„Den Finger in die Wunde legen“
zeitzeichen: Herr Ceasar, vor einem Jahr sind Sie als Prediger im Abschlussgottesdienst des Kirchentages in Nürnberg plötzlich sehr vielen Menschen bekannt geworden. Hat sich Ihr Leben in Wiesmoor dadurch verändert?
QUINTON CEASAR: Mein Alltag als Pfarrperson ist eigentlich unverändert geblieben. Aber ich bekomme noch immer viel Resonanz von Menschen innerhalb und außerhalb der Gemeinde, die zu marginalisierten Gruppen gehören und über ihre oft negativen Erfahrungen mit Kirche berichten. Sie spüren offenbar eine Verbundenheit zu mir als Schwarze Person und den anderen Menschen in der Kirche, die nicht dem weißen, gutbürgerlichen heteronormativen Bild entsprechen. Um deren Erfahrungen ging es ja auch in meiner Kirchentagspredigt. Und es freut mich, wenn Menschen auf einer Radtour durch Wiesmoor fahren, sich an die Predigt erinnern und die Begegnung mit mir suchen. 99 Prozent dieser Begegnungen sind positiv.
Inwiefern war diese Predigt inhaltlich und im Stil geprägt durch die Black Theology?
QUINTON CEASAR: Ich habe schon versucht, den Rhythmus der Ungeduld in diese Predigt zu legen, aber auch den Sound der Befreiung. Schließlich habe ich ja nicht weit weg von dem Ort gepredigt, an dem die NSDAP ihre Reichsparteitage veranstaltet hat. Ich bin in der Tradition der Black Liberation Theology in Südafrika aufgewachsen. In meiner Heimatkirche wurde mitten in der Apartheid 1986 das Bekenntnis von Belhar formuliert, eine klare Absage gegen menschenfeindliche Theologien und Gesetze. Darin wird Kirche aufgefordert, dort zu stehen, wo Gott steht, nämlich an der Seite der Entrechteten. Vor diesem Hintergrund habe ich dann in der Kirchentagspredigt den Satz gesagt: „Gott ist parteiisch“. Ich hätte gedacht, dass der für mehr Unruhe sorgt als „Gott ist queer“. Da habe ich mich getäuscht.
Der eigentliche Skandal der Predigt war doch, dass Sie den weißen Christen in Deutschland ziemlich direkt gesagt haben, dass ihre Kirche kein sicherer Ort für PoC ist, dass dort Liebe gepredigt und Rassismus gelebt wird. Gab es auch darauf Reaktionen?
QUINTON CEASAR: Positive Reaktionen von denen, die die Ausgrenzung kennen, wegen ihres Geschlechts, ihrer sozialen Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung, Genderidentität, Behinderung oder eben wegen ihrer Hautfarbe. Die haben sofort verstanden, worüber ich sprach. Das war für mich eine weitere Bestätigung für die Notwendigkeit, intersektional zu denken, also viele Aspekte, Unterdrückungsmechanismen und Formen der Diskriminierung miteinander in Verbindung zu bringen. Leider ist dieser Zugang vielen meiner Kolleg:innen aus den Landeskirchen fremd, weil ihr Kontext und Selbstverständnis eine sehr weiße, eurozentristische Theologie ist. Die Erfahrungswelten sind offenbar doch zu verschieden, als dass sie in den Schuhen anderer Menschen laufen können und auch diese Sehnsucht nach Befreiung spüren. Stattdessen nennen sie das „Kontextuelle Theologie“, als ob nicht jede Theologie in einem bestimmten Kontext entstanden ist.
Inwiefern haben Sie Rassismus in der Kirche erfahren? Welche Strukturen sorgen für Rassismus in deutschen evangelischen Kirchen?
