Christus in der Kraft des Geistes

Barmen 1934, Belhar 1982, Luther 1518 und die religiösen Herausforderungen in Europa heute
Evangelische Kirche Gemarke in Wuppertal/Barmen. Hier wurde am 31. Mai Mai 1934 die Barmer Theologische Erklärung verabschiedet.
Foto: picture alliance/Rainer Hackenberg
Evangelische Kirche Gemarke in Wuppertal/Barmen. Hier wurde am 31. Mai Mai 1934 die Barmer Theologische Erklärung verabschiedet.

Ausgehend von der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 und dem südafrikanischen Bekenntnis von Belhar von 1982 skizziert der Heidelberger Systematische Theologe Michael Welker im Rückgriff auf Martin Luther die Möglichkeit einer lebendigen Geist-Christologie. Sie ist für ihn der notwendige Impuls gegen eine heute weit verbreitete „Christophobie“. Ein Beitrag zum Barmen-Jubiläum und zum Pfingstfest.

Die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode in Barmen vom 31. Mai 1934 ist bis heute ein kirchengeschichtliches und theologiegeschichtliches Ereignis mit weltweiter Ausstrahlung. In dieser Erklärung setzt sich die Bekennende Kirche in Deutschland mit der seit 1933 bestehenden nationalsozialistischen Diktatur auseinander. Sie richtet sich gegen die fatale Theologie der sogenannten Deutschen Christen, die mit ihrer „Ein Gott – ein Volk – ein Führer“-Ideologie die Evangelische Kirche der Diktatur Hitlers anpassen wollen.

Kern der Erklärung ist eine strenge Konzentration von Theologie und Kirche auf Jesus Christus und seine Bezeugung in den biblischen Texten. „Jesus Christus ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Das sagt die erste „Barmer These“. Durch Jesus Christus „widerfährt uns die frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen der Welt …“ (2. These). Die christliche Kirche bezeugt, dass sie allein das Eigentum von Jesus Christus ist, dass sie „allein von seinem Trost und von seiner Weisung … leben will“ (3. These). Als „Leib Christi“ ist sie eine geschwisterliche Gemeinschaft, die sich einem König, der Bruder und Freund, arm und ausgestoßen ist, zugehörig weiß (4. These). Sie lebt in der Erwartung auf das jetzt und endgültig kommende Reich Jesu Christi (5. These) und im Dienst an seinem Wort und Werk (6. These).

Die Barmer Erklärung ist eine Auseinandersetzung mit diktatorischer politischer und korrupter kirchlicher Macht, ein Kampf gegen die Unterdrückung von Freiheit und Wahrheit durch Gewalt und Lüge. Indem sie diese Auseinandersetzung unter Berufung auf Gottes Offenbarung in Jesus Christus und die biblischen Zeugnisse führt, folgt die Barmer Erklärung dem großen Vorbild reformatorischer Theologie. Und sie wird selbst zum Vorbild für andere kirchliche Kämpfe in vergleichbar gefährlichen Situationen. Ein Beispiel dafür aus neuerer Zeit ist „Das Bekenntnis von Belhar“, das eine Gruppe von Theologen um Allan Boesak, Dan Clote und Dirkie Smit im Oktober 1982 der Generalsynode der Uniting Reformed Church in Southern Africa vorlegte. Diese Kirche war damals innerhalb des südafrikanischen Apartheidssystem eine Kirche für „Farbige“, das heißt, für Menschen mit sogenannter gemischter Abstammung. Die Synode tagte damals in Belhar, einem Vorort von Kapstadt.

