Hanna Rucks: Messianische Juden

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Ein akademisch anspruchsvolles Werk für Spezialisten.

Empirische Studien belegen, dass heute immer mehr Menschen ihre angestammte Religion verlassen. Gründe gibt es viele: weil sie von ihrer Herkunftsreligion oder von Religion allgemein nicht mehr überzeugt sind, oder weil sie zu einer anderen Religion konvertieren. Immer häufiger gibt es auch eine dritte Option: Die ursprüngliche Religion wird mit einer anderen Religion oder deren Inhalten kombiniert. Theologen sprechen gerne von Synkretismus, also von "Religionsvermischung", was oft abwertend gemeint ist. Neutraler sind die Bezeichnungen "hybride" oder "Patchwork-Religiosität". Das Thema dieses Buches führt genau in diesen Bereich hinein. In eine nur schwer zu fassende und zu beschreibende Grauzone zwischen Judentum und Christentum, deren belastetes Verhältnis zueinander die Kontroverse um das Phänomen des seit rund 150 Jahren so genannten Hebräischen Christentums - seit vierzig Jahren vorwiegend "messianisches Judentum" genannt - noch zusätzlich zuspitzt.

Zur Genese dieser modernen Bewegung hier nur so viel: Das messianische Judentum ist überwiegend ein Produkt zunächst der "Judenmission" von Seiten der evangelikalen Bewegung und der protestantischen Mission, doch neuerdings, seit rund sechzig Jahren, zunehmend ein Phänomen der charismatischen Bewegung, wie allein schon die meist von so genannter Anbetungsmusik geprägten Liturgien zeigen. Das Messianische Judentum ist eine aus diesen Milieus des Christentums stammende Bewegung. Die meisten Anhänger und Gruppen gehen auch in den entsprechenden christlichen Kirchen auf.

In der Tat lehnen bis heute alle theologischen Richtungen des Judentums eine Anerkennung Messianischer Juden als jüdisch ab. Schon weil religionsrechtlich gesehen sehr viele von ihnen gar keine jüdische Abstammung (mehr) haben. Auch der Staat Israel betrachtet sie als Nichtjuden. Gleichwohl leben in Israel einige Tausend Messianischer Juden, deren sprachlicher, ethnischer und kultureller Hintergrund höchst vielfältig ist. Über diese zahlenmäßig überschaubare Gruppe innerhalb der jüdisch-christlichen Grauzone hat Hanna Rucks (siehe auch Seite 45) ihre Dissertation geschrieben. So ist dieses akademisch anspruchsvolle Werk mit mehr als 2.300 Anmerkungen, fremdsprachigen Zitaten und vierzigseitiger Literaturliste für keine breite Leserschaft geeignet, sondern für Spezialisten.

Das Buch hat vier Hauptteile: nach einer Einführung in das Thema, zum Forschungsstand sowie zur methodischen Vorgehensweise schildert die Autorin zunächst sehr ausführlich die Theologiegeschichte der Messianischen Juden in Israel bis 1990. Der dritte Teil beschreibt deren zeitgenössisches theologisches Denken auf der Basis von Interviews der Autorin mit Gesprächspartnern vor Ort. Ein leider allzu knapp ausfallender Schlussteil skizziert "Ansätze einer theologischen Annäherung an das Messianische Judentum", vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit Peter von der Osten-Sacken. Überzeugend ist der methodische Ansatz Rucks nicht bei irgendwelchen Wahrheitsfragen, sondern empirisch bei den zu untersuchenden Gruppen selbst. Den Forschungsgegenstand bilden organisatorisch (kirchen-) unabhängige Gruppen in Israel, die sich selbst als jüdisch und zugleich als Jesus-gläubig verstehen. Das sind nach Angaben der Autorin 8.000 bis 10.000 Menschen in rund 120 Gemeinden. Das theologische Denken Messianischer Juden in Geschichte und Gegenwart wird jeweils anhand folgender sechs Merkmale dargestellt: Messias- und Torabegriff, Verhältnis zu Kirche und Judentum, Mission, Liturgie sowie Eschatologie.

Rucks ist sich der Brisanz ihres Forschungsgegenstandes "nach Auschwitz" voll bewusst. Als protestantischer Theologin geht es ihr um eine völkerchristliche Theologie, die an der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes festhält. Am Ende plädiert sie dafür, das messianische Judentum als einen legitimen "jüdischen Weg im Leib Christi" anzuerkennen, was zugleich beinhalte, Messianischen Juden ihr jüdisches Selbstverständnis nicht abzusprechen.

Die Anerkennung fordert Rucks von beiden Seiten, der jüdischen wie der völkerchristlichen, ein. Was mit Blick auf das Judentum sicher chancenlos ist. Auch der Rezensent ist geneigt, der Ansicht der jüdischen Gelehrten Recht zu geben, das heutige Messianische Judentum sei letztlich doch ein primär christliches Phänomen. Es ist ja nicht dasselbe wie das antike Judenchristentum. Für dieses war und blieb das "Schma Jisrael" konstitutiv, Jesus der Messias galt ihnen als ein neuer, zweiter Moses. Für Messianische Juden hingegen ist der Glaube an die Trinität sowie das Bekenntnis zur Gottheit Jesu zentral. Sie sind Erben der späteren Konzilsdogmen. Auch das zeigt Rucks Untersuchung: Wer wie Uriel Ben-Mordechai dann doch Jesu Göttlichkeit ablehnt, wird exkommuniziert. 1990 hatte die Konferenz messianisch-jüdischer Gemeindeleiter in Israel eine Erklärung zur Gottheit Jesu verfasst. Diese musste seit dem Fall Ben-Mordechai 2001 nicht nur von allen Gemeindeleitern anerkannt, sondern auch unterschrieben werden.

Die Dialektik der Exklusion ist bemerkenswert. Messianische Christen sitzen zwischen den Stühlen, sie werden von beiden Seiten ausgegrenzt, aber sie grenzen ihrerseits diejenigen aus, die nicht linientreu sind. Dies zeigt: So randständig diese Bewegung ist, so wenig einheitlich ist ihr Erscheinungsbild. Alles in allem, also weltweit gesehen, haben wir es mit einer modernen, hybriden Form der Religiosität zu tun, die sich den evangelikalen und charismatischen Milieus der Christenheit verdankt.

