sich sagen, was die Kirche heute ist - das ist auch das durchlaufende Motiv des Buches. So werden im dritten Kapitel drei „kontrastreiche Kirchenideale“, drei „Gestaltungslogiken“ nebeneinander gestellt: Die Kirche kann als ein Zusammenspiel von engagierten Gruppen erscheinen, oder als eine soziale Institution, die religiöse Angebote für die ganze Gesellschaft bereit hält, oder als zielorientierte Organisation, die für ihre Anliegen um Mitglieder, Mitarbeitende und Finanzen werben muss. Typisch für Uta Pohl-Patalongs und Eberhard Hauschildts Vorgehen ist nun, dass sie nicht eines dieser Modelle präferieren, sondern für ein Verständnis von Kirche als Hybrid werben: Ähnlich wie bei einem Hybridmotor sollte - je nach Kontext - die eine oder andere Gestaltungslogik in den Vordergrund treten, ohne die anderen abzuwerten.

Ein dezidiert plurales, gleichsam vielfarbiges Verständnis zeigt auch das vierte Kapitel über die Strukturen der Kirche. Zunächst wird hier ein konfessionskundliches Panorama skizziert: Gegenüber den orthodoxen Kirchen, der römisch-katholischen Kirche und den rasch wachsenden evangelikalen oder Heiligkeitskirchen stellt der (liberale) Protestantismus, zu dem die evangelischen Großkirchen hierzulande zählen, im globalen Maßstab nur eine kleine Kirchenfamilie dar. Sie sollte von den Anderen lernen und zugleich ihre eigenen Stärken - eine gegenwartsoffene Theologie und eben ihre Pluralitätsfähigkeit - ernstnehmen. Auch der organisatorische Aufbau der deutschen Kirchen ist von jener Vielfalt geprägt, ebenso das Nebeneinander unterschiedlicher Gemeindeformen: Ohne die Stärken der traditionellen Ortsgemeinde zu negieren, plädiert das Buch für ein „Netz von Gemeinden“, die ganz verschieden ausgerichtet und organisiert werden können; und es skizziert recht handliche Kriterien dafür, wann eine bestimmte Form religiösen Handelns „Gemeinde“ genannt werden sollte.

In einem weiteren Kapitel werden - in engem Anschluss an die EKD-Mitgliedschaftsuntersuchungen - die vielen „Weisen, zur Kirche zu gehören“, vor Augen geführt: Kirchentreue, -fremde und Mitglieder in „Halbdistanz“; oder hochkulturelle, bodenständige oder mobile Milieus. Im sechsten Kapitel wird die Vielfalt der kirchlichen Akteurinnen und Akteure diskutiert, von den Ehrenamtlichen über verschiedene Berufe in der Kirche bis zu den Pfarrerinnen und Pfarrern - diese bekommen allerdings auch hier besonders viel Aufmerksamkeit, denn ihr Beruf zeichnet sich besonders durch theologische Tiefe, durch ökumenische Weite und durch „Repräsentations- und Leitungskompetenz“ aus. Und im letzten Kapitel werden sechs Aufgaben der Kirche entfaltet, die ihren Grundauftrag, die Kommunikation des Evangeliums, in unterschiedlichen Handlungsfeldern konkretisieren.

Die Grundeinsicht, dass die gegenwärtige Kirche nur in einer mehrschichtigen, vielfältigen Herangehensweise zu erfassen ist, markiert den Mainstream der universitären Kirchentheorie. Zu dieser Theorie haben die beiden Autoren - sie lehren Praktische Theologie in Kiel und Bonn - durch ihr Lehrbuch Kirche aus dem Jahr 2013 selbst einen umfänglichen Beitrag geleistet, der hier - mit einer fast identischen Gliederung - für die Gestaltungsaufgaben vor allem von Kirchenvorständen und kirchlich Engagierten zugespitzt wird. Die Elementarisierung gelingt hier ganz ohne inhaltliche Trivialisierung, und lässt einige Thesen des Lehrbuchs pointierter hervortreten.