QUINTON CEASAR: Zunächst einmal die, die in dieser Gesellschaft zu einem weit verbreiteten Alltagsrassismus führen. Das kann man nachlesen im Afrozensus oder auch im Lagebericht der Bundesregierung zum Rassismus in Deutschland. Und wenn wir Kirche als Teil dieser Gesellschaft sehen, überrascht es eigentlich nicht, dass wir diesem Rassismus auch in der Kirche begegnen. Wir müssen uns lösen von der Idee, dass Kirche aus besseren Menschen besteht. Wir müssen uns aus Happychurch aufmachen. Es kommt aber darauf an, den Rassismus zu erkennen, zu benennen und zu dekonstruieren, der auch im Handeln der hiesigen Christenmenschen steckt. Das fängt an bei der Nichtanerkennung meines Studienabschlusses aus Südafrika in vielen Landeskirchen. Ich bin der rheinischen Landeskirche noch immer sehr dankbar, dass sie das anders gehandhabt hat. Es geht dann weiter in Trauergesprächen, wo mir gesagt wird, dass der Tote es ja nicht so mit Schwarzen Menschen hatte und es ihm recht geschehe, dass ich ihn beerdige. Oder der Kollege, der mir sagt, dass ihm Berlin ja viel zu bunt und, in der Konsequenz seiner Aussage, zu wenig „deutsch“ sei. Und manche Menschen fassen mir immer noch einfach in die Haare. Aber natürlich schützt mich an anderen Stellen meine Position als männlicher Pastor auch vor manchem Übergriff, da bin ich mir meiner Privilegien durchaus bewusst.
Sie sind in einer südafrikanischen Kleinstadt bei Kapstadt aufgewachsen und haben Theologie zunächst in Stellenbosch studiert, später dann in Berlin. Warum wollten Sie Pfarrer werden? Gab es einen familiären Hintergrund?
QUINTON CEASAR: Nicht in dem Sinne, dass ich aus einer Pfarrerdynastie komme. Meine Eltern waren einfache Fabrikarbeiterinnen. Mit 50 Jahren holte meine Mutter ihr Abitur nach, studierte und arbeitete lange als Sozialarbeiterin. Aber ich habe die Transformationskraft von Glauben und Kirche erlebt, und wie sie ein Leben wirklich verändern kann. Ich war drei oder vier Jahre alt, als ich nachts geweckt wurde, weil meine Mutter bei einer Demonstration angeschossen wurde. Das war noch zu Zeiten des Apartheidregimes. Meine Mutter war eigentlich kein politisch aktiver Mensch, aber ihr Glaube hat sie damals auf die Straße getrieben. Dort hat sie gegen Rassismus und alle sozio-ökonomischen Ungerechtigkeiten demonstriert, obwohl sie wusste, dass das gefährlich werden konnte. Zum Glück war ihre Schussverletzung nicht so schwerwiegend, sie lebt noch immer. Aber das war eine prägende Erfahrung und hat mir gezeigt, dass Glauben in Bewegung setzen kann und muss. Glauben ist ein Tuwort, denn unsere christliche Nächstenliebe wird da draußen sichtbar in Form von Gerechtigkeit.
Welche Rolle spielten Vertreter:innen der Black Liberation Theology bei der Überwindung des Apartheidsystems in Südafrika? Welche spielt sie heute?
QUINTON CEASAR: Natürlich hatten Menschen wie Desmond Tutu, der anglikanische Erzbischof von Kapstadt, oder Alan Boesak, einer der Autoren des Belhar-Bekenntnisses, einen Anteil an der Überwindung der Apartheid. Tutu und Nelson Mandela und alle anderen, die teilnahmen, haben dann die Revolution verhandelt und politisch für gleiche Rechte gesorgt. Aber sie haben auch viel auf dem Verhandlungstisch liegen lassen müssen. Auf die ökonomische Befreiung warten die allermeisten der Schwarzen Menschen in Südafrika noch immer. Ich kenne viele Beispiele aus meinem Familien- und Freundeskreis. Ich war vor kurzem in Kapstadt und habe ein Community-Projekt besucht, das sich um obdachlose Menschen kümmert. Auch 30 Jahre nach dem Fall der Apartheid haben die unglaublich viel zu tun und stehen eigentlich noch immer am Beginn ihrer Arbeit.