Das Bekenntnis orientiert sich an der Barmer Theologischen Erklärung. Darin wendet sich die „Uniting Reformed Church in Southern Africa“ gegen das brutale, rassistische Regime des Landes und eine von ihm dominierte Kirche. Dabei erweitert Belhar die strikt christologische und biblisch-theologische Orientierung Barmens trinitätstheologisch. Jesus Christus regiert die Kirche in der Gemeinschaft mit Gott dem Schöpfer und dem Heiligen Geist. Der Glaube an Jesus Christus und das Vertrauen auf die Macht des göttlichen Geistes und sein befreiendes und Menschen segensreich verbindendes Wirken befähigen zur Auseinandersetzung mit rassistischen, spaltenden und unterdrückenden Kräften in Politik und Kirchen.

Südafrikanische Freunde berichteten damals: Solange wir nur politisch und moralisch gegen das rassistische Apartheidregime zu kämpfen versuchten, gelangen befreiende Entwicklungen nicht. Erst als wir die politischen und kirchlichen Machenschaften und Kräfte theologisch orientiert entlarvten, begannen die Veränderungsprozesse.

Die revolutionäre Kraft einer an Jesus Christus und an den biblischen Überlieferungen orientierten Theologie hat bereits mehr als 450 Jahre vor dem Belhar-Bekenntnis der Reformator Martin Luther in seiner berühmten Heidelberger Disputation am 26. April 1518 vor Augen gestellt. Auch darin geht es um eine an Jesus Christus und an biblischer Theologie orientierte friedlich-kämpferische Auseinandersetzung mit unterdrückerischer Politik und einer ebensolchen Kirche.

Luther hatte sich zunächst in Predigten gegen das Ablassdenken und den Ablasshandel gewendet. Von tiefer Sorge bewegt, richtete er am 31. Oktober 1517, dem Tag, den wir heute als Beginn der Reformation ansehen, ein Schreiben an den Erzbischof von Mainz und an seinen Diözesanbischof von Brandenburg: „Ich beklage die falsche Auffassung im Volk ... Die unglücklichen Seelen glauben, wenn sie nur Ablassbriefe lösen, seien sie ihrer Seligkeit sicher. So werden die Eurer Sorge anvertrauten Seelen, teurer Vater, zum Tode unterwiesen.“ Dann wurde Luther schärfer im Ton: „Welche Schande für einen Bischof, wenn er für das Evangelium kein Wort übrig hat und bloß den Ablasslärm in sein Volk ausgehen lässt.”

Öffentliche Anklage

Luther hatte in beigelegten Thesen provokativ gefragt: „Warum befreit der Papst nicht alle Seelen zugleich aus dem Fegfeuer um der allerheiligsten Liebe willen“, warum nur einzelne Zahlungswillige „um des aller­unheilvollsten Geldes willen“? Buße könne allein aus der Erkenntnis der Sündenschuld des Menschen und der Gnade Gottes kommen. Beides aber werde offenbar, wenn die Christen „ihrem Haupte Christus durch Kreuz, Tod und Hölle nachzufolgen sich befleißigen“.

Als immer deutlicher wurde, dass die Angriffe auf den Ablasshandel zu einer öffentlichen Anklage gegen den Missbrauch kirchlicher Macht und die Verbreitung falscher religiöser Lehre wurden, verstärkten sich die Angriffe auf Luther. In dieser brisanten Situation baten Luthers Ordensobere ihn wiederholt, auf das Ansehen des Augustinerordens Rücksicht zu nehmen: „Denn die andern Orden hupften schon vor Freuden … die Augustiner mussten nu auch brennen.“ Vermutlich am 13. April 1518 machte sich Luther von Wittenberg aus – zunächst eine weite Strecke zu Fuß – auf den Weg zur Generalversammlung der Augustinereremiten in Heidelberg am 25. und 26. April 1518.

Sichtbar und zugewandt

Vorbereitet hatte er eine große, ja revolutionäre Auseinandersetzung mit der vorherrschenden scholastischen und metaphysischen Theologie seiner Zeit, die er als Grundlage der unheilvollen Ablasspraxis ansah. Luthers 28 theologische und zwölf philosophische Thesen wurden in Gegenwart einer großen Öffentlichkeit von fünf Doktoren der Theologie diskutiert.