Es ist größtenteils Christentum in jüdischem Gewand. Manchmal ist es aber auch Judentum in christlichem Gewand, so dass man mit dem reformjüdischen Rabbiner Dan Cohn-Sherbok einen Teil des Messianischen Judentums auch als eine Richtung innerhalb des Judentums begreifen könnte. Leider geht die Autorin dieser Option nicht nach: inwiefern dieses Phänomen nicht auch ein christlicher Sonderweg im jüdischen Bundesvolk sein könnte.

Hanna Rucks: Messianische Juden. Neukirchner Verlagsgesellschaft, Neukirchen 2014, 570 Seiten, Euro 34,-.

Martin Bauschke

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Franz Segbers: Ökonomie, die dem Leben dient

Lebensdienlich

Neue christliche Wirtschaftsethik
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Menschenrechtliche Standards sind das Kriterium, vor dem sich alle wirtschaftliche Tätigkeit verantworten muss, weil sie sonst ihr Ziel verfehlt.

Der Altkatholik Franz Segbers ist wohl einer der streitbarsten christlichen Sozialethiker in Deutschland. Immer wieder hat er sich zu aktuellen Fragen aus Wirtschaft und Arbeitswelt zu Wort gemeldet: beispielsweise zum bedingungslosen Grundeinkommen, dem Streikrecht in der Kirche oder zur Schuldenkrise in Europa. Nun hat er im aktiven Ruhestand die Grundlagen einer Wirtschaftsethik ausformuliert. Damit hat er den Ansatz, aus seiner Habilitationsschrift eine christliche Wirtschaftsethik biblisch zu profilieren, weitergeführt: Neben die Bibel sind die Menschenrechte getreten. Die Menschenrechte formulieren für Segbers das "Menschengerechte", oder anders gesagt: Sie sichern in rechtlicher Terminologie das gute Leben, das das Ziel wirtschaftlichen Handelns sein muss. Menschenrechtliche Standards sind also nicht etwas, das bei einem gewissen Wohlstand und guter Konjunktur Berücksichtigung finden sollte, sondern das Kriterium, vor dem sich alle wirtschaftliche Tätigkeit verantworten muss, weil sie sonst ihr Ziel verfehlt und deswegen auch nicht "sachgerecht" genannt werden kann. Die Polemik gegen eine Sicht, die menschenrechtliche Standards mit "Marktgesetzen" vermitteln will oder sie sogar "Markterfordernissen" nachordnet, ist offensichtlich.

Dabei bezieht Segbers sich besonders auf die "sozialen Menschenrechte", wie sie im "Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" von 1966 festgeschrieben worden sind. Aber er betont, dass damit nur Inhalte der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" von 1948 entfaltet worden seien: So ist in der "Allgemeinen Erklärung" nicht nur das Recht auf Arbeit verbrieft, sondern der Artikel 28 stellt fest, dass die Menschen einen Anspruch auf eine internationale (Wirtschafts-) Ordnung hätten, die ihre Rechte voll verwirklicht. Damit macht Segbers auf eine wichtige Kampfzone aufmerksam, die hierzulande auch in sozialethischen Diskussionen kaum beachtet wird: Der Streit um die Durchsetzung von Menschenrechten auf internationaler Ebene.

Segbers' theologische Pointe besteht nun darin, dass er die Menschenrechte als Schutzrechte für die Armen interpretiert. In dieser Intention sieht er eine starke Parallele zur Sozialgesetzgebung der Thora. Segbers verbindet dies mit dem hermeneutischen Prinzip der Option für die Armen beziehungsweise der "Autorität der Leidenden" (Johann Baptist Metz). Nun ist es sicher so, dass viele Gehalte der jüdisch-christlichen Überlieferung zum Wurzelgrund der Menschenrechte gehören. Aber das Spezifische moderner Rechtsauffassung, dass der Einzelne Träger subjektiver Rechte ist, kannte die Thora, die eine göttliche Ordnung entwarf, noch nicht. Segbers benennt diesen Unterschied zwar, ebnet ihn aber doch letztlich ein, wenn er die Analogien zwischen Thora und Menschenrechten stärker betont als die Differenzen. So bleibt auch eine Auseinandersetzung über den Charakter der subjektiven Menschenrechte der Moderne außen vor: Waren dies wirklich nur Schutzrechte für die Armen? Oder haben sich durch sie nicht auch die spezifischen Ausbeutungsverhältnisse des Kapitalismus legitimieren können? So wäre weiter zu fragen, ob eine christliche Wirtschaftsethik nur auf die Menschenrechte als Norm setzen kann oder ob es nicht auch Kriterien bräuchte, die eine Hierarchie von Rechten und Bedürfnissen ermöglichen? Segbers nimmt diese Hierarchisierung mit der Option für die Armen vor - ohne allerdings klar zu machen, dass dies über eine rein menschenrechtliche Argumentation hinausführt. Unbeschadet dieser Fragen ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur Sache und eine Ermutigung zum Engagement.

Franz Segbers: Ökonomie, die dem Leben dient. Butzon & Bercker/ Neukirchener Verlag, Kevelaer / Neukirchen-Vluyn 2015, 248 Seiten, Euro 24,95.

Christoph Fleischmann

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Dietz Behring: War Luther Antisemit?

Wichtiger Beitrag

Über Luther und die Juden
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Nicht immer entsteht aus Fremdheit Hass, sondern gerade dann, wenn bei bestehenden Unterschieden große Nähe eintritt, kommt es zu massiver Abwehr.

Der Historiker und Sprachwissenschaftler Dietz Bering leistet mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag zur 500-Jahrfeier der Reformation. Er bietet leicht lesbare Zusammenfassungen über die Entwicklung vom mittelalterlich geprägten Mönch zum Reformator. Er stellt die wichtigsten Bruchstellen zum päpstlich-katholischen Glauben dar und gibt einen umfassenden Überblick über Luthers Stellung zu den Juden.