Welche Theologen haben Sie besonders geprägt?
QUINTON CEASAR: Das war schon der erwähnte Alan Boesak, James H. Cone, aber auch Mercy Amba Oduyoye. Ich bin 2003 zum Theologiestudium nach Stellenbosch gegangen. Die ehemalige theologische Fakultät für PoC-Menschen war da erst seit drei Jahren auf diesen Campus einer ehemals weißen Universität gezogen. Viele Fragen waren noch unbeantwortet, denn eigentlich wollten ja alle nach vorne blicken und das neue Südafrika der Rainbow-Nation bauen. Aber wir haben uns immer wieder gefragt, was die weißen Dozent:innen dort zur Zeit der Apartheid gelehrt haben. Das war eine ziemliche Herausforderung und sorgte für Spannungen.
Weil Versöhnung als Parole ausgegeben wurde? Auch von Desmond Tutu?
QUINTON CEASAR: So wurde er wohl vor allem in Westeuropa wahrgenommen. Aber ein Fan von eurozentrischen eschatologischen Versprechungen war er ganz und gar nicht. Tatsächlich hat er in vielen Predigten die Apartheid scharf verurteilt, die Ungerechtigkeiten klar benannt und zum Kampf dagegen aufgerufen. Und bei allem Wunsch nach Versöhnung darf man ja der Frage der Wiedergutmachung nicht ausweichen. Wobei mir der Begriff „restaurative Gerechtigkeit“ aus dem Englischen eigentlich besser gefällt. Ich habe viel gelernt von Michael Lapsley, einem weißen anglikanischen Priester und Anti-Apartheids-Kämpfer, der durch eine Briefbombe in der Zeit der Apartheid beide Hände verloren hatte. Er sagte Folgendes: Wenn der Mann, der ihm die Bombe geschickt hat, ihm jetzt sagen würde, dass er mittlerweile Arzt geworden sei und viele Menschenleben gerettet hätte, würde er ihm antworten: „Das ist wirklich gut, mein Sohn, aber ich habe weiterhin keine Hände und werde mein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein. Und Du wirst dafür sorgen, dass das finanziert wird.“
Das erinnert an die Debatte um Entschädigungszahlungen an die Opfer sexualisierter Gewalt in der Kirche.
QUINTON CEASAR: Ja, das ist ein Thema, bei dem es viele Parallelen zu Befreiungstheologien gibt. Nicht nur für intersektional denkende Menschen. Es ist schon auffällig, dass ich seit der Veröffentlichung der ForuM-Studie nochmal mehr Resonanz von Betroffenen auf meine Kirchentagspredigt bekommen habe. Aber im Umgang mit dem Thema gibt es auf Seiten der Kirchen immer wieder auch Stimmen, die sich eher um die Kirche sorgen als um die Betroffenen und die Frage, wie sie entschädigt werden können und wie wir uns als Kirche zu verändern haben. Als wir in unserem Gemeindebrief das Thema behandelt und die Betroffenen ausführlich zu Wort kommen lassen haben, gab es Stimmen, die sagten, wir würden der Kirche schaden. Es sei doch jetzt auch mal gut, und wir müssten wieder „Gott hat uns alle lieb“ singen und alle friedlich zusammenkommen. Ich frage mich wirklich, was für eine Theologie dahintersteckt. Bestimmt nicht die, in der Gott und die Kirche parteiisch auf der Seite der Schwachen, Armen und Entrechteten stehen. Und in diesem Falle auch nicht auf der Seite derjenigen, die in der Kirche unter sexualisierter Gewalt gelitten haben.
Was hat Black Theology den privilegierten weißen Mittelschichts-Menschen, die ja vor allem die Kirche in Deutschland mit ihrem Engagement und ihrem Geld am Leben erhalten, hierzulande noch zu sagen?
