Demokratieunfähigkeit reloaded?

Wider die aufdringliche „Impffrömmigkeit“ in den Landeskirchen der EKD
Registrierung zum Impfen im Haus der Kathedrale des Bistums Dresden-Meißen in Dresden, 28.11. 2021.
Foto: epd
Registrierung zum Impfen im Haus der Kathedrale des Bistums Dresden-Meißen in Dresden, 28.11. 2021.

Läuft da was schief? Rochus Leonhardt, Professor für Systematische Theologie in Leipzig, findet es unangemessen, dass die Kirchen so eindringlich fürs Impfen werben, denn die Wirklichkeit ist komplex.

1983 hat der evangelische Theologe Trutz Rendtorff (1931-2016) einen Aufsatz unter dem Titel „Demokratieunfähigkeit des Protestantismus?“ publiziert. Darin beanstandete er die im damaligen westdeutschen evangelischen Christentum besonders in Umwelt- und Rüstungsfragen akute Neigung zu einer christlich-religiös begründeten Verachtung demokratisch-parlamentarischer Prozesse. Vom Christusbekenntnis her, so die von Rendtorff kritisierte Auffassung, sei Eindeutigkeit statt Kompromissfähigkeit gefordert.

Zwei Jahre später legte die EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung unter dem Vorsitz von Rendtorff die Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ vor. Darin wurde die „positive Beziehung von Christen zum demokratischen Staat des Grundgesetzes“ betont, eine Beziehung, die den „Charakter kritischer Solidarität“ habe. Zwar sei die Demokratie keine christliche Staatsform, aber sie sei gut kompatibel mit den „theologischen und ethischen Überzeugungen des christlichen Glaubens“. Allerdings: Als „bleibende Voraussetzung“ für diese Grundsatzzustimmung gilt das Festhalten an einer klaren „Unterscheidung zwischen dem geistlichen Auftrag der Kirche und dem weltlichen Auftrag des Staates“.

Vor dem Hintergrund der im deutschen Protestantismus bis heute als wegweisend geltenden Orientierungen der Denkschrift von 1985 möchte ich in diesem Beitrag eine Doppelfrage behandeln. Sie lautet: Wie ist es aktuell, mehr als 70 Jahre nach dem Inkrafttreten des (seit 1990 gesamtdeutsch geltenden) Grundgesetzes und bald 40 Jahre nach der Publikation der Denkschrift bestellt einerseits um die demokratische Kultur in unserem Land (1) und andererseits um die Haltung der Kirche zum demokratischen Staat in seiner gegenwärtigen Verfassung (2)? Bevor ich dieser Frage in zwei Abschnitten nachgehe, sei hier schon die Doppelthese formuliert, auf die mein Beitrag zusteuern wird. Sie lautet: (1) Die demokratische Kultur in Deutschland ist schwer angeschlagen, Verfallserscheinungen sind deutlich sichtbar; sie werden exemplarisch an der Corona-Krisenpolitik aufgewiesen. (2) In dieser Lage gestaltet sich die Solidarität der Kirche mit den politisch Verantwortlichen zunehmend als eine un-kritische; der Protestantismus scheint in die schlechte Gewohnheit einer religiösen Überhöhung des Politischen zurückzufallen. Dadurch konterkariert er die Einsichten von 1985, deren Pointe gerade in einer strikten „Säkularisierung der Politik“ (Reiner Anselm) bestanden hatte.

Auseinandersetzung im Konsens erstickt

Dass es seit geraumer Zeit gesellschaftliche Erosionsprozesse in etlichen westlichen Demokratien gibt, ist nicht zu bestreiten; eine ganze Phalanx von Politikwissenschaftlern und Gesellschaftstheoretikern ist mit diesen Vorgängen befasst. Diese Verfallserscheinungen äußern sich selten so, dass verfassungsmäßig garantierte Grundrechte direkt beseitigt werden; der Verfall der demokratischen Kultur vollzieht sich, jedenfalls in Deutschland, vornehmlich in Gestalt einer politisch forcierten Ersetzung sachbezogener durch moralische Argumente und Entscheidungsbegründungen. Die „notwendige Auseinandersetzung“ in Sachfragen wird „unter einem erzwungenen, moralisch begründeten Konsens“ erstickt (Peter Graf Kielmannsegg).

Allerdings ist klar: Die Corona-Krise stellte zunächst eine bis dahin unbekannte Herausforderung dar. Und wer unter Entscheidungs- und Handlungsdruck in einer Lage der Ungewissheit Fehler macht, dem ist mit Nachsicht zu begegnen. Nach zwei Jahren ist dieser Nachsichts-Kredit allerdings deutlich geschrumpft. Zugleich aber häufen sich die politischen Absurditäten. Ich möchte dies an der Impfpflicht-Debatte verdeutlichen.

