Dem Schwarzen Christus begegnet

Wie Schwarze Schriftsteller die Theologie Bonhoeffers formten
Countee Cullen, der Autor des Gedichts „Black Christ“ (1929).
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Countee Cullen, der Autor des Gedichts „Black Christ“ (1929).

Als Dietrich Bonhoeffer 1930 zu einem Studienjahr in die USA aufbrach, gab es die „Black Theology“ in der heute bekannten Form nicht. Aber es gab die Harlem Renaissance, eine künstlerische Bewegung, in der sich Schwarze Menschen neu und selbstbewusster definierten – auch in religiösen Zusammenhängen. Die Begegnung mit dieser Bewegung sei ein Schlüssel zu Bonhoeffers theologischer Entwicklung, meint die Theologiestudentin Sarah Ntondele. Ihre Arbeit zum Thema wurde mit dem Hansepreis des Evangelischen Bundes der Nordkirche ausgezeichnet.

Dietrich Bonhoeffer gilt in unserer Zeit als einer der beeindruckendsten und faszinierendsten Theologen, insbesondere weil er sich in großer Konsequenz dem Nationalsozialismus widersetzt hat. Immer wieder taucht dabei die Frage auf, wie Bonhoeffer die von den Nationalsozialisten ausgehende Gefahr schon früher und deutlicher benennen konnte als viele andere deutsche Theologen. Dafür lohnt es sich, Bonhoeffers Weg nach Amerika zu verfolgen. Denn dem US-Theologen Reggie L. Williams zu Folge liegt die Antwort auf diese Frage in den Erfahrungen und dem Wissen, das Bonhoeffer während seiner Zeit am Union Theological Seminary in New York sammelte. Bonhoeffers Theologie vollzog, ausgelöst durch eben diese Erfahrungen, einen so starken Wandel, dass er bei seiner Rückkehr nach Deutschland in der Lage war, die Verzerrungen in der deutschen Politik und dem deutschen Christentum zu erkennen, und dazu befähigt war, in den Widerstand zu gehen.

Motiv des Schleiers

Nach einem Auslandsvikariat (1928–1929) in Barcelona brach Bonhoeffer im September 1930 für ein Studienjahr in die USA auf. Während Bonhoeffers erste Eindrücke eher ernüchternd waren, wie er in einem Brief an den Berliner Superintendenten Max Diestel schrieb, änderte sich seine Wahrnehmung auch durch den Kontakt zu seinem Schwarzen Kommilitonen Franklin Fisher und die Begegnungen in der Abyssinian Baptist Church in Harlem. In den folgenden sechs Monaten machte Bonhoeffer zahlreiche Erfahrungen mit dem Schwarzen amerikanischen Christentum und dessen Kultur. Diese sammelte er nicht allein durch seinen Kommilitonen Fisher und sein Engagement in der Abyssinian Baptist Church, sondern auch durch die Dozierenden am Union Seminary, die ihm etwa W. E. B. Du Bois und James W. Johnson, zwei Schwarze Schriftsteller der Harlem Renaissance, zu lesen gaben.

Von Du Bois übernahm Bonhoeffer bereits in den USA das berühmte Motiv des Schleiers, als er in seinem Studienbericht über das zweite Semester von seinen gemeinsamen Besuchen mit Fisher in afroamerikanischen Haushalten erzählt. Das Bild des Schleiers stammt aus Du Bois’ Buch The Souls of Black Folks, das Bonhoeffer gemeinsam mit weiterer Literatur Schwarzer Schriftsteller der Harlem Renaissance im Seminar „Ethical Viewpoints in Modern Literature“ las, welches er bei dem US-Theologen Reinhold Niebuhr (1892–1971) besuchte. Mit dem Bild des Schleiers beschreibt Du Bois einen Mechanismus der Rassifizierung, in dem der Schleier wie eine Projektionsfläche für rassistische Zuschreibungen von Weißen auf Schwarze Körper funktioniere. Das wahre Schwarze Selbst sei hinter diesem Schleier verborgen, sodass Schwarze Seelen in einem doppelten Bewusstsein leben. In einer Spannung zwischen dem, wie Weiße sie durch den Schleier sehen, und der Selbstkenntnis, wer sie hinter dem Schleier sind. Hier zeigt sich also schon Bonhoeffers Auseinandersetzung mit der Literatur Schwarzer Schriftsteller und der Harlem Renaissance.

