Lassen sich anständige Gefühle befördern? Eine Extrem gute Ausgangsfrage.
Ich habe sie mir geliehen von Martha Craven Nussbaum. Ich schreibe an einer politischen Theologie und Nussbaum ist die erste feine Adresse. Sie hat bereits ein Kursbuch über Politische Emotionen geschrieben. 2014 erschienen. Nach zehnjähriger Inkubationszeit hat ihr die israelische Soziologin und Philosophin Eva Illouz geantwortet. Auf Höhenkammniveau: Undemokratische Emotionen. Die Stärke ihres Buches besteht darin (ich bewundere ihren mit Zorn angereicherten Mut), diese Frage nach undemokratischen Emotionen vor dem Hintergrund der aktuellen israelischen Politik zu beantworten. Einig sind sich beide, wie wichtig Gefühle: vor allem anständige Gefühle sind. Beide bashen sehr nachhaltig Jürgen Habermas, weil er die Frage nach den Gefühlen (anders als Adorno) nicht verfolgt hat.
Nun ist die Theorieapotheke (Jürgen Hörisch), die Gefühlstheorien und/oder Emotionstheorien rezeptfrei vorrätig hält, gut gefüllt. Ich fremdle etwas mit der Gefühlstheorie, mit der Nussbaum in ihrem Buch Upheavals of Thought Karriere machte. Sie scheibt und erinnert: „In Upheavals of Thought vertrete ich eine Theorie der Emotionen, der zufolge alle Gefühle ein auf ein Objekt gerichtetes intentionales Denken oder Wahrnehmen sowie eine Bewertung dieses Objekts vom Standpunkt des Akteurs aus beinhalten. Diese Bewertung misst dem Objekt eine Bedeutung bei, die sich aus den Zielsetzungen des Akteurs ergibt.
Spannend für Theologen und Theologinnen
So trauern wir nicht um jeden Toten in der Welt, sondern nur um Menschen, die für unser Leben wichtig waren; wir fürchten uns nicht vor allen schlimmen Ereignissen, sondern vor jenen, die eine ernsthafte Bedrohung für unsere eigenen Pläne darstellen usw. Diese Bewertungen müssen nicht mit Sprache oder komplexen Empfindungen verbunden sein: Die meisten Tiere nehmen zumindest eine gewisse Bewertung von Objekten vor und haben dann die entsprechenden Empfindungen. Erforderlich ist einzig und allein, dass die Lebewesen das Objekt (Nahrung beispielsweise) vom Standpunkt ihrer Zielsetzungen aus als gut erachten.“ Ob man dezidiert vom Objekt sprechen muss, scheint mir sehr die Frage. Überraschenderweise funktioniert die Lektüre trotz des genannten Vorbehalts und obwohl ich eine andere Gefühlstheorie (Hermann Schmitz) favorisiere, ohne jedes Missvergnügen.
Einig sind sich Nussbaum und Illouz über die unanständigen Gefühle wie (instrumentalisierte) Angst, Ekel (Ausgrenzung), Ressentiment, falscher Nationalstolz. Als toxisches Gefühl nennt Nussbaum Scham, was ich für definitiv falsch halte, sie selbst verrät im Text in dieser Frage auch Unsicherheit. Uneins sind sich beide, welche anständigen politischen Gefühle zu nennen sind: Nussbaum nennt Liebe und Mitgefühl, Illouz Brüderlichkeit und Mitgefühl. Für einen Theologen, eine Theologin eine spannende Debatte. Ich würde in dieser Frage Illouz zustimmen.
Das Buch von Nussbaum hat eine eminente Stärke, die Illouz nicht aufnimmt. Wie von ihr auch nicht anders zu erwarten, ruft sie die Kunst im weitesten Sinne zur Hilfe, um zu zeigen, wie Kunst – dazu zählen auch große politische Reden – diese Beförderung anständiger Gefühle inszenieren, gehalten etwa von großen amerikanischen Präsidenten oder Martin Luther King. (Vorgedacht ist dieser Weg bei Robert N. Bellah.) Ich zitiere meine Lieblingsstelle. „Menschen entwickeln keine Liebe zu abstrakten Ideen, wenn es nicht noch viele andere Elemente gibt, wie etwa Metaphern, Symbole, Rhythmen, Melodien, konkrete geographische Merkmale usw. Kluge Führungsgestalten wissen das. Hätte Martin Luther King im Stil Rawls geschrieben, wäre die Weltgeschichte anders verlaufen. Anschaulichkeit und Besonderheit sind für emotionale Reaktionen und somit für altruistisches Handeln besonders wichtig.“
Eine Lernattacke
Anschaulichkeit und Besonderheit, ja, um von der Besonderheit oder der Partikularität her das Universale in den Blick zu bringen. Besonders beeindruckt hat mich folgende Geschichte. Nussbaum zeigt, wie die radikale und lebensechte Tragödie der Weltwirtschaftskrise durch eine kluge Bildpolitik aufgefangen wurde, die die Armen vom Vorwurf freisprach, Schuld an der eigenen Misere zu sein. Roosevelt setzte auf die Kunst von Photographien, die nicht hochauflösend, sondern eher mit dem Weichzeichner ausgeführt Bilder von verarmten Menschen vor Augen stellten, die den Eindruck vermittelten, es könne jeden treffen. So wurde durch den geschickten Einsatz von Kunst Mitgefühl geweckt. Das ganze Buch von Nussbaum ist ein Learnattack. Überall entdeckt sie Gegenerzählungen. Ihr Erzählspeicher ist nie leer. Großartig. Ich habe in einem Langessay den Gedanken aufgenommen und an biblischen Narrationen (Barmherziger Samariter und Die kanaanäische Frau) den Twist von Besonderung zur Universalität aufgesucht.
Illouz fordert eine dynamische Religion. Dynamisch ist eine Religion genau dann, wenn sie diesen Twist macht: Vom konkreten Mitgefühl zur universalen Brüderlichkeit. Dafür wird man sich von einigen dogmatischen Selbststilisierungen verabschieden müssen. Ob wir von diesem Twist motiviert eine Zivilreligion mitweben sollten, ist eine andere, hoch komplexe Frage. Soviel aber ist sicher: Der Protestantismus muss endlich konsequent den emotional turn umsetzen. Die Kunst kann bei der Beförderung anständiger Gefühle helfen.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.