Der Impfung mit den eilig entwickelten und bedingt zugelassenen Impfstoffen war die Rolle eines „Game Changers“ zugedacht. Sie sollte einen annähernd nachhaltigen Infektionsschutz sicherstellen und die Rückkehr zur Normalität ermöglichen. Eine Impfpflicht wurde dezidiert ausgeschlossen, ein Impfangebot sollte ausreichen. Diese Entscheidung mag von der nachvollziehbaren Überlegung geleitet gewesen sein, dass sich ein Angebot, dessen Wahrnehmung hält, was versprochen war, von ganz allein als hinreichend attraktiv erweisen würde.

Es ist anders gekommen. Zu den Gründen dafür gehörte auch die Tatsache, dass die Impfstoffe eben nicht, wie erhofft, vor Infektionen, sondern lediglich vor einem schweren Verlauf einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus schützen. Das ist schon viel, namentlich für die sogenannten vulnerablen Gruppen. Aber angesichts dessen, dass sich mögliche Risiko-Kandidaten aufgrund der bisher gemachten Erfahrungen einigermaßen klar benennen lassen, konnte man eigentlich damit rechnen, dass sich viele Menschen nicht für eine Impfung entscheiden würden.

„Nach Madagaskar kann man sie nicht verfrachten“

Nun aber beginnt die Absurdität: Je deutlicher die Diskrepanz zwischen den in die Impfung gesetzten Hoffnungen und der Realität wurde („Impfdurchbrüche“, Notwendigkeit der [inzwischen zweiten] „Booster“-Impfung für einen zeitlich knapp begrenzten Schutz), desto nachdrücklicher wurde die für das Ende der Pandemie vermeintlich erforderliche Impfquote politisch nach oben verschoben. Plötzlich kam doch die Impfpflicht für alle ins Gespräch. Diese Wendung war und ist verbunden mit einer politisch initiierten sowie medial breit flankierten und gesellschaftlich vielfach gestützten Stigmatisierungs- und Diskriminierungskampagne, die sich gegen die oft pauschal als „Corona-Leugner“ bezeichneten Impf-Skeptiker richtete. Zwar gilt: „nach Madagaskar kann man sie nicht verfrachten“ (Heinz Bude), aber unterhalb von Massendeportationen ist alles erlaubt, was diese Bekloppten (Joachim Gauck) zur Raison bringen könnte. In jedem Fall müssen die Ungeimpften „jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben. Deshalb machen wir konsequent 2G“ (Tobias Hans).

Man muss sich klarmachen, was hier passiert. Ein völlig legales Verhalten, nämlich sich nicht impfen zu lassen, wird nicht nur als moralisch verwerflich beurteilt. Sondern es wird auch, namentlich mittels der 2G-Regelung, auf dem Verordnungsweg durch Grundrechte-Entzug bestraft.

Ist die moralische Entrüstung nachvollziehbar? – Beklagt wird hier vor allem die fehlende Solidarität der Ungeimpften. Durch ihre „Tyrannei“ (Frank Ulrich Montgomery) nähmen sie nicht nur die ganze Gesellschaft „in Geiselhaft“ (Günther Jauch), weil sie daran schuld seien, dass Deutschland noch nicht in den Normalmodus zurückkehren könne. Sondern sie trügen auch zur Überlastung des Gesundheitssystems bei. Die egoistischen Auslöser einer Pandemie der Ungeimpften lauern im dunkeldeutschen Hinterwald darauf, unbescholtenen Patienten ITS-Betten wegzunehmen. Deshalb: Schluss mit dem querdenkerischen Freiheitsgeschwurbel und her mit schmerzlichen Nachteilen, die den Impfverweigerern den Pieks schmackhaft machen!Die Wirklichkeit ist deutlich komplexer. Es ist das Verdienst des Journalisten Tim Röhn, aufgedeckt zu haben, dass die regierungsamtlich lancierten Zahlen, die etwa in Hamburg die Rede von der Pandemie der Ungeimpften stützen und (mittels der 2G-Regelung) „scharfe Grundrechtseinschränkungen für diese Bevölkerungsgruppe“ rechtfertigen sollten, „offenbar gänzlich falsch“ waren. Ähnliches gilt für andere Bundesländer. Und was die Überlastung des Gesundheitssystems angeht, so hat der nordrhein-westfälische SPD-Abgeordnete Hartmut Ganzke in einem engagierten Redebeitrag darauf verwiesen, dass die (CDU-geführte) Regierung des einwohnerstärksten Bundeslandes „mitten in der Pandemie Intensivbettenkapazität abgebaut [hat]; Tausende Betten sind weg […] und den schwarzen Peter wollen Sie dafür nun den Ungeimpften zuschieben“. Auch hier handelt es sich nicht nur um ein nordrhein-westfälisches, sondern um ein gesamtdeutsches Phänomen. [Nachtrag vom 23. Februar 2022: Das zuletzt angeführte Zitat stammt nicht von Hartmut Ganzke (SPD), sondern von Markus Wagner, dem AfD-Fraktionsvorsitzenden im nordrhein-westfälischen Landtag.] Die seitens der Politik erpresserisch vorgetragene Solidaritätsforderung hat also offenbar auch das Ziel, vom eigenen gesundheitspolitischen Versagen abzulenken.