Zu diesen Pointen gehört nicht zuletzt der starke Gegenwartsbezug dieser Kirchentheorie - auch dies passt zu Feiningers Bild auf dem Cover, das eine alte Kirche aus dezidiert moderner Perspektive zeigt. Das Buch verzichtet auf historische Rekurse; auch biblische Belege sind selten und eher zufällig; das wird nicht allen gefallen. Stattdessen werden hier, im ersten Hauptkapitel, recht ausführlich die gegenwärtige „spätmoderne“ Gesellschaft sowie die religiösen Verhältnisse bedacht, die unter anderem durch individuelle Selbstbestimmung und das Suchen nach spirituellen Erlebnissen gekennzeichnet sind. Eine solche (religions-) soziologische Reflexion ist zwar in der Praktischen Theologie gängig, in der binnenkirchlichen Debatte aber leider kaum üblich - und darum höchst verdienstvoll.

Dem Buch ist sehr zu wünschen, dass es sein Ziel erreicht: Die ehren- und hauptamtlich Leitenden „mit Informationen und Deutungen auf(zu)klären über die Vielfalt der Muster, die sich in der Kirche finden“.

Jan Hermelink

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Weitere Rezensionen

Petra Bahr: Mein Abendland

Mosaik

Über kulturelle Ursprünge
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Wenn man sich auf den intellektuell anregenden Spaziergang durch die „Ideenlandschaft“ einlässt, eröffnet das Buch interessante Perspektiven

Eine Rettung des Abendlandes verspricht das neue Buch der Hannoverschen Landessuperintendentin Petra Bahr. Wogegen sich dieser Rettungsversuch richtet, wird schnell deutlich: Es ist die Vereinnahmung des Abendlandes als „Kampfbegriff, der in den politischen Umbruchzeiten durch die Jahrhunderte erstaunliche Resonanz erzeugte, weil er Unsicherheit und Veränderungsdynamiken mit Feindbildern besetzte“. Demgegenüber tritt Bahr für ein Abendland-Konzept ein, das sich auf eine „Ideenlandschaft und ein Versprechen“ beläuft, „ein geistiges Kraftzentrum, in dessen Mitte der Gedanke einer Humanität für alle steht“.

Diese einleitend entfaltete Dichotomie zieht sich als roter Faden durch. Dabei tritt für den Leser klar hervor, was das Abendland für die Verfasserin nicht ist. Leider erhebt Bahr nicht den Anspruch, ihren Gegenentwurf mit gleicher definitorischer Klarheit zu füllen. Daher bleibt das Bild des Abendlandes als „Ideenlandschaft“ und „Versprechen“ vage, da es auf einem Mosaik eigenständiger Reflexionen beruht. Diese nehmen philosophische, religiöse und kulturelle Konstanten Europas in den Blick.

Wenn man jedoch an das Buch nicht die Erwartung einer geschlossenen systematischen Abhandlung über den Abendland-Begriff heranträgt, sondern sich vielmehr auf einen intellektuell anregenden Spaziergang durch die „Ideenlandschaft“ einlässt, eröffnet es einem interessante Perspektiven, die sich zwischen einer Suche nach religiösen und kulturellen Wurzeln des Abendlandes auf der einen Seite und Versuchen zur Deutung seiner Gegenwart auf der anderen Seite bewegen.

So lose der Zusammenhang der einzelnen Kapitel - und bisweilen zudem deren Anbindung an die Gesamtthematik - ist, gibt es doch bestimmte Fragen, die Bahr wiederholt aufgreift. Dies gilt etwa für ihre Forderung nach Aufklärung als „bleibende Aufgabe, der sich weder die Religionen, noch andere Bereiche des Lebens entziehen sollen“. Hiermit verbindet sich Bahrs Ringen um einen angemessenen Umgang mit dem Islam: Während sie auf der einen Seite dezidiert gegen eine islamophobe Ausklammerung des Islam aus der abendländischen Geschichte und Gegenwart eintritt, findet sie auf der anderen Seite bemerkenswert kritische Worte für allzu sehr konsensorientierte Religionsdialoge und benennt kritische Fragen an den islamischen Glauben und seine kulturellen Konsequenzen.