QUINTON CEASAR: Alle Befreiungstheologien legen den Finger in die Wunde. Wer sind wir? Was ist unser kirchliches Selbstverständnis? Was sehen wir, wenn wir auf Jesus blicken? Dass Jesus ein weißer blauäugiger blonder Europäer geworden ist, ist ja nicht einfach so passiert. Es ist Teil der westeuropäischen Theologie, die weltweit mit ihrer Mission in den globalen Süden und der Abwertung der dort lebenden Menschen, samt praktizierten Religionen und Glaube, Verwüstung gesät und Unchristliches angerichtet hat. Und wenn wir nun nach Entschädigung und Wiedergutmachung fragen, sehen wir am Beispiel Namibia, wie viel da politisch schiefgehen kann. Sarah Vecera hat mit ihrem Buch genau diese Frage nach dem weißen Jesus in den Raum gestellt und stößt damit auf großes Interesse und Widerstand. Das zeigt, dass die Fragen der Black Theology auch in Deutschland an Bedeutung gewinnen.
Es geht also vor allem um die Last der Geschichte?
QUINTON CEASAR: Nein, es geht auch um diejenigen, die heute gekreuzigt werden. Die müssen wir ins Zentrum stellen. Nicht um deren Leid zu zelebrieren, sondern um sie von den Kreuzen herunterzuholen. Das ist unsere Aufgabe. Um diesen Befreiungsakt geht es. Und wenn wir das in unser alltägliches Handeln übernehmen, werden wir schnell merken, es reicht nicht aus, nicht-rassistisch zu sein. Als Kirche müssen wir antirassistisch sein. Wir müssen uns mit in den Dreck begeben, da, wo die Menschen leiden, müssen wir sein. Wir dürfen die Augen vor Rechtspopulismus und Menschenfeindlichkeit in unseren eigenen Reihen nicht verschließen. Und wir müssen Safer Spaces für diese Menschen schaffen. Das gilt auch für die Menschen auf der Flucht. Wir müssen die Herzen öffnen und dürfen die Grenzen nicht dicht machen. Wir dürfen nicht mit Menschenleben Politik machen.
Die Mehrheit der Bevölkerung scheint genau das abzulehnen. Ist Black Theology Teil einer Identitätspolitik, die eher trennt als verbindet?
QUINTON CEASAR: Black Theology ist im gleichen Maße Identitätspolitik wie die weiße Theologie, nur dass diese nie darauf hin befragt wird. Wenn ich von Identität im Zusammenhang der Schwarzen Befreiungstheologie rede, dann eher so: Black Theology ist die (Wieder)-Entdeckung unserer Identität in der Person of Color, der Tischler in Galiläa war und klar an der Seite der Marginalisierten in der Gesellschaft stand. Die Befreiungstheologie steht für eine klare Absage an Unrechtssysteme in Kirche und Gesellschaft. Wieso nehmen wir das als Spaltung wahr? Weil es uns theologisch in Frage stellt? Weil wir Platz machen müssen für diejenigen, die in unseren Kirchen zu wenig zu ihrem Recht kommen?
Das sind unangenehme Fragen in einer Situation, in der die Kirche an allen Ecken und Enden um ihre Bedeutung kämpft.
QUINTON CEASAR: Ja, das sind unangenehme Fragen. Aber wir müssen sie beantworten, um zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Wir werden schrumpfen, das ist klar. Die Frage ist, mit welchen Menschen und welcher Theologie werden wir kleiner? Und was muss im Sinne von Exnovation auch weg, damit etwas Neues entstehen kann? Die Black Theology und die anderen Befreiungstheologien können uns Tools an die Hand geben, die uns bei der Beantwortung solcher Fragen helfen.
Das Gespräch führte Stephan Kosch am 3. September 2024 per Videokonferenz.
Quinton Ceasar
Quinton Ceasar, geb. 1984, studierte Theologie an der Universität Stellenbosch in Südafrika und der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2015 ist er als evangelischer Pastor in Deutschland tätig.
Stephan Kosch
Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen".