„Optimistisch? – Absolut!“
Am gestrigen Sonntag endeten die Appenzeller Bachtage, ein fünftägiges Festival, das alle zwei Jahre die allmonatlichen Kantatenaufführungen der J.S. Bach-Stiftung in St. Gallen / Schweiz bereichert und ergänzt. Anlässlich dieses Events sprach zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick mit Gründer und Mäzen Konrad Hummler über dessen Bachmission und was nach 2028 werden soll.
Herr Hummler, seit 2006 veranstalten und finanzieren Sie die einzigartige Reihe der Bachkantaten der J. S. Bach-Stiftung in St. Gallen. Vor acht Jahren haben Sie in unserem ersten Gespräch bei den 2. Appenzeller Bachtagen 2016 die Genese der Reihe und ihre Motivation dargestellt (siehe hier). Sie haben damals gesagt: „Wenn man etwas macht, dann muss man es recht machen!“ Haben Sie es bisher recht gemacht?
Konrad Hummler: Ich denke schon. Wir sind bei der 180. Kantate angelangt, das heißt: „Forty to go!“, also: Vierzig Kantaten stehen noch aus, um in Ton und Bild mit Werkeinführung und Reflexion produziert zu werden, und das ist eine größere Übung jeden Monat.
Durch Ihr Webportal bachipedia.org sind Ihre Aufführungen weltweit bekannt. Was für eine Absicht steht hinter diesem Gesamtkunstwerk von sehr aufwendiger Produktion und Dokumentation jeder Kantate?
Konrad Hummler: Es steht im Stiftungszweck der J.S. Bach-Stiftung, dass es unsere Absicht ist, das Kulturgut Bach den nächsten Generationen erschließbar zu machen. Und das ist – wissenschaftlich gesprochen – eine hermeneutische Aufgabe: Wir versuchen Bach in die heutige Zeit zu transportieren. In Bezug auf die geistlichen Kantaten heißt das: Wir tun das, was eigentlich in der Verkündigung der Kirchen geschehen sollte oder was der Geschichtsunterricht leisten sollte, nämlich die Relevanz dieser Werke für heute deutlich zu machen und zu bewahren.
Sind Sie also eine Art Bach-Missionar?
Konrad Hummler: Das ist das erste Mal, dass ich das höre, aber es gefällt mir nicht schlecht …
Und was wäre dann genauer gesprochen der Inhalt dieser Mission?
Konrad Hummler: Am Ende ist es natürlich ein religiöser Inhalt und es ist ein Versuch, den spirituellen Wert der Bach‘schen Kompositionen inklusiv der Worte verständlich zu machen und zwar so, dass es angenommen werden kann in heutiger Zeit – nach der Aufklärung.
„Man kann Bach nicht von Spiritualität trennen“
Sicher kann man das genauer immer nur je und je persönlich sagen, aber was wäre Ihr Idealbild, was Bach beim Menschen auslösen kann, was kann der „Benefit“ sein?
Konrad Hummler: Bach geht einfach ganz direkt in die Seele und man kann sich dessen fast nicht erwehren. Ich kenne kaum jemanden, der Bachs Musik völlig gefühllos gegenübersteht und meist sind es eben spirituelle Gefühle und insofern kann man Bach nicht von der Spiritualität trennen. In der DDR wurde es mit säkularisierend-sozialistischen Umtextierungen versucht, aber gottseidank erfolglos. Natürlich ist Bachs vokales Œuvre unabhängig davon unglaublich schöne, komplexe Musik und ein überaus bedeutendes Zeitzeugnis des Barock – es ist eine Wucht von Sprache, gewaltig und auch semantisch, also von der Wortbedeutung und -ausdeutung her sehr reich.
Sie sind bekennender reformierter Protestant von Kindesbeinen an, aber das sind ja längst nicht alle Menschen und auch gewiss nicht alle Bachliebhaberinnen und -liebhaber. Warum „funktioniert“ er bei so vielen Menschen weltweit?