In einzelne Sequenzen droht das Buch sich in Allgemeinplätzen zu verlieren. Dennoch bleibt die Prägnanz von Bahrs Abstößen unbeschadet, die die Besinnung darauf herausfordern, was das Abendland ausmachen könnte. An diesen Stellen vermag sie, zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der geistig-kulturellen Gegenwartslage anzuregen - und traut sich bisweilen aus dem Glasturm philosophischer Reflexionen hinaus aufs Schlachtfeld, um für ‚ihr’ Abendland zu streiten, etwa gegen die Gebrechen der Postfaktizität: „Wenn einmal ganz nüchtern vom Untergang einer abendländischen Idee geredet werden kann, dann ist es die Vertreibung der Wahrheitsfrage aus der politischen und gesellschaftlichen Debatte.“

An diesen Stellen bedauert man als Leser, dass viele der Überlegungen nur in Ansätzen vertieft und nicht systematisch zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt wurden. Dadurch bleiben vor allem die Kriterien unscharf, anhand derer die Verfasserin ausgewählt hat, was „ihr Abendland“ ausmacht. So inspirierend das von ihr entworfene Bild ist, erscheint es daher doch zwangsläufig eklektisch, was seine Schlagkraft in der Auseinandersetzung mit dem Abendland als einem reaktionären Kampfbegriff mindert.

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Peter Froundjian: Christmas Piano Music

Wundersam warm

Intime Klavierweihnacht
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Was Peter Froundjian hier zusammengetragen hat und mit Zauberhänden spielt, ist eine impressionstische Weihnacht der lichten Töne.

Das Klavier hat es in der Kirche nicht leicht - schlimmer noch, es kommt eigentlich gar nicht vor, sieht man von seiner Knechtschaft in den Chorproben ab, in denen es für das Einpauken komplizierter Tonfolgen, zur Beweisführung fehlender stimmlicher Intonation oder zur akkordischen Zurechtrückung herhalten muss. Sein künstlerisches Potenzial? Nicht gefragt. Ihm fehlen die erhaben berauschenden Farbfächer einer Orgel. Und nun also Klavier zum Fest der Feste. Aber wie wunderbar ist das! Keine volltönende Begeisterung, keine himmlisch hereinbrechende orchestrierte Vielstimmigkeit, sondern wohnzimmerliche Intimität, bergend-geborgene, staunend bewegliche Klanggewebe und wundersam warme, lebendige Bilder für die kalten Tage.

Was Peter Froundjian hier zusammengetragen hat und mit Zauberhänden spielt, ist eine impressionstische Weihnacht der lichten Töne, deren Helligkeit einen wunderbaren (Weih-)Nacht(s)himmel erleuchtet. Dazu hat er Kostbarkeiten eingesammelt: Schneeflocken (Snöflingor, op. 57, Nr. 2) des finnischen Komponisten Selim Palmgren (1878-1951), eine Noël en Pologne (op. 5, Nr. 2) des polnischen Komponisten Franciszek Brzezinski (1867-1944), poetischen Juletrøst (1864) des mit Hans Christian Andersen eng befreundeten Johann Peter Emilius Hartmann (1805-1900) oder die mit Zitaten aus französischen Weihnachtsliedern nur so durchflochtene, siebenteilige Pastourelles (1949) des französischen Dirigenten Désiré-Emile Inghelbrecht (1880-1965), der seinerzeit eng mit Claude Debussy befreundet war und etliche seiner Werke uraufführte.

