Lebensdienlich

Demokratie lernen

Marina Weisband hat ein Buch über ihr Herzensprojekt geschrieben: ausdiskutieren und live abstimmen, kurz aula. Ein mittlerweile etabliertes Beteiligungskonzept für weiterführende Schulen am Schnittpunkt von Bildung und Demokratie, basierend auf einer Online-Plattform, didaktisch begleitet und mitnichten nur eine Simulation von Demokratie! Vielmehr werden von Schülern eigene Ideen kreiert, eingebracht, entwickelt, gesammelt, gewichtet, verhandelt und umgesetzt – vom Gebets- und Ruheraum über den Fahrradständer bis hin zur Baumpflanzung auf dem Schulhof. Mithin das Gegenteil einer autoritären Schule, in der Toiletten „die einzige Möglichkeit“ bieten, „Willen zur Veränderung, zur Inbesitznahme des Raumes“ zu demonstrieren.

Im aula-Prozess des Demokratielernens erleben die Beteiligten, wie Vorschläge abgelehnt, verändert oder von einer – zu gewinnenden – Mehrheit angenommen werden. Und wie letztlich Ausdauer, Kooperation und Kompromisse zur Realisierung führen. Basal knüpft die Psychologin Weisband an Hanna Arendt an, indem sie deren Begriff des Handelns als Selbstwirksamkeit fasst. Sie will, dass aus jungen Konsumenten erwachsene Gestalter werden. Politisch-ethisch stellt sie einer neoliberalen kapitalistischen Verwertungslogik einen Liberalismus entgegen, „der die Freiheit des Menschen, seine individuelle Entfaltung, als das höchste Gut betrachtet“. Diese zielt nicht auf Selbstoptimierung und Gipfelsturm, sondern ereignet sich auf einem gemeinsamen Weg durch Brechts mühevolle Ebene, der „sogar mit dem Rollstuhl zu bewältigen“ ist – also auch für die Autorin selbst.

Die einzelnen Phasen der schulischen aula-Prozesse sind hier nicht wiederzugeben, auch nicht die Widerstände und Flauten oder deren Beschränkungen durch finanzielle, mentale und zeitliche Ressourcen beziehungsweise Digitalisierungs-Skepsis. Letztlich sind diese keine anderen als im Arbeitsleben oder der Kommunalpolitik auch.

Im Zentrum des Konzepts steht ein angemessener, produktiver, ja lustvoller Umgang mit Komplexität. Dieser soll von Kindern und Jugendlichen eingeübt werden: entgegen der fatalen Wahrnehmung der Welt durch die Brille der Dauerkrise und dem damit einhergehenden passiven Rückzug oder aggressiven Populismus. Es ginge jetzt um „den Fortbestand der Demokratie. Sie muss sich weiterentwickeln und wieder lebendiger werden – oder sie wird sterben“.

Ausgehend von einem „positiven Menschenbild“ ermuntert Weisband auch die Leserschaft, tätig zu werden. Sie selbst habe – sowjetisch sozialisiert – erst verstehen müssen, „dass engagierte Menschen wirklich froh sind, wenn sie Mitstreiter gewinnen“. Ihre Engagement-Vorschläge erscheinen dabei – für eine Politikerin – allerdings etwas zusammengesucht und bemüht alltagsnah-niedrigschwellig.

Interessanter ist dagegen ihre Bezugnahme auf das Judentum. Freiheit und Selbstwirksamkeit sind bei der gläubigen Jüdin eingebettet in eine Form von Gemeinschaft. Genauer: Sie zielen auf eine regelbasierte, solidarische Gemeinschaft, so auch konzeptionell im aula-Projekt, das ein umfängliches Vertragswerk beinhaltet. Sie werde oft gefragt, wie sie als freiheitsliebender Mensch einer Religion mit so vielen Geboten und Verboten folgen könne. Ihre Antwort: „Ich kenne nicht der Weisheit letzten Schluss, wie man als Mensch gut mit anderen Menschen und der Natur lebt. Andere Leute haben sich 5000 Jahre lang Gedanken dazu gemacht und diese in ein Regelwerk gegossen. Wenn ich diese Regeln kenne und beachte, habe ich bessere Chancen, radikale Fehler zu vermeiden.“ Sie schätze „an der jüdischen Religion aber auch, dass diese Regeln ständig diskutiert und interpretiert werden“. Das sei ein lebensdienlicher „Spagat aus Mündigkeit und zuverlässiger Begrenzung. Wie gute Erziehung eben auch sein sollte“.

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