Ihre Textlust teilt die Berner systematische Theologin Magdalene L. Frettlöh mit der geneigten Leserin, dem geneigten Leser, indem sie sich in bekannte und unbekanntere biblische Texte vertieft. Zugleich teilt sie mit uns elementare menschliche Wahrnehmungen: von Schwangerschaft und Geburt über Liebe und Schlaflosigkeit, Reisen und Genießen, Versuchung und Scham bis hin zur Unterbrechung der Alltagsroutine durch einen unzeitigen Tod.
Nicht nur Textlust, auch Frettlöhs Lust am Bild kommt sogleich zum Ausdruck in ihrer kundigen Interpretation des Titelbildes: Maria Magdalena, hingegeben lesend, aus einem Altarbild von Rogier van der Weyden (um 1399–1464). Die Autorin präsentiert uns diese Magdalena als biblische Mittlerin zwischen (Text-)„Sinn und Sinnlichkeit“. Sie versteht nämlich das Lesen mit Virginia Woolf als jenes einzigartige „Vergnügen“, welches „durch keine eschatische Belohnung mehr getoppt“ werden könne.
Überhaupt erlebt der Leser die Verfasserin auf Schritt und Tritt im vertrauten Dialog nicht allein mit Büchern und Bildern, entschlossen, „auch bei den Weltkindern in die Schule zu gehen“: „Meiner Systematischen Theologie …, die tief aus biblischem Brunnen schöpft, würde manches fehlen, wäre sie nicht zugleich im Gespräch mit Kunst und Literatur, mit Musik und Film, mit Tageszeitung und Fernsehreportage.“ Die in den Band aufgenommenen Predigten und Predigt-Meditationen zeigen auch, wie sehr der Systematikerin Frettlöh an der verkündenden und das Wort teilenden Praxis der Gemeinde gelegen ist.
Frettlöhs Reflexionen sind theologische Pralinees, deren einzigartige Geschmacksnoten sich prickelnd auf der Zunge entfalten. Da ist ihre Widerständigkeit gegen den „HERRlichkeitsjargon“ in der Gottesrede, den sie durch eine biblisch inspirierte Vielfalt der „Rufnamen“ Gottes ablösen will. Ein theologisches Kabinettstück en miniature ist ihre Betrachtung zur abgründigsten Vaterunser-Bitte: „Und führe uns nicht in Versuchung …“, die ja kein Geringerer als Papst Franziskus am liebsten abgeändert hätte. Unter Berufung auf Franz Rosenzweig zeigt sie, dass es nicht allein der Freiheit Gottes entspricht, uns sogar in der Verkleidung eines Versuchers zu begegnen. Sondern dass damit zugleich die Freiheit des Menschen gesetzt ist, seinerseits selber Gott zu „versuchen“ und seine Bundestreue auf die Probe zu stellen.
Programmatisch hat Frettlöh einem Vortrag die Bemerkung vorangestellt: „Ich gehe davon aus, dass alle unsere theologischen Sätze im Sprechakt der Hoffnung gesagt werden. … Die Bewahrheitung unserer Sätze durch Gott steht noch aus, aber wir können sie schon jetzt bewähren.“ Das unverschämte nächtliche Begehren nach dem geliebten DU, wie es sich in Jesaja 26,9 äußert, entpuppt sich in Frettlöhs sensitiver Auslegung als „das menschliche Verlangen nach Gott, der die ganze Weltbevölkerung auf den Pfad der Gerechtigkeit locken will“.
Politisch heute ungeahnt dringlich sind ihre Folgerungen aus der immer wieder bestrittenen Feststellung der Rheinischen Synode 1980, dass „auch die Existenz des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk“ sei. Frettlöh formuliert es so: „Uns als Christenmenschen zur Israeltreue Gottes zu bekennen, verkommt zu einem leeren Wort, wo wir nicht … unsererseits mit dem bleibend erwählten Gottesvolk eine lebensverbindliche Treuebeziehung eingehen.“
Zugleich wendet sie sich hellsichtig gegen eine Militarisierung der Sprache. Die nach Epheser 6 mit der Taufe verliehene „Waffenrüstung“ sei in Wahrheit Ausdruck einer „Ent-rüstung“ gegen die kriegerische Gewalt. Frettlöh ergänzt das Bild durch eine vom israelischen Schriftsteller David Grossman gefundene Metapher: Der Versuch, mitten im Krieg Sensibilität, Zartheit und Mitgefühl zu bewahren, erscheine ihm „wie das Vorhaben, mit einer Kerze in der Hand durch einen gewaltigen Sturm zu gehen.“ Dem für den Kampf gegen die „Fürsten dieser Finsternis“ gewappneten Christenmenschen ruft diese Predigerin deshalb zu: „Vergiss die Kerze nicht!“
Wie gesagt, das Buch ist ein Korb voll theologischer Pralinees. Mit Sinn und Verstand zu genießen. Und zu verschenken.
Martin Heimbucher
Martin Heimbucher ist Kirchenpräsident der Evangelisch-reformierten Kirche.