Man ist hingerissen, wie vielfältig diese selbst auch für die Klaviervirtuosen offenkundige Repertoire-Nische ist, und man wird auf zauberhaft beschenkende Art belehrt, wie viele fantasievolle Kollegen die Heroen dieser Zunft wie Robert Schumann oder Frédéric Chopin gehabt haben. Heroen, denen die Zeit weniger Aufmerksamkeit geschenkt hat. Am bekanntesten aus dem Reigen der hier klingend vorgestellten Komponisten ist Ferruccio Busoni (1866-1924), in dessen Sonatina in diem Nativitatis Christi mcmxvii (BV 274) nicht nur seine lebenslange Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach und der Polyphonie anklingt, die aus dem Hauptthema ein ehrwürdig vierstimmiges Fugato entstehen lässt, sondern auch heimatliche Traditionen mit einem leichtfüßigen Siciliano als weihnachtliche Pastorale. Der besondere Kosmos dieser CD führt auch zu Carl Nielsens (1865-1931) Drømmen om „Glade Jul“. Sie kennen es nicht? Dann wird es höchste Zeit!

Klaus-Martin Bresgott

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Paul Petzel/Norbert Reck: Von Abba bis Zorn Gottes

Fundiert

Irrtümer aufklären
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Mit diesem Buch ein Werk in der Hand zu halten, das also gleichermaßen von jüdischen, katholischen und evangelischen Kapazitäten erarbeitet wurde, ist schon etwas Besonderes.

Theologie to go - gibt’s das? Ja! Früher nannte man so etwas Vademecum und meinte damit einen Leitfaden, einen Ratgeber, der einen möglicherweise auch unterwegs begleiten könnte. Genau so etwas kann das Buch Von Abba bis Zorn Gottes. Irrtümer aufklären - das Judentum verstehen sein, wenn man in der Welt der christlich-jüdischen Glaubensüberzeugungen unterwegs ist.

Anhand von 57 Schlagwörtern „Von Abba bis Zorn Gottes“ werden zentrale Themen der Theologie abgehandelt, für Unbelesene verständlich und grundlegend sowie für Fachleute anregend. Anliegen des Buches ist es, über antijudaistische Irrtümer im christlichen Glauben aufzuklären und zu einem angemessenen Verständnis des Judentums beizutragen: Es gibt keinen „Rache“-Gott im Alten Testament, der Glaube an die „Auferstehung“ ist nicht den Christen vorbehalten, und „Pharisäer“ sind keinesfalls selbstgerechte, heuchlerische Menschen. Damit trägt das Buch gleichzeitig auch zu einem vertieften Verständnis des Christentums bei.

Verfasst haben die Artikel 33 jüdische und christliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wobei unter den einzelnen je dreiseitigen Artikeln nie ein Name steht, was Programm ist. Im Prozess der Erarbeitung des Buches wurden die entstehenden Artikel so oft hin und her gewendet, überarbeitet, gekürzt und neu geschrieben, dass am Ende nicht mehr klar erkennbar war, wer nun konkret was geschrieben hat.

Pro Artikel sollen es jeweils fünf Fachleute gewesen sein. Mit diesem Buch ein Werk in der Hand zu halten, das also gleichermaßen von jüdischen, katholischen und evangelischen Kapazitäten erarbeitet wurde, ist schon etwas Besonderes. Bedauerlich ist einzig, dass in ihm ausdrücklich auf gendergerechte Sprache verzichtet wird. Angesichts des gesellschaftlichen Diskurses befremdet das. Denn man kann doch seit zehn Jahren an der Bibel in gerechter Sprache studieren und lernen, wie auf eine theologisch und stilistisch sehr angemessene Weise Frauen und Männer gleichermaßen sprachlich sichtbar zu machen sind.

Trotzdem: Diesem Buch sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen: Denn es fundiert das christlich-jüdische Gespräch, es klärt über Grundaussagen des Judentums auf und öffnet zugleich die Tür für ein neues Verständnis des christlichen Glaubens.

Stephan Philipp

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