Kerngedanken sind die Thesen: Nicht der heißt mit Recht ein Theologe, der Gottes unsichtbares Wesen durch seine Werke wahrnimmt und versteht. Wer diese Erkenntnis anstrebt, wird versuchen, „in die absoluten Spekulationen von der Gottheit“ sich einzuschleichen, wirft Luther den scholastischen Theologen vor. Sondern der heißt mit Recht ein Theologe, der das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in Leiden und im Kreuz dargestellt, begreift. Gott hat der Welt in Jesus Christus seine Menschheit und Schwachheit zugewandt. Gott will, dass er, Gott, aus den Leiden erkannt werde. Gott will die „Weisheit des Unsichtbaren“ verwerfen und durch eine „Weisheit des Sichtbaren“ ersetzen.

Die Theologie des Kreuzes ist eine revolutionäre Theologie. Erst im Licht des Lebens Jesu und im Licht der „Ausgießung“ seines Geistes auf die Menschheit in der Macht seiner Auferstehung lässt sich diese Revolution in ihrem ganzen Ausmaß erfassen. Sie richtet sich – wie Luther klar erkennt – gegen Gottesvorstellungen und Gottesgedanken, die nur in tiefsinnigen Spekulationen ausgebildet werden und nur geistigen Eliten zugänglich sind. Und sie richtet sich gegen Formen von Religiosität, die von Gottes Auseinandersetzung mit dem Leiden, der Not und der vielfältigen Selbstgefährdung der Welt und der Menschen absehen. Die christologisch und biblisch-theologisch orientierte reformatorische Theologie führte zu einer umfassenden Bildungsbewegung, die langfristig menschliche Emanzipation und Freiheit fördernden Entwicklungen zuträglich war.

Zurück in unsere Gegenwart: Joseph H. H. Weiler, ein 1951 in Südafrika geborener orthodoxer Jude, Professor für Internationales Recht und Europarecht an der School of Law der New York University und am Europakolleg in Brügge, hat bereits vor zwanzig Jahren in seinem Werk „Ein christliches Europa“ unserem Kontinent eine Haltung der „Christophobie“ vorgeworfen. Im ängstlichen Bemühen, eine öffentliche Bezugnahme auf Jesus Christus und das Christentum zu vermeiden, würden der Rückgriff auf die kulturellen und geistigen Grundlagen Europas und ihre kreative Weiterentwicklung blockiert. So habe der letzte Entwurf der Verfassung der Europäischen Union mit einem Umfang von 70 000 Wörtern nicht ein einziges Mal das Wort Christentum zu erwähnen gewagt.

Zu Weilers Beobachtung passt die Feststellung, dass selbst konservative Verteidiger eines „christlichen Europas“ und seiner „christlichen Werte“ häufig mit einer christologischen Leerstelle und ohne erkennbare biblische Bildung operieren, auch wenn sie dieses Fehlen zu beklagen scheinen. Wenn religiöse Orientierung noch Thema ist, wird allerdings gern darauf verzichtet, inhaltlich-theologische Grundlagen einzubeziehen. Stattdessen beschwört eine subjektivistische Frömmigkeit eine unbestimmte Transzendenz, eine vage Sinnrhetorik, Naturromantik oder Symbolkitsch. Sie verbindet dies mit dem Bemühen, säkularen und agnostischen Einstellungen keinen Anstoß zu geben und die interreligiöse und weltanschauliche Offenheit nicht mit Bekenntnissen zu belasten. Es gibt aber auch tiefergehende theologische Begründungen für diese Neigungen zu einer Haltung der „Christophobie“, denn wer Gott den Schöpfer nur mit einer aus Natur und Kosmos bestehenden „Schöpfung“ verbindet, hat es heute mit der Religiosität schwer. Die Naturwissenschaften besetzen diese Gebiete kompetent. Nach biblischen Einsichten verbindet die „Schöpfung“ aber Natur und Kultur, materielle und geistige Wirklichkeiten. Doch auch geistigen Wirklichkeiten gegenüber gab und gibt es (trotz der großen Macht der Mathematik und der Musik) viele Denkblockaden. Unter dem Einfluss der Philosophien und des gesunden Menschenverstands wurde der Geist primär mental verstanden, auf Denken, Emotion, Bewusstsein und Selbstbewusstsein reduziert oder aber in metaphysische Spekulationen verlagert. Die Berufung auf den Heiligen Geist war in Theologie und Frömmigkeit weitgehend ein Lippenbekenntnis.