Die Ära, die wir heute Harlem Renaissance (circa 1920–1935) nennen, zeichnete ein vielfältiges künstlerisches und soziokulturelles Erwachen unter Afroamerikaner*innen aus – zunächst im New Yorker Stadtteil Harlem, doch schon bald breitete es sich über zahlreiche städtische Zentren aus. Der künstlerische Ausdruck der Harlem Renaissance erstreckte sich von Literatur, über Malerei und Skulptur bis hin zu Jazz, Tanz und Broadway-Shows. In dieser Zeit definierten sich Schwarze Menschen neu. Es ging um eine radikale Neudefinierung der öffentlichen und privaten Charakterisierung von Schwarzen, die den negativen, entmenschlichenden historischen Darstellungen entgegengestellt wurden. Die Harlem Renaissance war bis in die späten 1960er-Jahre hinein die einflussreichste Ära in der afroamerikanischen Literaturgeschichte und die erste, in der Schwarze Künstler*innen und Schriftsteller*innen ein Selbstvertrauen in ihrer Darstellung des Schwarzseins zeigten.

Ein Gedicht einer der bedeutendsten Figuren der Ära der Harlem Renaissance – „The Black Christ“ (1929) von Countee Cullen – erwähnt Bonhoeffer noch acht Jahre nach seinem Studienaufenthalt in New York in seinem Aufsatz „Protestantismus ohne Reformation“ und zeigt damit, wie stark diese Texte in seinem Gedächtnis verankert waren. Das Gedicht nutzt, ähnlich wie andere Texte der Harlem Renaissance, das Stilmittel des „highlighting by blackening“. Durch die Übertragung des Schwarzseins auf weiß dominierte Erzählungen wird die Funktionsweise von Rassismus offenbar und die existentielle Absurdität dahinter sichtbar. Cullen imaginiert Jesus als den ersten in einer Reihe von gelynchten Schwarzen Männern im Süden der USA, wo das gesamte Gedicht spielt. Auf diese Weise wird Christus mit den zu Cullens Zeiten unterdrückten Opfern durch die White Supremacy identifiziert. In dem erzählenden Gedicht treten eine gottesfürchtige Schwarze Mutter, die in ihrer Konstruktion an die biblische Figur Hiob erinnert, ihr jüngster Sohn Jim und der Erzähler, der der ältere namenlose Sohn und große Bruder von Jim ist, auf. Zu Beginn des Gedichts können die Brüder den Glauben ihrer Mutter an Gott nicht nachvollziehen. Die Brüder treibt im Angesicht der schrecklichen Realität die Frage nach der Existenz Gottes um. Es geht um die unzähligen Widersprüche, in denen Schwarze Menschen in einer weißen rassistischen christlichen Welt leben.

Für den Erzähler sind Erzählungen über Gottes liebende Güte und seine souveräne Macht nicht mit den Grausamkeiten der Realität zu vereinen. Die Mutter hingegen erlebt ihren Glauben als Quelle der Würde für die Unterdrückten, in der ungerechte Hie­rarchien aufgehoben und nicht verfestigt werden. Im Gedicht heißt es: „Hence, God is not white; God is the architect of a truer community, one in which all are equals, one that their mother sees by faith.” Im Glauben der Mutter ist Jesus der irritierende Widerspruch zu dem von Weißen konstruierten Christentum. Dieser Jesus kann nicht in der Vorherrschaft und in rassistisch begründeten Privilegien gefunden werden. Die Mutter weiß bereits, dass Christus verborgen ist vor den Herrschenden in und unter den Marginalisierten.

Es lassen sich ganz konkret Themen und Motive aus dem Gedicht von Cullen und der Harlem Renaissance in Bonhoeffers Texten nach seinem Aufenthalt am Union Theological Seminary nachweisen. Insbesondere im Vergleich von Bonhoeffers theologischem Nachdenken vor und nach dem Studienjahr in den USA wird eine starke Veränderung deutlich. Vor seinem Aufbruch in die USA stand Bonhoeffer in der Tradition eines deutsch-kämpferischen Christentums. In einem Vortrag vor interessierten Laien der deutschen Auslandsgemeinde in Barcelona im Jahr 1929 verfolgte Bonhoeffer seine bleibende Grundeinsicht zur Unterscheidung zwischen Prinzip und Konkretem in eine Richtung, die er später selbst bedauerte. Er zog in diesem Vortrag „Grundfragen einer christlichen Ethik“ eine Verbindung zwischen der direkten Beziehung des Individuums zu Gott und einem Gehorsam dem Willen der Nation gegenüber – und entwarf so ein „nationalistisches Pathos für das Vaterland“, wie es Charles Marsh in seiner Bonhoeffer-Biografie beschreibt. Indem Bonhoeffer das Gesetz der Freiheit in Kombination mit der Konkretion der Geschichte als höchstes Gut schätzt, kann er sagen, „aber die Liebe zu meinem Volk wird den Mord, den Krieg heiligen“. Bonhoeffer formuliert zuvor zwar, dass „[d]ie Beweisführung […] klar und bestechend“ scheint, wenn im Neuen Testament davon gesprochen wird, dass der Mensch nicht töten soll.