Bering hat die wichtigsten Ergebnisse moderner Lutherforschung für sein Buch zusammengefasst. Er nennt besonders Heinz Schilling, Thomas Kaufmann und Peter von der Osten-Sacken. Von letzterem erwähnt er dessen Feststellung, dass Luthers Verhältnis zu den Juden für evangelische Christen eine schwere Bürde sei. Und fügt hinzu: Weil der Reformator immer auch für das Deutschtum schlechthin in Anspruch genommen wird, muss Luthers Stellung zu den Juden jeden bedrücken.

Bering hilft, mit dem Wandel Martin Luthers in dessen Einstellung zu den Juden umzugehen. Er beschreibt ausführlich drei Phasen, in denen sich der Wandel vollzogen hat. Zunächst sieht er Luther in der schon vor allem auf Augustinus fußenden judenfeindlichen Tradition des Mittelalters. Nach dem reformatorischen Durchbruch zeigte sich Luther als ein Judenfreund, vor allem in der Schrift von 1523 "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei". Im Alter wurde Luther dann zum erbitterten Judenfeind, besonders krass in der 1543 erschienenen Schrift "Von den Juden und ihren Lügen". Hier beantwortet Behring die im Buchtitel gestellte Frage, ob Luther ein Antisemit gewesen sei, mit einem klaren Ja. Luther war nicht lediglich antijüdisch, wie es bei vielen seiner Zeitgenossen im Spätmittelalter üblich war. Die Judenfeindschaft des alten Luther war radikaler. Sie sei zwar nicht Folge einer Rassentheorie gewesen, was manche zur Entlastung Luthers vorbrächten. Aber in seinen späten Schriften und Predigten habe er die Juden in ihrer Gesamtheit zu Schädlingen erklärt, die irreversibel minderwertig seien. Sie seien schädlich für jedes Gastvolk, auch wenn sich viele unter ihnen als normale Bürger tarnten. Deshalb seien ihre Synagogen und Häuser zu verbrennen, ihr Vermögen sei zu konfiszieren, und die jungen Arbeitsfähigen sollten im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen. Bering zeigt auf, wo sich die Vollstrecker des Holocaust auf Luther als Quelle ihres Antisemitismus berufen haben.

Luthers Wandel vom Judenfreund zum Judenfeind wird von vielen Autoren mit der Enttäuschung erklärt, dass die Juden auf seinen Reformansatz hin Jesus nicht als Messias anerkannt hätten. Manche sehen in Luthers zunehmendem Altersstarrsinn, seinem von einer Magenkrankheit gequälten Seelenzustand die Ursachen seiner Verbitterung. Auch die Endzeitvisionen des alten Luther dienen zur Erklärung des Wandels, in denen Luther neben Papst und Türken vor allem die Juden als Plagen der Endzeit bezeichnete. Dietz Bering teilt solche Erklärungen durchaus, bemängelt aber, dass die meisten Autoren ihren jeweiligen Grund monokausal vortrügen. Das hält er für nicht ausreichend und legt eine weitere Erklärung des Wandels vor, die Kon-trastbetonung, ein Methode, die aus der Biologie stammt und auch in der Psychologie, in der Sprachwissenschaft und anderen Disziplinen eine große Rolle spielt: Nicht immer entsteht aus Fremdheit Hass, sondern gerade dann, wenn bei bestehenden Unterschieden große Nähe eintritt, kommt es zu massiver Abwehr.

Bering zeigt Luthers besondere Nähe zum Judentum an dessen reformatorischer Theologie auf: Abschaffung des Papsttums, der Heiligen- und Reliquienverehrung, des Zölibats, des priesterlichen Weiheamtes. Vor allem das Schriftverständnis, welches auch das Alte Testament in die Mitte des theologischen Denkens stellte, zeige eine große Nähe aus der dann die scharfe Abgrenzung entstanden sei.

Was Bering an der Entwicklung Luthers zeigt, überträgt er dann auf das deutsch-jüdische Verhältnis, das er als "Tragödie der Nähe" bezeichnet. Er zeigt, dass beide Völker sich in vielen Bereichen sehr ähnlich waren: Das Verständnis von Kultur und Bildung, die Wertschätzung des Buches und des abstrakten Denkens, die lange Zeit des Fehlens eines einheitlichen Staatsgebietes. Bering folgert: Je ähnlicher sich Juden und Deutsche wurden, umso größer wurde der Hass.

Die Verwendung der Kontrastbetonung zur Erklärung des Holocaust wirkt in Vielem plausibler als die Kategorie der Fremdheit. Es müsste noch dargestellt werden, warum diese Kontrastbetonung gerade zum Hass der Deutschen gegen die Juden und nicht umgekehrt wurde. Angesichts der damaligen Machtverhältnisse scheint die Übertragung eigener Mängel auf einen Sündenbock zur weiteren Erklärung des Antisemitismus erforderlich zu sein.

Dietz Bering: War Luther Antisemit? Berlin University Press, Berlin/Wiesbaden 2014, 322 Seiten, Euro 29,90.

Manfred Kock

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Tanja Busse: Die Wegwerfkuh

Aufwühlend

Landwirtschaft im 21. Jahrhundert
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Tanja Busse entlarvt unsere vermeintlich so effiziente Agrarindustrie als ein System gigantischer Verschwendung.

Zur Zeit Jesu lebten auf der Erde allenfalls 300 Millionen Menschen. Inzwischen ist die Weltbevölkerung auf rund 7,5 Milliarden angewachsen. Und jährlich kommen 78 Millionen hinzu, was in etwa der Einwohnerzahl Deutschlands entspricht. Ist es angesichts solch brisanter Statistik überhaupt vorstellbar, die Menschheit ohne die rigorosen Methoden der modernen Agrarindustrie ernähren zu wollen? Tanja Busse entlarvt jene vermeintlich so effiziente Agrarindustrie als ein "System gigantischer Verschwendung". Das gilt vor allem hinsichtlich der Produktion von tierischem Eiweiß.