Konrad Hummler: Bach bietet die Gelegenheit, eine Art Metareligion zu bilden – deutlich über das Christentum hinaus, denn Bach repräsentiert das Unverfügbare, ja, stellt es dar. Und dass die Menschen eine Beziehung zu diesem Unverfügbaren haben müssen, wenn sie psychisch gesund bleiben wollen, liegt für mich auf der Hand. Und wenn zum Beispiel die Kirchen diese Repräsentation des Unverfügbaren nicht mehr oder nicht mehr ausreichend wahrnehmen, dann sucht man es sich andernorts – Bach ist hier etwas Wunderbares.
Trost über den Tod hinaus – das ist ja oft der Inhalt oder auch die Quintessenz der Bach’schen Kantaten und ein häufiges Thema bei den Kantaten …
Konrad Hummler: Ja sicher, und der Mensch braucht das umhüllende Transzendente und muss auf die eine oder andere Art eine Beziehung dazu schaffen, und ich meine, dass Bachs Musik besonders viel Möglichkeiten dafür eröffnet.
„Millionenfache Views“
Vor einigen Jahren haben Sie darauf verzichtet, das Online Portal mit den Bachkantaten kommerziell zu betreiben. Lohnte es sich nicht, oder was war der Grund?
Konrad Hummler: Wir mussten uns entscheiden: Entweder will man mit Medien Geld verdienen und schränkt die Anzahl der Benutzer an, oder man will Breitenwirkung. Und eines Tages habe ich mir gesagt, dass es sich nicht lohnt, für den Abruf unserer Inhalte diese für viele Menschen – besonders in anderen Teilen der Welt – eben doch hohen Beträge abzufordern, die aber eigentlich in summa der Stiftung insgesamt gar nicht so viel bringen. Zumal der Stiftungszweck ja in erster Linie die Verbreitung und der Transport diesen kulturellen Guts ist. Und wie beglückend ist es, dass seit Jahren millionenfache Views – also nicht nur kurzzeitige Klicks – aus Sao Paulo, Rio, Mexiko-City und vielen Gegenden der Welt zu verzeichnen sind! Der Erfolg auf der digitalen Plattform sorgt übrigens auch dafür, dass in den vergangenen Jahren Konzertveranstalter außerhalb der Schweiz auf uns aufmerksam geworden sind. Und mit YouTube haben wir ja zum Glück ein Medium, dass unsere Inhalte weltweit transportiert – wenn auch mit Werbung, es sei denn man abonniert YouTube-Premium. Doch die Kundigen können es ja werbefrei auf unserer Plattform bachipedia.org abrufen. Dazu kommt noch: Die Schweiz ist klein. Erstaunlicherweise aber kann ich in der Rückschau sagen, dass es schwieriger war, in der Schweiz Anerkennung zu finden als auf internationalem Parkett.
… weil die Schweizer so kritisch sind?
Konrad Hummler: Nein, weil es in der Schweiz ein „Kulturkuchenmonopol“ im Raum Zürich – Bern – Basel gibt.
… in Anlehnung an die Bibel gesprochen: Was kann aus Appenzell schon Gutes kommen?
Konrad Hummler: Genau (lacht). Wir sind in der Schweiz peripher, und deshalb mussten wir doppelt so stark und schnell agieren, wie andere, um Erfolg zu haben. Das haben wir jetzt nach fast zwanzig Jahren ganz ordentlich hingekriegt.
Können Sie sagen, wieviel Prozent des Budgets bei einem durchschnittlichen Kantatenfreitag samt Prä- und Postproduktion von Ihnen als Mäzen kommt, wieviel von anderen Zustiftern und Gönnern und wieviel die Eintrittsgelder beitragen?