Doch ohne den Schöpfer auch der geistigen Welt und ohne die Macht des göttlichen Geistes sind die wahre Macht Jesu Christi und seine Gottheit nicht zu erfassen. Man gelangt dann nicht über den guten Menschen von Nazareth hinaus. Mit diesem Verständnis von Jesus als gutem Menschen von Nazareth lässt sich aber keine überzeugende Christologie vertreten, sondern es kommt angesichts des Bekenntnisses zur Gottheit Christi ehrlicherweise zur Christophobie.

Westlichem Denken befremdlich

Einen anderen Ansatz verfolgen die Pfingstbewegung und die charismatischen Bewegungen, die im 20. Jahrhundert vor allem in Südamerika entstehen und mit gut 600 Millionen Anhängern heute die größte Frömmigkeitsbewegung der Menschheitsgeschichte bilden. Sie sehen ihre Lebendigkeit und Ausstrahlung gegründet in ihrer Konzentration auf den Heiligen Geist und dessen „Ausgießung“ auf Menschen, ohne Ansehen von deren Geschlecht, Rasse, Bildungsschicht und anderen sozialen Differenzen. Viele Erscheinungen der Pfingstbewegung und der charismatischen Bewegungen erscheinen westlichem Denken befremdlich. Der Abstand wird verstärkt durch die Beobachtung, dass vor allem in Lateinamerika Medienmacht, politische Macht und Korruption sich dieser religiös spektakulär erfolgreichen Entwicklung bemächtigt haben.

Dennoch zeigt sich auch bei uns und anderswo ein theologisches Gespür für die Polyphonie des göttlichen Wirkens, das den Reserven gegenüber der „Geistausgießung“ und auch der „Christophobie“ entgegenwirken kann. Es wird greifbar in der sich in Deutschland und weltweit ausbreitenden Begeisterung für Worte, die Dietrich Bonhoeffer zum Jahreswechsel 1944/45 aus seiner Berliner Gefängniszelle an seine Verlobte und seine Familie schickte: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen. Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Was aber sind die guten Mächte Gottes? Es sind die biblisch bezeugten Kräfte des göttlichen Geistes, eines Geistes der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Wahrheit, des Friedens, der Menschenfreundlichkeit und der Nächstenliebe. Dieser Geist ist in vielen guten Lebensverhältnissen – auch im Recht, in der Wissenschaft, in der Bildung, der Medizin, in einer verantwortungsvollen Politik und Zivilgesellschaft und an vielen anderen Orten – am Werk. Er umgibt und ergreift Menschen „von allen Seiten“ – ob sie es wahrhaben wollen oder nicht.

Für Christinnen und Christen hat dieser Geist in Jesus Christus klare Gestalt gewonnen. Er kommt in seinem Leben und in seinem Werk, aber auch in seinem Leiden und in der Kraft seiner Auferstehung im Geist den Menschen nahe. Der göttliche Geist ist kein Privileg, das nur den verfassten Kirchen und dem etablierten Christentum zukommt. Barmen, Belhar und die Anfänge der Reformation machen dies in ihrem Kampf gegen eine korrumpierte Kirche im Namen Jesu Christi überwältigend deutlich.

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