Zugeständnis im „+“

Ist der Grundrechte-Entzug mittels der 2G-Regelung zu rechtfertigen? – Hier ist die Situation nicht weniger absurd. Immerhin: Es scheint sich herumgesprochen zu haben, dass es schlicht „Unsinn“ ist, wenn Geimpfte „ungetestet (in Massen) zusammenkommen und andere sowie sich selbst anstecken, während [negativ] getestete Ungeimpfte draußen bleiben müssen“ (Tim Röhn). Um dieses Problem zu vermeiden, setzt man nun aber auf die 2G+-Regelung. Damit wird ein doppeltes Signal gesendet. Erstens: Im „+“ steckt das Zugeständnis, dass auch Geimpfte infektiös sein können, dass es also zwischen ihnen und den Ungeimpften keine kategoriale, sondern allenfalls eine graduelle Differenz gibt. Zweitens: Die 2 manifestiert den Willen zum Festhalten an der Diskriminierung der Ungeimpften, die allerdings nur unter der Voraussetzung einer (gerade nicht gegebenen!) kategorialen Differenz zu rechtfertigen wäre. – Dass, wie es eine von der Körber-Stiftung Ende 2021 publizierte Studie gezeigt hat, durch die Corona-Politik das Vertrauen der Menschen in die Demokratie erschüttert wurde, kann angesichts solcher Irrationalitäten nicht verwundern.

„Die Demokratie kann aus der Corona-Krise gestärkt hervorgehen“, meint Julian Nida-Rümelin, wobei das „kann“ besonders zu betonen ist. Denn, so der stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates weiter, dieselbe Krise kann sich auch „als Krisenbeschleuniger der liberalen und sozial verfassten Demokratien des Westens erweisen.“ Was Deutschland angeht, so steht angesichts der genannten Absurditäten zu befürchten, dass die zuletzt genannte Option Wirklichkeit wird.

Für die Haltung der Kirche zur staatlichen Pandemiepolitik (ich beziehe mich hier ausschließlich auf den deutschen Protestantismus) gilt grundsätzlich dasselbe wie für die Beurteilung der staatlichen Maßnahmen insbesondere des Jahres 2020: Wegen der Unsicherheit der Gesamtlage verfügte niemand über Patentrezepte, weshalb es wohlfeil wäre, rückblickend zu beckmessern. Man wird insgesamt sagen können: Aus guten Gründen wurde auf das derzeit verordnete „Social distancing“, konkret: das Verbot von Zusammenkünften in Kirchen und Gemeindehäusern, nicht mit unverantwortlichem „Widerstandskitsch“ (Hans Michael Heinig) reagiert. Dabei ist der Verzicht auf die öffentliche Predigt und die Feier der Sakramente angesichts der Bedeutung von „Geselligkeit“ (Friedrich Schleiermacher) für die christliche Religion eigentlich ein „No-Go“. Den Weg aus der Misere ebneten zunächst kirchliche online-Angebote sowie wenig später die konsequente Implementierung von Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen als Voraussetzung für die (freilich bis heute eingeschränkte) Rückkehr zur Präsenz.

Im Zuge der Impfdebatte hat sich der kirchliche Corona-Diskurs in eine andere Richtung bewegt. An die Stelle des zunächst herrschenden Pragmatismus ist zunehmend Impf-Frömmigkeit getreten. Diese Impf-Frömmigkeit ist allerdings auch ein politisches und insofern säkulares Phänomen. „Das Impfen ist der Moses, der uns aus dieser Pandemie herausführt.“ – Diese Formulierung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann stammt vom Dezember 2021. Im selben Monat hat sich Kretschmanns Innenminister Thomas Strobl im Blick auf Demonstrationen gegen Impfpflicht und Corona-Maßnahmen über das Verhalten „einiger Irrgläubiger“ mokiert. Ich möchte diese Zitate nicht überstrapazieren, aber als Indizien für eine Tendenz zur Sakralisierung der Impfung können sie durchaus gelten. Breite Kreise des evangelischen Christentums in Deutschland, darunter auch namhafte Stimmen, spenden dieser politischen Sakralisierungstendenz den religiösen Segen.