Gewiss, unsere heimische Landwirtschaft eilt von Rekord zu Rekord. Sie vermag immer mehr Milch, Fleisch und Eier in immer kürzerer Zeit zu produzieren. Doch "effizient", so Busse, ist das, was da geschieht, keineswegs. Im Gegenteil: Dass wir hierzulande zumeist immer noch an einem reichlich gedeckten Tisch Platz nehmen dürfen, ist das Ergebnis einer äußerst fragwürdigen "Verschwendungs- und Vernichtungslandwirtschaft". Weder mit so kostbaren Ressourcen wie Boden, Wasser und Luft noch mit den uns anvertrauten Tieren wird verantwortungsvoll umgegangen. Und weder bei der Düngung noch beim Einsatz von Pestiziden und Antibiotika wird auf Nachhaltigkeit geachtet.

Busse, die ihre Kindheit auf dem elterlichen Bauernhof verbrachte, hat sich in den vergangen Jahren als Expertin für Landwirtschaft, Ernährung und Konsum einen Namen gemacht. In ihrem Buch über die "Wegwerfkuh" geht es nicht nur um die zum Teil äußerst grausamen Details agrarindustrieller Nutztierhaltung. Hartnäckig wird nach den Gründen gefahndet, die solche Exzesse ermöglichen. Und dabei geraten sowohl Produzenten als auch Verbraucher ins Visier. Die Betroffenen und Handelnden kommen dabei oftmals selbst zu Wort. Das gilt insbesondere für Bauern und Lobbyisten. Und was der Leser dabei an Insiderwissen - etwa über die Missstände bei der Geflügelzucht oder Schweinemast - aufgetischt bekommt, kann einem schon den Appetit nachhaltig verderben.

Die Milchwirtschaft dient Busse als Paradebeispiel für eine verfehlte Agrarpolitik. Dass ein Liter Milch mitunter weniger als eine Flasche Mineralwasser kostet, beruht in der Tat auf extremen Haltungs- und Produktionsbedingungen. Die enormen Anforderungen machen Hochleistungskühe meist schon nach relativ kurzer Zeit krank und führen zu Unfruchtbarkeit. Die natürliche Lebenserwartung einer Kuh ist rund zwanzig Jahre. Bei der "Wegwerfkuh" dauert es kaum drei Jahren bis zum totalen Burnout, und das Tier wird vom Melkstand zum Schlachthof geführt. Die "Wegwerfkuh" steht somit für eine agrarische Revolution, die in Wirklichkeit eine einzige Katastrophe ist. Und zwar für Tier und Mensch. Denn nicht nur das Tier leidet unter der fortlaufenden Intensivierung der Landwirtschaft. Mittlerweile droht die bäuerliche Existenz insgesamt vom Burnout erfasst zu werden.

Das Buch hält, was der Untertitel verspricht: Geliefert wird eine sachlich-detaillierte Recherche, die aufzeigt, "wie unsere Landwirtschaft Tiere verheizt, Bauern ruiniert, Ressourcen verschwendet und was wir dagegen tun können". Letzteres allerdings kommt nur in einigen wenigen - wenn auch durchweg hoffnungsvollen Beispielen - zur Sprache.

Der Hunger in einer überbevölkerten Welt, so das Fazit dieses aufwühlenden Buchs, verlangt nach einer ganz anderen - die Lebensressourcen effizient schonenden - Landwirtschaft. Mehr verantwortungsvolle Produzenten und vor allem mehr bewusste Konsumenten braucht also das Land. Busse entlässt da niemanden aus der Verantwortung. Und recht hat sie: Was ist schon die Qual der Wahl, welche Produkte man nun in den Einkaufskorb legt, im Vergleich zur unsäglichen Qual der Tiere?

Tanja Busse: Die Wegwerfkuh. Wie unsere Landwirtschaft Tiere verheizt, Bauern ruiniert, Ressourcen verschwendet und was wir dagegen tun können. Blessing Verlag, München, 2015, 288 Seiten, Euro 16,99.

Reinhard Lassek

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Rolf Hosfeld: Heinrich Heine

Meisterwerk

Neue Heine-Biografie
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Nicht, dass diese Biographie ein gänzlich neues Heinebild aus dem Hut zauberte - aber sie lässt im besten Sinne nichts zu wünschen übrig.

Heinrich Heine nannte sich einen entlaufenen Romantiker. Und ja, er war ein Romantiker von Seele und Gemüt. Aber er hatte auch ein untrügliches Gespür für alles, was nicht mehr kreative Kunst, sondern nur noch Konvention war. Wo er darauf stieß, reizte das seinen Hang zur Ironie, die er in allen Spielarten, von mild bis beißend, beherrschte. Selbstzweck war sie ihm nicht, oft aber Waffe, mit der er aufspießte, was faul im so genannten Reich des Geistes war. So spottete er schon früh über alles, was die Romantiker, zumal die epigonalen, längst allzu routiniert betrieben: Mittelalterverherrlichung als Weltflucht, Religiosität als dekorative Bigotterie, Kult der Nacht und aller möglichen Nachtseiten - und schließlich Vergötzung des "Teutschen". Die grassierte seit den Befreiungskriegen zunehmend. "Teutschland" - schon die Härtung des Anfangskonsonanten klang unheilverkündend. Heine nahm das hellseherisch wahr, auch wenn er sich noch nicht albträumen ließ, was im 20. Jahrhundert Übles daraus entstehen sollte.

Bald wurde aus ihm, der den romantischen Herzenston so unnachahmlich vorzubringen wusste, dass auch seine obligatorische spöttische Wendung am Gedichtende diesen nicht wirklich widerrufen konnte, ein politischer Schriftsteller. Für viele, die sich in der Restaurationszeit nicht in die biedermeierliche innere Emigration flüchten wollten, war er ein Herold der Freiheit. Entsprechend verhasst war er den Fürsten, nicht nur im politisch zerrissenen Deutschland, sondern aller restaurativer Mächte Europas, die, unter Metternichs Ägide, die Zustände der vorrevolutionären Welt wiederherstellen und konservieren wollten. Das Mittel der Wahl dazu, vor allen weitergehenden Brutalitäten, war die Zensur. Sie sollte die kritischen Geister mundtot machen. Heine trieb sie schließlich ins freiwillige Exil, nach Paris. Dort lebte er von 1831 bis zu seinem Tode 1856.

Wer mehr über Heinrich Heine, geboren als Harry Heine 1797 in Düsseldorf, Sohn eines Tuchhändlers, erfahren wollte, konnte dies auch bisher - an Biographien war kein Mangel, die schwungvolle von Ludwig Marcuse etwa ist immer noch lesenswert. Nun liegt die von Rolf Hosfeld vor: ein Meisterwerk. Nicht dass sie ein gänzlich neues Heinebild aus dem Hut zauberte - aber sie lässt im besten Sinne nichts zu wünschen übrig, nichts an Lesbarkeit, Klarheit, historischer Urteilsfähigkeit, wissenschaftlicher Gründlichkeit. Die Konsequenz, mit der Heines Werk hier in seine Zeit gestellt wird, macht - nicht einmal nur nebenbei - eine Periode der deutschen Geschichte anschaulich, die so etwas wie eine Achsenzeit darstellt, in der sich vieles eben nicht zum Guten entwickelte. Aber Hosfeld versteht auch zu erzählen, versteht es, Heine als lebendige Person auf die Bühne zu bringen - wichtigste Voraussetzung, um den garstigen Graben des zeitlichen Abstands zu überspringen.

Natürlich kommt dabei nicht der Versuch einer Neutralitätsskizze heraus, Hosfeld steht nachdrücklich auf der Seite seines Protagonisten. Dabei verschweigt er nicht, dass Heine, Mann der Freiheit, aber nicht einer der planen Unbeirrbarkeit, die historische Heroenverehrung so gern rühmt. Heine war mit der Gabe beständigen Zweifelns begabt oder geschlagen, sie - nicht mit Wankelmütigkeit zu verwechseln - schützte ihn zeitlebens vor jeder ideologischen Verblendung.

So ist es gut und richtig, dass Hosfeld Heines Ecken und Kanten nicht, wie in der Vergangenheit oft geschehen, als Einwand gegen dessen Charakter gelten lässt, etwa wenn Heine es dem Dichter August von Platen, der ihn aus antisemitischen Motiven zu diffamieren trachtete, mit gleichen Mitteln heimzahlte und ihn als Homosexuellen - damals noch ein Skandal - outete und als "Mann des Steißes, nicht des Kopfes" bezeichnete.

Ja, Heine schoss nicht selten über das Ziel hinaus. Verständlicherweise, denn als Jude hatte er es nicht leicht. Die hochgemuten Zeiten der Aufklärung, in der es geschienen hatte, als ob die Emanzipation der Juden nur noch eine Frage der Zeit sei, waren vorüber, überall, wo sich Freiheitsgeist massenhaft regte, war er mit dem Geist des Nationalismus amalgamiert und zunehmend von offenem Antisemitismus vergiftet.

Merkwürdigerweise hat man sich in Deutschland mit Heine noch eine ganze Zeit lang schwer getan, nachdem der Antisemitismus längst nicht mehr gesellschaftsfähig war, bis in die Zeiten der Bundesrepublik hinein. Vielleicht gerade deshalb, weil ihm, dem Dichter, politischen Schriftsteller und Journalisten, alle Prätention eines Schwer- und Tiefsinns zuwider war. Dass er gerade mit seiner scheinbaren Oberflächlichkeit und seiner Vorliebe für das elegante Wortgefecht die Probleme seiner Zeit tiefer als andere begriffen und benannt hat, war ihm offenbar nur schwer zu verzeihen.

Hosfelds großes Verdienst ist es, zu zeigen, wie sehr Heine auf die andere, lichte Seite der deutschen Geschichte gehört, zu den Stimmen, die, wären sie nur besser gehört worden, das deutsche Unheil zumindest hätten mindern können. Keiner, so macht er klar, hat es mehr verdient, zu den legitimen Ahnen der deutschen Demokratie gezählt zu werden - und dies, ein Glücksfall für die deutsche Geistesgeschichte, als einer der ganz Großen der deutschen Literatur. Das Schönste aber ist, dass Hosfeld Heine nicht auf einen Sockel stellt - meist das Zeichen, dass der so Glorifizierte endgültig in den Archiven der Literaturgeschichte verschwindet -, nein: sein Buch macht Lust, Heine selbst zu lesen oder wieder zu lesen.

Rolf Hosfeld: Heinrich Heine. Die Erfindung des europäischen Intellektuellen. Siedler Verlag, München 2014, 512 Seiten, Euro 24,99

Helmut Kremers

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Pop Staples: Don't lose this

Vermächtnis

Das Letzte von Pop Staples
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Zehn Songs zwischen nacktem Delta-Blues, souligem Balladenschmelz, Gospel und resolutem Kracher.

Dass Blues, Gospel und Soul Brüder sind, die Schmerz und Lust, Hoffnungen, Enttäuschungen, Verzweiflung und Erlösung, vor allem aber Größe teilen, hört man nirgends so gut wie in Aufnahmen der "Staples Singers". Eine in Chicago gegründete Familienband, die als "God's Greatest Hitmakers" Popgeschichte schrieb.

Ihre Wurzeln liegen im Süden: Nach Jahren des Bluestingelns schloss sich der im US-Staat Mississippi geborene Sänger und Gitarrist Roebuck "Pops" Staples 1931 einer Spiritualgruppe an, später ging er mit der Familie in den Norden. Er hatte Jobs als Autowäscher, im Schlachthof und im Stahlwerk - und sang in den Kirchen Spirituals. 1948 formierte er mit Sohn Pervis und seinen Töchtern Cleothea und Mavis "The Staples Singers" (später kam Yvonne dazu). In den Fünfzigerjahren begannen sie mit Plattenaufnahmen, zu denen Sessionmusiker an Bass und Schlagzeug hinzukamen. Sie hatten fortlaufend Hits in den Gospel-, R&B- und Soulcharts, wiederholt Pech und Stress mit ihren Plattenfirmen, aber waren letztlich stärker. Sound und Stil prägte Pops' Delta-Blues auf der tremolierenden Echogitarre, die er im Pfandleihhaus erstand. Ekstatischer Gospel mit Mavis' zwischen sehniger Leidenschaft und purer Sexiness hollernder Leadstimme und Antwortphrasen der Schwestern, der kein Auge trocken und weder Hüften noch Seele unbewegt lässt. Mavis arbeitete später in ihrer parallelen Solokarriere mit Prince. Vom Label geforderte Rock'n'Roll-Aufnahmen verweigerten sie, waren aber 1962 die erste schwarze Band, die Dylans "Blowin' in the wind" und dann auch fleißig angesagte Bürgerrechtshymnen sang. Bluesig blieben sie stets trotz zwischenzeitlich süßlich-zweifelhaftem (aufgezwungenem) Sound und sind ein Meilenstein jenes Gefildes, das heute "Americana" heißt.

Insofern ist es bloß schlüssig, dass die letzten Aufnahmen des 2000 verstorbenen Pops Staples jetzt Americana-Mastermind Jeff Tweedy von der Band "Wilco" vervollständigt und produziert hat, mit dem Mavis befreundet ist. "Don't Lose This" hatte ihr Pops einst als Titel ans Herz gelegt, so heißt das Album nun auch. Die verbliebenen "Staples Singers" sind dabei, Sessionmusiker und am erfrischend scheppernden Schlagzeug Tweedys Sohn Spencer. Und alles ist da, weil es auch nie weg war: Zehn Songs zwischen nacktem Delta-Blues ("Nobody's Fault But Mine" - Pops pur mit Gitarre und Gesang), souligem Balladenschmelz, Gospel und resolutem Kracher ("No News Is Good News").

Es macht Freude, Pops' erlöst flirrender Stimme und seinem einzigartigen Gitarrenspiel zuzuhören, die Fugen zwischen den Tönen zu spüren, wo sich Abgründe auftun - aber eben auch Zuversicht und Stärke, die trösten und streicheln.

Der programmatische Song "Gotta Serve Somebody" von Dylans erster "christlicher" Platte "Slow Train Coming" beendet das wunderbare posthume Album. So schließt sich noch ein Kreis.

Pops Staples - Don't Lose This. Anti, 6755657

Udo Feist

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Getrude von Le Fort: Der Letzte am Schafott

Mut der Schwachen

Frankreich im 18. Jahrhundert
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Woher nimmt eine vermeintlich schwache Novizin die Kraft für den tapferen Gang auf das Schafott? Dieser Frage geht Le Fort in ihrer 1931 erschienenen Novelle nach.

Das Hörbuch setzt im Revolutionsoktober 1794 ein, die Karmeliterinnen von Compiègne besteigen das Schafott. Gertrud von Le Fort, die Autorin dieser Novelle, stellt den historischen Frauen die Romanfigur Blanche de la Force zur Seite, eine Novizin, die zuerst voller Todesangst aus dem Kloster geflohen war und nun freiwillig ihren singenden Schwestern zur Guillotine folgt.

Während sich die anderen von Anfang an ihrer Novizenmeisterin aus dem Hochadel angeschlossen hatten, um gemeinsam ein Zeichen für die katholische Kirche zu setzen und als Märtyerinnen zu sterben, hielt sich Blanche bei den Marktweibern von Paris versteckt. Im letzten Moment bleibt der Anführerin, der adligen Marie de l'Incarnation, das Martyrium versagt, während Blanche als letzte das Schafott besteigt. Woher nimmt die vermeintlich schwache Frau so viel Kraft? Dieser Frage geht Le Fort in ihrer 1931 erschienenen Novelle nach und lässt die Nonnen symbolisch für die Todesangst einer zu Ende gehenden Epoche auftreten. Das geschieht in Form einer Briefnovelle, in der ein Adliger seiner Freundin die Ereignisse in Frankreich schildert. Die Autorin konvertierte im Alter von fünfzig Jahren zum Katholizismus und ihre Werke sind stark von der Auseinandersetzung mit Glaubensfragen geprägt. Natürlich ist dieses Hörbuch keine leichte Kost, weshalb es sich empfiehlt, vor dem Hören das beigefügte zwanzigseitige Booklet zu lesen, in dem neben einer hilfreichen Zeittafel auch Begriffserklärungen und historische Hintergründe zu finden sind. Mit seiner sonoren Stimme trägt der Schauspieler Bernt Hahn allein das textgetreue Hörbuch von 180 Minuten, welches ohne Hörspielelemente auskommt.

Gertrud von Le Fort: Die Letzte am Schafott. Verlag Petra Kehl, Künzell 2015, 3 CDs. Euro 19,90.

Angelika Hornig

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Gangolf Hübinger (Hg.): Ernst Troeltsch

Mustergültig

Spectator-Briefe von Troeltsch
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Bei Troelsch kann man lernen, was es heißt, als Theologe ein politisches Urteilsvermögen zu besitzen

Es hat nicht viele Theologen gegeben, die politische Urteilskraft bewiesen haben. Weitaus mehr haben sich - rückblickend betrachtet - geirrt, waren verirrt oder verwirrt. Einige haben durchaus Wichtiges gesehen, zu Recht gewarnt oder gemahnt, doch folgten sie dabei meist einem moralischen Impuls, ohne die politischen Realitäten angemessen wahrzunehmen. Einer der ganz wenigen Theologen in der Geschichte des deutschen Protestantismus, der einerseits ein einleuchtendes ethisches Programm verfolgt und dieses andererseits mit genauen Einsichten in das politische Geschehen verknüpft hat, war Ernst Troeltsch. Bei ihm kann man lernen, was es heißt, als Theologe ein politisches Urteilsvermögen zu besitzen.