Doch er nutzt das Argument, dass durch solche Prinzipien der Mensch über die Beziehung zu Gott verfügen würde, und nimmt damit dem Gebot die Absolutheit und fragt stattdessen nach der konkreten Situation. Durch die Verknüpfung der konkreten Situation mit einer „Bindung an das eigene Volk als göttliche Ordnung“ gibt Bonhoeffer letztlich selbst ein situationsübergreifendes Kriterium für die Entscheidung an, wodurch das christliche Gebot der Nächstenliebe und des Nicht-Tötens zurücktritt.

Nationale Gedanken

Mit diesen Erörterungen Bonhoeffers über das Verhältnis von Christ*innen zum Krieg schließt er sich den nationalen Gedanken deutscher evangelischer Theologie und Verkündigung an, in der es zu einer Mischung aus Luthertum, Sozialdarwinismus und Nationalismus kam, die zu einer triumphalen Sicht der Geschichte verschmolzen. Eben diese triumphale Sicht der Geschichte verband sich mit der Idee einer göttlichen Ordnung, so dass Bonhoeffer hier mit der Loyalität Gottes die Überlegenheit des deutschen Volkes begründen kann.

„Diesen Ruf gilt es herauszuhören aus dem Wachsen und Werden, damit es unter dem Angesicht Gottes geschehe. Gott ruft das Volk zur Mannigfaltigkeit, zum Kampf und Sieg. Auch die Kraft ist von Gott und die Macht und der Sieg, denn Gott schafft die Jugend bei Mensch und Volk und liebt die Jugend, denn Gott selbst ist ewig jung und stark und sieghaft. Und die Angst und die Schwächlichkeit soll von dem Mut und der Stärke besiegt werden. Sollte nun ein Volk, das so den Ruf Gottes an seinem eigenen Leben, an seiner Jugend und seiner Stärke erfährt, sollte ein solches Volk nicht diesem Rufe folgen dürfen, auch wenn es über das Leben anderer Völker hinweggeht?“

Diese theologisch begründete Perspektive auf die Welt wurde auch durch die Auseinandersetzung mit den literarischen Werken der Harlem Renaissance unterbrochen. Durch die christologische Perspektive der Harlem Renaissance, die Jesus als den im Leid und Scham verborgenen Mitleidenden interpretierte, konnte Bonhoeffer eine theologische Perspektive entwickeln, die die Leidenden in der Wirklichkeit sieht und denen sich Gott zuwendet. So schreibt Bonhoeffer einige Monate nach seiner Rückkehr aus den USA in seiner Predigt zu Lukas 16,19–31: „Ihr Verstoßenen, ihr Benachteiligten, ihr Armen und Kranken, ihr Verachteten sollt getröstet werden. […] selig seid ihr, denn Gottes Freude wird über euch kommen und ewig über (eurem) Haupte sein. Das ist das Evangelium.“

Die Predigt überzeugt durch ihre konkrete Bezogenheit auf die Leidenden. Durch die Differenzierung zwischen Prinzip und der konkreten geschichtlichen Existenz kann Bonhoeffer die Spur des konkreten Evangeliums weiterverfolgen. Hier richtet sich nach Bonhoeffer Gottes Hinwendung eindeutig aus der Schwachheit Christi heraus an die Armen und Verlorenen. „Die Worte vom ewigen Gebot Gottes und der Schwachheit und dem Elend des Menschen, der sterben muß; von der Gnade Gottes über die Demütigen und seinem Gericht über die Starken; die Worte vom Kreuz des Christus zum Heil den Armen und Verlorenen, zum Fluch den Satten und Gerechten“. Daneben ist in der Predigt die zentrale Stellung der Bergpredigt innerhalb Bonhoeffers Theologie wahrzunehmen. Er zitiert die Seligpreisungen bei Lukas, um den konkreten Bezug der Leidenden auf die Wirklichkeit herauszustellen.

Die von den Schwarzen Schriftstellern, in den literarischen Werken verarbeiteten, leidvollen Erfahrungen in einer rassistischen Gesellschaft und ihrem Glauben, dass Christus mit denen ist, die unterdrückt werden, waren der oder zumindest einer der Schlüssel für Bonhoeffers theologische Entwicklung bis in den Widerstand hinein. 

 

Information
Mehr zu diesem Thema ist zu hören in der Podcastfolge „Die Harlem Renaissance und Black Christ“ in der Reihe „Es muss doch mehr als alles geben“ von #theodiversity, in der Aline Ott und Kathrin Väterlein mit Sarah Ntondele über ihre Erkenntnisse sprechen.

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Foto: privat

Sarah Ntondele

Sarah Ntondele studiert Evangelische Theologie in Hamburg/Bochum und engagiert sich für eine diskriminierungssensible Theologie und Kirche.


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