Portbou kennen viele, eine kleine spanische Hafenstadt am Mittelmeer kurz nach der spanischen-französischen Grenze mitten in den Pyrenäen. Dort gibt es den mit einer eleganten Halle überspannten Grenzbahnhof, auf dem vor der Eröffnung einer normalspurigen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen dem französischen Perpignan und dem spanischen Figueres die allermeisten Züge zwischen beiden Ländern verkehrten und auf die unterschiedlichen Spurweiten umgesetzt wurden. Fährt man mit dem Auto vom französischen Küstenort Cerbère die enge, mehrfach gewundene Pass-Straße über die letzten Ausläufer der Pyrenäen, sieht man von der Grenze auf der Hügelspitze Port Bou und den Bahnhof.
Die meisten Menschen besuchen vermutlich heute das nach der Verlegung der Bahntrasse inzwischen relativ verschlafene Städtchen, in dem nur noch Regionalzüge halten, wegen Walter Benjamin. Der deutsche jüdische Kulturwissenschaftler und Philosoph nahm sich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 im damaligen Hotel „Francia de Portbou“ das Leben, nachdem er die Hügelkette zwischen beiden Ländern an der höchsten Stelle mühsam überquert hatte. Man schickte den geschwächten und nicht gesunden Benjamin dort über die Hügel, weil er aus dem noch nicht von deutschen Truppen besetzten südlichen Teil Frankreichs nicht ausreisen durfte, aber angesichts seines Visums für die Vereinigten Staaten auf Transit im faschistischen Spanien hoffen durfte. So kam er, ohne die französisch-spanische Grenze passiert zu haben, in Portbou an und wollte am Tag drauf im Bahnhofsgebäude einen Zug besteigen.
Benjamin vergiftete sich mit Morphium, weil er nach einer ganz überraschenden Verhaftung durch die spanische Polizei befürchten musste, nach Frankreich und damit letztlich in die Hände der Gestapo zurückgeschickt zu werden. Ob das wirklich passiert wäre (sonst ließen die Behörden die Flüchtlinge nämlich passieren), steht dahin; Benjamin nahm es offenkundig als sicher an. Man begrub ihn auf dem kleinen Friedhof des Ortes, der auf einem Hügel liegt, in dem Zwischenraum zwischen Friedhof und einem steilen Klippen-Abfall zum Mittelmeer hat der israelische Künstler Dani Karavan ein beeindruckendes Denkmal geschafften: ein enger Tunnel aus rostfarbenem Stahl, der auf eine Glasfläche führt, die sozusagen über dem Meer schwebt. Kein Ausweg – oder vielleicht besser: als Ausweg steht nur noch der blaue Himmel offen.
Foto: Christoph Markschies
Über Benjamin und die vielen anderen deutschen Flüchtlinge, die vor den Nazis aus Deutschland nach geflohen waren und seit dem Einfall der deutschen Truppen 1940 in der Falle saßen, ist viel geschrieben worden. Es gibt die bewegenden Erinnerungen aus einer engagierten Gruppe Fluchthelfer, natürlich die Aufzeichnungen von prominenten Flüchtlingen wie Hannah Arendt mit Ehemann Heinrich Blücher, vom Ehepaar Feuchtwanger, Heinrich und Nelly Mann, Anna Seghers und László Radványi oder Franz Werfel mit Ehefrau Alma Mahler-Werfel, und inzwischen auch allerlei Sekundärliteratur zu den abenteuerlichen Fluchtversuchen, den dramatischen Tagen vor der Flucht und den Unsicherheiten auf der Reise in ein neues Exil. Weniger bekannt sind die Lager, in denen das noch nicht besetzte Frankreich deutsche Flüchtlinge internierte. Eines dieser Lager habe ich im Urlaub vorletzte Woche besucht und der Besuch hat mir vieles klargemacht.
Das Lager liegt bei dem Städtchen Rivesaltes. Das befindet sich zwanzig Kilometer nördlich von Perpignan in der Ebene, die sich entlang der Küste vor der Pyrenäen erstreckt. Aus dem Landesinneren weht über das flache Land ein starker Fallwind, der Tramontane, hin zum Meer; bei meinem Besuch blies er so stark, dass ich mir die Mütze festhalten musste und leicht gebückt gegen den Wind gehen musste. Er weht gern bei hohem Luftdruck und heißen Temperaturen, so dass der Wind nur scheinbar Abkühlung und Erholung bringt.
Baracken, Latrinen, Lampenmasten
Das Lager von Rivesaltes umfasst, wenn man hineingeht, schier unendlich viele weiße, gemauerte Baracken, die aus lediglich einem einzigen Raum bestehen, dazu immer wieder einmal Latrinenständen vor einer Gruppe von Baracken und Holzmasten mit Lampen. Baracken, Latrinen, Lampenmasten, so weit das Auge reicht, dazu ein großer freier Platz in der Mitte und eben der scharfe Wind, der über die vertrockneten Gräser fegt und längeren Aufenthalt im Freien unmöglich macht. Auf dem großen freien Platz in der Mitte wurde von dem französischen Architekten Rudy Ricciotti vor rund zehn Jahren ein langgestrecktes, fast fensterloses, lehmbraunes Museumsgebäude in die Erde eingetieft, so dass man es eigentlich erst erkennt, wenn man unmittelbar davorsteht. Die Baracken und Latrinen hat man sich offenbar eine ganze Zeit selbst überlassen, bei den meisten ist das Dach eingestürzt, bei vielen stehen auch nur noch Teile der Außenwände, ganz wenige sind intakt und erinnern natürlich sofort an KZ-Baracken, auch wenn sie aus Formsteinen gemauert waren und weiß angestrichen sind.
Foto: Christoph Markschies
Besucht man das Museum, begreift man, dass in diesem Lager keineswegs nur deutsche Flüchtlinge interniert waren, die nach der Kriegserklärung 1939 dort fürchten mussten, an die Gestapo ausgeliefert zu werden. Die ersten Flüchtlinge, die in der ursprünglich als Militärlager errichteten Anlage untergebracht wurden, waren Flüchtlinge aus Spanien, die nach der militärischen Niederlage der republikanischen Truppen gegen Franco und seine Unterstützer über die Grenze (übrigens auch in Portbou) flohen und in Frankreich Asyl suchten. Seit dem 12. November 1938 war es den französischen Behörden per Gesetz erlaubt, unerwünschte Ausländer zu inhaftieren und die politisch eher links eingestellten Spanien-Kämpfer zählten zu den unerwünschten Elementen. Die Begründung der Internierung waren also keine Verbrechen, sondern eine potenzielle Gefahr, die von den Asylsuchenden ausgehen könnte. Fast eine halbe Million Menschen floh vor der Diktatur Francos nach Frankreich und nur wenige wie der berühmte Cellist Pau Casals konnten ein einigermaßen komfortables Leben im Lande des Exils führen. Nach der Kriegserklärung und dem Überfall deutscher Truppen auf Frankreich 1939/1940 wurde das scheinbar sichere Fluchtland aber für viele zur tödlichen Falle. Schnell wurde bekannt, dass die deutschen Truppen beispielsweise dunkelhäutige Soldaten der französischen Armee gar nicht als Kriegsgefangene nahmen, sondern gleich kaltblütig mit Maschinengewehren niedermähten.
Seit 1940 wurden die aus dem besetzten Teil Frankreichs in das unbesetzte, „Vichy-Frankreich“ nach dem Sitz der Regierung genannte Gebiet geflohenen Deutschen, insbesondere als Juden markierte Personen, Kommunisten, Sozialisten, Intellektuelle interniert und ab Frühjahr 1942 diente das Lager von Rivesaltes dafür, französische Juden vor der Deportation in die deutschen Vernichtungslager im Osten zu sammeln, von hier aus starteten die Bahntransporte nach Auschwitz. Dazu kamen Sinti und Roma, die man aus dem Elsass und Lothringen nach Südfrankreich deportiert hatte und die auch in Lager deportiert wurden. Von 1944 bis 1948 waren in dem Lager dann deutsche Soldaten inhaftiert, die von den Amerikanern an die Franzosen ausgeliefert wurden und von 1962 bis 1977 „Harkis“, Algerier, die auf der Seite Frankreichs standen und deswegen nach der algerischen Unabhängigkeit nach Frankreich fliehen mussten, wo ihnen der Einsatz für die einstige Kolonialmacht nicht gedankt wurde. Auf diese Weise war das Lager zeitweilig die zweigrößte Stadt der französischen Ost-Pyrenäen.
Vom Herz gerissen
Um die Internierten kümmerten sich Einzelpersonen und ganze Fluchthelfer-Gruppen. Die Schweizer Lehrerin Elisabeth Eidenbenz kümmerte sich mit der „Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder“ um Waisenkinder und betrieb ein Kinderheim für die Kinder, die sie aus Lagern herausholen konnte. Schwestern des Roten Kreuzes brachten jüdische Kinder, die deren Eltern sich vom Herzen rissen, aus dem Lager von Rivesaltes und retteten sie so vor dem sicheren Tod in der Gaskammer. Um die Sinti und Roma kümmerten sich, soweit ich weiß, kaum Hilfsorganisationen; man stand in Deutschland wie Frankreich dem „fahrenden Volk“ kritisch gegenüber.
So, wie mich die Fluchthelfer der Flüchtlinge und Internierten beeindruckt haben, hat mich die Jahrhundertgeschichte von Flucht und Vertreibung, Internierung, Inhaftierung und Exil erschüttert, die im Lager Rivesaltes als Monument zu besichtigen ist. So viele unterschiedliche Menschengruppen, so viel gemeinsame Ängste und Hoffnungen, so viel Kummer und Not. Leben in den engen Baracken, der Gang zu den offenen Latrinen unter den hämischen Blicken lüsterner Männer, oft nur Matratzen und wenig Decken, kaum Betten, nichts zu tun in den langen Reihen von Baracken. Und viele nur interniert, weil sie als „potentiell gefährlich“ galten. Der Fremde, der in der Not kommt und um Hilfe bittet, ist „potentiell gefährlich“ und die Flucht führt in ein Lager. Diese Geschichte endet nicht 1977, als das Lager in Rivesaltes aufgegeben wird und die letzten Harki ausziehen. Sie setzt sich bis auf den heutigen Tag fort. Gott sei dank setzt sich aber auch die Geschichte derer fort, die sich um die Flüchtlinge kümmern. Es gibt weiter Menschen, die anderen helfen, zu entkommen aus Diktaturen, die ihnen nach dem Leben trachten, Schwestern, die sich um Kinder kümmern, Lehrer, die in Lagern Unterricht anbieten und so weiter und so fort. Alle die, die sich nicht für die Flüchtlinge engagieren, sollten sich wenigstens immer wieder an solche Menschen erinnern – das Lager in Rivesaltes hilft beim Erinnern. Wer durch die Pyrenäen reist, sollte es besuchen.
Christoph Markschies
Christoph Markschies ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er lebt in Berlin.