Besichtigen kann man dies nun in der ersten vollständigen Ausgabe seiner politischen Essays, die er in den ersten Jahren der Weimarer Republik unter dem Pseudonym "Spectator" in der bildungsbürgerlichen Kulturzeitschrift "Der Kunstwart" veröffentlichte. Ein bis zwei Mal im Monat schrieb er über seine alltäglichen Beobachtungen im nachrevolutionären Berlin, seine Gespräche mit führenden Politikern und Beamten, seine grundsätzlichen Gedanken zum Aufbau eines sozialen und demokratischen Rechtsstaats sowie seine mehr als berechtigte Befürchtung, dass die junge Republik zwischen den Extremismen von links und rechts zerrieben werden könnte. Troeltsch wollte das verhetzte Bürgertum für eine neue Politik gewinnen: für die Verständigung mit den europäischen Feinden und die Öffnung zum Westen, für die Aussöhnung mit der Arbeiterschaft und die Demokratisierung der deutschen Gesellschaft. Dieses Engagement fußte auf geschichtsphilosophischen und soziologischen Analysen der Moderne, einem liberaltheologischen Freiheitsgedanken und der protestantischen Wertschätzung eines nichtfundamentalistischen Politikverständnisses. Was bei ihm grundsätzlich überzeugt, ist zugleich gegründet auf einer Wahrnehmung der tatsächlichen Verhältnisse. Troeltsch war kein Stubengelehrter. Er scheute sich nicht, für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei in den Wahlkampf zu ziehen.

Seine "Spectator-Briefe" sind eine Schule in politischer Urteilsbildung und ein Leseerlebnis. Sie führen mitten hinein in eine zerrissene Zeit, lassen den Leser an den Aufregungen der Weimarer Republik teilhaben, stellen ihm die wichtigsten Akteure lebendig vor Augen. Und sie zeigen ganz unmittelbar, was für ein hohes Gut die Demokratie ist. Wer ein Mittel gegen die chronische Politikverdrossenheit sucht, findet hier die beste Medizin.

Ganz vergessen waren Troeltschs "Spectator-Briefe" nie. Sein Schüler Hans Baron, der später vor der NS-Diktatur nach Amerika fliehen musste und dort als bedeutender Gelehrter wirkte, veröffentlichte 1924 einen ersten Auswahlband, der leider zu wenige Leser fand. 1994 erschien in der "Anderen Bibliothek" von Hans Magnus Enzensberger eine Leseausgabe, die den politischen Troeltsch einem größeren Publikum bekannt machte. Nun hat der ausgewiesene Troeltsch-Forscher Gangolf Hübinger eine mustergültige Edition aller "Spectator-Briefe" herausgegeben. Sie überzeugt besonders durch die Erklärungen der zeithistorischen Umstände. Allerdings kann man fragen, ob eine "kritische Ausgabe" nicht zu viel Aufwand mit sich gebracht hat. Wäre eine handlichere Leseausgabe nicht besser gewesen? Die daraus folgende Preisgestaltung wird jedenfalls eine größere Verbreitung verhindern.

Gangolf Hübinger (Hg.): Ernst Troeltsch. Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919-1922). Kritische Gesamtausgabe, Band 14. Verlag De Gruyter, Berlin 2015, 719 Seiten, Euro 229,-.

Johann Hinrich Claussen

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Christoph Kleemann: Hans im Glück

Debüt

Ein biografischer Weg
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Ein solches Debüt ist etwas Besonderes auf dem Buchmarkt

Der Hans im Märchen sieht sich stets im Vorteil, nach jedem Tausch seines Hab und Guts ist er seelenfroher. Kleemanns Roman liest sich als eine Geschichte von Tausch und Entlastung. Sein Protagonist Georg Weber ist Theologe und Leiter einer Behörde zur Erforschung der Opposition in der DDR. Mag er auch weniger zufrieden als Hans sein mit jedem Loslassen (Orte, Wohnungen, Frauen, Berufe), so sieht er doch rückblickend jede Erfahrung und Belastung als Prägung, einschließlich der größten Bürde, der Krebserkrankung.

Wie Hans ist Georg unterwegs - seit 25 Jahren ohne Grenzzäune um das ehemals kleine Land. Sein Dasein als "eine Art Dauerreisender" war auch Flucht vor Vereinnahmung, fester Bindung, verfestigter Ordnung. Nun geht die Reise nach innen, in die Vergangenheit. Seine Frau, die Töchter, Freundinnen, Freunde, die Psychologin, Ärzte und Schwestern - sie begleiten ihn bei dem, was man gemeinhin als "Aufarbeitung" bezeichnet. Georg wird Konzentration und Kontemplation abverlangt. Ausgeschlossen ist künftig Verdrängung, die er als mögliche Ursache für Krebs begreifen lernt. Das Bedürfnis, Klarheit über sich zu gewinnen, geht einher mit seelischer Heilung.

Der Weg ist entscheidend. Als Schriftsteller setzt Kleemann seine Hauptfigur immer wieder in Züge und konfrontiert ihn mit seiner, Georgs Lebensgeschichte. Unterwegs denkt er an Kindheit und Jugend, Schule, Beruf, Liebesverhältnisse, die geschiedene Ehe, Freundschaften. Fiktionen und Parallelen zur Biographie des Autors sind verflochten. Kleemann, 1944 in Meißen geboren, sang im Kreuzchor, studierte Theologie, war Jugend-, Studenten- und Gemeindepfarrer, 1989 Pressesprecher des Neuen Forums und von 1999 bis zur Pensionierung Leiter der Außenstellen-Behörde Rostock für die Stasi-Unterlagen.

Hätte das Buch nicht 608 Seiten, könnte von so vielen Phasen einer Lebensgeschichte mit vielen Personen unterschiedlichen Charakters nicht so ausführlich erzählt werden. Fragen nach Gott, der eignen Identität, dem Sinn des Lebens - auch dem der Krankheit, - nichts unterbricht zu lange den Erzählfluss. Dem Anliegen, Thema, Stoff und Stil ist der Umfang angemessen. Eine Seite hätte der Verlag hinzufügen müssen mit den (hier nachgetragenen) Angaben zur Biographie des Autors. Ein solches Debüt ist etwas Besonderes auf dem Buchmarkt, für die Literatur, für die Leserschaft, die an Kleemanns Erzähllust und Humor teilhat.