Konrad Hummler: Was die reinen Konzertkosten angeht, also die Gagen für die Künstlerinnen und Künstler unserer Konzerte, haben wir das Ziel, dass zumindest ein Drittel der Kosten durch die Eintrittsgelder hereinkommen soll. Die Kosten der Aufnahmen und der Postproduktion sind schwieriger zu beziffern, denn sie fallen sehr unterschiedlich aus, je nachdem, wie kompliziert, sprich großbesetzt die Kantate ist. Mit anderen Worten: Das hat die Stiftung fast gänzlich zu tragen, aber wir kriegen ja zum Glück auch aus YouTube und Spotify Erträge. Es sieht zunächst marginal aus, und es ist auch unfair vom Prozentsatz her, aber es summiert sich dann mit der Zeit, und außerdem sind wir ja froh, dass jemand diese gigantische Serverleistung zur Verfügung stellt, denn das könnten wir in der Tat nicht stemmen.
„Sofort ein Sabbatical-Jahr“
2020 wurden Sie wie alle Veranstalter von Corona erwischt. Was war Ihr erster Reflex, als Sie gewahr wurden, dass es jetzt einen Break geben wird und wie haben Sie die beiden Corona-Jahre überstanden?
Konrad Hummler: Wir haben sofort intuitiv entschieden, eine Art Sabbatical-Jahr einzulegen und die Projekte von 2020 auf 2022, also um zwei Jahre nach hinten geschoben. Zum einen ahnten wir, dass die Sache 2021 noch nicht ausgestanden sein würde. Das war gut, weil bei den meisten Künstlerinnen und Künstler eine Terminverschiebung um zwei Jahre besser funktioniert. So konnten wir das zweite Corona-Jahr besser gestalten. Da sind wir mit den Konzerten in eine große Fabrikhalle gegangen, die Sänger standen auf Abstand, galten also formal als Solisten – so war es behördlicherseits gestattet, und so waren wir dann 2021 halbwegs wieder im Plan
Haben Sie nach Corona bzw. infolge der Erfahrungen während der Pandemie Ihr Konzept verändert?
Konrad Hummler: Ja, es ist viel Neues entstanden. Rudolf Lutz ist auch als „Alleinunterhalter“ unglaublich begabt und interessant. Er hat viel online gemacht, zum Beispiel den Film über den Actus Tragicus (BWV 106), und wir hatten sehr gute Abrufraten in aller Welt. Dann haben wir das Format „Bach Factory“ gemacht, sodass es auch im etwas kürzeren Format Beschreibungen von Bachkantaten auch auf Englisch gibt , davon haben wir jetzt schon etwa dreißig Stück. Hier zeigt sich natürlich der große Vorteil einer privat finanzierten Reihe mit eher unwesentlichen Drittmittelbeiträgen. Wir konnten halt entscheiden, und das war auch gut so. So kommen eine Ruhe und Substanz in die Produktionen, die bei staatlich subventionierter Kultur oft nicht so gegeben sind, weil da auch die Verantwortlichen und die Interessen häufig wechseln.
Wahrscheinlich wird Ihre Reihe 2028 enden, weil dann alle Kantaten aufgenommen sind. Rudolf Lutz wäre dann 77 und Sie 75. Das ist nicht übermorgen, aber es ist absehbar. Sie haben klar gesagt, dass Sie dann aussteigen, also als Financier nicht mehr zur Verfügung stehen. Was heißt das für die Arbeit der Stiftung? Kann die dann nur doch Ihr ideelles und digitales Erbe verwalten, oder ist geplant, die monatlichen Konzerte fortzuführen, oder ist dann einfach Schluss?