Christoph Kleemann: Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2015, 608 Seiten, Euro 24,95.

Christoph Kuhn

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Charles Mash: Der verklärte Fremde

Ärgerlich

Neue Bonhoeffer-Biographie
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Weniger Fehler als im Original. Aber noch immer ärgert der freizügige Umgang Marshs mit den historischen Quellen.

Rechtzeitig zum 70. Todestag Dietrich Bonhoeffers ist die Übersetzung einer neuen amerikanischen Biographie erschienen. Charles Marsh, Theologieprofessor an der Universität von Virginia, will in ihr nicht nur in die äußeren Abläufe eines Lebens Einblick geben, sondern auch in Bonhoeffers persönlichste Gedanken und Gefühle. Das flüssig geschriebene Buch zeichnet einen Bonhoeffer, der seit seiner Kindheit am Rande stand, mit seinem Rigorismus in der Bekennenden Kirche fast alleine war und erst in Eberhard Bethge einen Seelenverwandten fand. Marsh arbeitet heraus, wie wichtig für Bonhoeffers weitere Entwicklung seine erste USA-Reise 1930/31 war - die Mitarbeit in einer Baptistengemeinde in Harlem, Freundschaften mit entschiedenen Pazifisten und das Kennenlernen der amerikanischen liberalen Theologie.

Gegenüber dem englischen Original, das wegen zahlreicher sachlicher Fehler unter Bonhoeffer-Forschern auf Kritik gestoßen ist, bietet die deutsche Fassung erfreulich viele Korrekturen, insbesondere bei der Beschreibung der kirchlichen Konstellationen, was ohne Zweifel der Expertise des Gütersloher Verlagshauses zu verdanken ist. Die stehengebliebenen Fehler geben einen Eindruck von der ursprünglichen Gestalt des Buches. Nur ein Beispiel sei genannt: Bonhoeffer berichtet 1924 im Tagebuch seiner Romreise, dass er in Bozen umstieg und ihm "beim Bozener Rosengarten" (einem Südtiroler Bergmassiv) deutlich wurde, dass die Wirklichkeit die Phantasie übertrifft. Bei Marsh liest man: "In Bozen fand Bonhoeffer, während er auf seinen Anschlusszug wartete, eine ruhige Ecke in einem Rosengarten in der Nähe des Bahnhofs, wo man 'im Abendrot die Dolomiten herrlich schön' sah, was eine wunderbar melancholische Stimmung schuf." Auch wenn dieser Fehler damit zu erklären ist, dass der Autor den Rosengarten offenbar nicht kennt, zeigt sich hieran doch, was auch andernorts begegnet: Im Vordergrund steht die "story", nicht möglichst genau recherchierte Sachverhalte. Häufig fragt man sich, woher Marsh seine Behauptungen hat. Ärgerlich ist Marshs immer wieder sehr kreativer Umgang mit den Quellen. Immer wieder werden Briefpassagen aus dem Kontext gerissen. Marsh zitiert, Eberhard Bethge sei von der Lektüre von Bonhoeffers Ethik-Manuskripten "etwas erschreckt" gewesen. Schlägt man den angegebenen Brief-Beleg nach, liest man dort, Bethge sei "etwas erschreckt" über Bonhoeffers "Absatz mit dem Bibellesen" (DBW 16, 126), in dem dieser berichtet, in manchen Wochen lese er sehr wenig in der Bibel.

Eine These des Buches ist, Bonhoeffers Beziehung zu Bethge sei mehr als eine besondere Männerfreundschaft gewesen. Marshs Darstellung schwankt zwischen der Aussage, beide seien ein "Paar" gewesen, und der Einschätzung, es habe ein Ungleichgewicht zwischen Bonhoeffers Absichten und Bethges Reaktionen gegeben. Schon früh sind ähnliche Vermutungen formuliert worden; Bethge hat sie stets als unzutreffend bezeichnet. Lehnt man für eine Biographie den allwissenden Erzähler des Romans ab, dann muss man fragen: Geben die Quellen her, was Marsh zeigen will? Ja, die Briefe Bonhoeffers an Bethge lassen eine tiefe Verbindung zwischen beiden erkennen. Insbesondere in der Haft wird deutlich, wie überlebenswichtig Bonhoeffer der häufige Austausch mit Bethge ist. Ganz offensichtlich ist Bonhoeffer angesichts von Bethges Heirat eifersüchtig. Aber Bonhoeffers Verlobung mit Maria von Wedemeyer nur als Spiegelung von Bethges Heirat einzuführen, wird der in den Briefen zwischen Bonhoeffer und der jungen Frau dokumentierten Zuneigung nicht gerecht. Irritierend ist, dass auch hier Texte zurechtgebogen werden. Ein Beispiel: Marsh berichtet, Bonhoeffer komme die Trennung von Bethge "unnatürlich" vor. Im angegebenen Brief aber schreibt Bonhoeffer angesichts von Bethges drohender Einberufung: "Es kommt mir ganz unnatürlich vor, Dir jetzt gar nicht helfen zu können" (DBW 16, 80). Völlig unberücksichtigt bleibt, dass es zum Beispiel für ein gemeinsames Konto der beiden Männer in der Versorgung des Predigerseminars liegende Gründe gab oder wie sich andere Männerfreundschaften zu dieser Zeit gestalteten. Insofern vermag diese These Marshs nicht zu überzeugen.

Charles Marsh: Dietrich Bonhoeffer. Der verklärte Fremde. Eine Biographie. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015, 592 Seiten, Euro 29,99.

Christiane Tietz

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Foto: Peter Bongard

Christiane Tietz

Prof. Dr. Christiane Tietz ist Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und Herausgeberin von zeitzeichen.

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