Konrad Hummler: Wir stehen vor einem Strategieprozess, den wir bereits eingeläutet haben. Wir nehmen alle Bedürfnisse und Ideen der Stakeholder auf und werden dann eine Strategie vorlegen. Ja, Aufhören wäre eine Option, denn es gibt eine endliche Zahl von Bachkantaten und insofern könnte man sagen, ist es eben auch eine endliche Stiftung. Es wäre auch möglich, dass das Ensemble und das Team, das über die Jahre gewachsen ist, zumindest gelegentlich zusammenkommt und Konzerte macht, jedenfalls solange Rudolf Lutz noch Kraft und Lust hat. Es liegt aber auf der Hand, dass sich die Künstlerinnen und Künstler dann auch anders orientieren müssen. Doch ich habe den Eindruck, dass wir in den vergangenen Jahren in unserem Team auch eigene Kräfte herangebildet haben, die nahtlos übernehmen können. Möglicherweise könnte man dann verstärkt mit den Bachkantaten auf Tournee gehen. Dazu bräuchte man natürlich Organisationen und Freunde am jeweiligen Ort, besonders natürlich in Deutschland und in den USA, die beiden bedeutendsten Märkte für die Musik von Johann Sebastian Bach. So könnte man unsere Konzerte dann international weiter vermarkten, wie es ja punktuell durchaus auch in den vergangenen Jahren immer wieder geschehen ist, zum Beispiel beim Bachfest in Leipzig oder mit Konzerten im Mozartsaal in Wien. Rudolf Lutz bringt selbst das Wiener Publikum, das so etwas wahrhaft nicht gewohnt ist, zum Singen …
„Ein zweiter Hummler?“
Sie haben ja von Beginn an um Unterstützerinnen und Unterstützer geworben. Zeichnet sich am Horizont ein zweiter Hummler ab, oder zumindest ein Kollektiv, das Sie als Mäzen beerben könnte?
Konrad Hummler: Dass ich frühzeitig weitere Unterstützerinnen und Unterstützer gesucht habe, war nicht nur eine finanzielle Frage, wobei durchaus substanzielle Beiträge geleistet wurden und geleistet werden. Es geht aber auch darum, dass ich als Mäzen nicht ganz allein bin, sondern dass ich eine gewisse Solidarität von Leuten einfordere und abhole, die durchaus etwas zahlen können. Sonst fühlt man sich wirklich nicht gut, ja, man muss aufpassen, dass man als Mäzen nicht in eine grimmig-hämische Stimmung kommt á la „Ich muss immer alles machen, und die Leute sind nicht dankbar!“ Doch das hat zum Glück in gewissem Maße auch funktioniert, und wir haben jetzt auch in Deutschland schon einen Förderkreis aufgebaut und planen das auch in den USA, denn es ist schwierig Spenden ins Ausland zuhause abzusetzen.
Was wäre Ihre Idealvorstellung, wie es 2028 weitergeht?
Konrad Hummler: Es wäre schön, wenn dann der Archivbestand, also alle unsere Kantatenproduktionen mit dem pädagogisch-informellen Vorbau, fertiggestellt wird und dann die Verlags- und Vertriebsarbeit mehr oder weniger selbsttragend funktioniert, gestützt durch die Tantiemen der Radio- und Fernsehstationen, die wir ja einnehmen und die nicht zu verachten sind. Das andere ist, dass Chor und Orchester in eine neue Phase treten, auf dass sie sich erhalten und weiterentwickeln und dass wir im Idealfall mit einer Dirigenten-Schola weiterarbeiten, also mit einem musikalischen Leitungsteam. Denn ich glaube nicht, dass man Rudolf Lutz in seinem vielfältigen Begabungen und Funktionen durch eine Person ersetzt werden kann – da braucht es wohl schon ein Team.
Sind Sie optimistisch, dass es 2028 weitergeht?
Konrad Hummler: Absolut. Ich bin Unternehmer, und wenn ich eine Vision hatte, dann traf sie meistens so oder ähnlich ein. Man musste manchmal ein bisschen nachhelfen, aber dann ging’s!
Das Gespräch führte Reinhard Mawick am 24.August 2024
(Ein Bericht über die 5. Appenzeller Bachtage erscheint in Kürze auf www.zeitzeichen.net)
Konrad Hummler
Konrad Hummler (*1953) ist ein Schweizer Unternehmer und Publizisti. Er war lange Jahre Bankier in St.Gallen und ist seit 2012 als Publizist. Er war geschäftsführender Teilhaber der Privatbank Wegelin & Co. und Verwaltungsratspräsident der Neuen Zürcher Zeitung. Hummler ist Gründer und Mäzen der J.S. Bach-Stiftung St. Gallen.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.