„Impfen um der Liebe Gottes willen“

Einer Impfpflicht aus christlicher Nächstenliebe heraus redet die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus das Wort, nicht ohne hinzuzufügen, dass die Kirche zwar für alle da sei, sie selbst aber die Haltung von Impfverweigerern nicht akzeptieren könne. Ihr Vorgänger Wolfgang Huber versteht „die Impfbereitschaft als „klassischen Fall gelebter Liebe zu sich selbst, gelebter Liebe zum Nächsten und damit auch gelebter Liebe zu Gott“. „Lassen Sie sich impfen, um der Liebe Gottes und um der Menschen willen.“ – So hat Ilka Sobottke am 1. Mai 2021 ihr „Wort zum Sonntag“ beschlossen. Insgesamt gilt: Es ist in den meisten Gegenden Deutschlands kaum möglich, eine evangelische Kirche oder ein evangelisches Pfarrhaus zu besuchen, ohne mit dem plakatierten Motto „Impfen ist Nächstenliebe“ konfrontiert zu werden.

Es ist klar, dass angesichts des hier hergestellten direkten Zusammenhangs zwischen wahrhaft gelebtem Christentum und Impfbereitschaft die Impfskeptiker bestenfalls als Christen zweiter Klasse und schlimmstenfalls als Sünder zu stehen kommen. Deshalb können auch die in der rhetorischen Entgleisungsspirale des gesellschaftlichen Diskurses geäußerten Invektiven auf theologische Zustimmung rechnen. So hat der Erlanger Ethiker Peter Dabrock, bis 2020 Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, Frank Ulrich Montgomerys Rede von der „Tyrannei der Ungeimpften“ als in der Sache zutreffend bezeichnet. Die Formulierung sei zwar irgendwie suboptimal, aber die darin zum Ausdruck kommende Empörung könne als verständlich und nachvollziehbar gelten, weil sie „dem Geist einer konstitutiv sozialen Freiheit“ verpflichtet sei und sich gegen die Haltung eines „unsolidarischen Freiheitspathos“ wende.

Inwiefern signalisieren die zitierten Voten eine Demokratieunfähigkeit des Protestantismus im Sinne einer Neigung zur religiösen Überhöhung des Politischen? Meine Antwort lautet: Es wird religiös-theologische Eindeutigkeit im Blick auf die Lösung eines gesundheitspolitischen und insofern säkularen Problems behauptet.

Es gehört zum Geschäft der Politik, mittels einer dramatisierenden Rhetorik Kompetenz, Entschlossenheit und Tatkraft zu demonstrieren, auch (und vielleicht gerade) in Situationen größter Unsicherheit. Es gehört aber nicht zum geistlichen Auftrag der Kirche, konkrete aktuelle politische Optionen und Zielvorgaben direkt und ungefiltert in die eigene Agenda zu übernehmen. Kritische Solidarität impliziert immer auch ein gewisses Maß an Distanz zu politischen Orientierungen. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Orientierungen mit moralischem Druck propagiert und mit dem Gestus jener Alternativlosigkeit vorgetragen werden, die die Praxis „vielstimmiger Kontroverse und Auseinandersetzung“ unterdrückt, in der nach der Denkschrift von 1985 die Demokratie lebt.

Neigung zur Entdifferenzierung

Wie könnte beziehungsweise sollte die Kirche stattdessen agieren? Diese Frage kann hier nur sehr allgemein beantwortet werden. Zuallererst sollte die Kirche die Impfung als ein wichtiges Instrument der Pandemiebekämpfung würdigen, ohne sich auf die politisch-moralisch vorgegebene Unterscheidung der Menschen aufgrund ihres Impfstatus einzulassen. Und sie könnte sich dafür einsetzen, dass sich das kirchliche Handeln in den deutschen evangelischen Gemeinden in pandemiesensibler und rechtskonformer Weise am Sachgehalt der Losung für das Jahr 2022 orientieren kann: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ (Johannes 6,37b; eigentlich: „den werde ich nicht hinausstoßen“).

Vorerst ist nicht damit zu rechnen, dass im kirchlichen Corona-Diskurs andere Akzente gesetzt werden. Dies hat auch damit zu tun, dass die gegenwärtige Tendenz zur Sakralisierung der Impfung nichts völlig Neues ist. Die Ent-Säkularisierung des Politischen war bereits durch die sogenannte Öffentliche Theologie vorangetrieben worden, die zeitweise zu einer Art Leitideologie des kirchenamtlichen Protestantismus in Deutschland aufsteigen konnte. Allerdings hatte die Öffentliche Theologie, ungeachtet ihrer „berechenbare[n] Parteinahme für bestimmte politische Lager“ (Christian Albrecht/Reiner Anselm), immer auch eine politik-kritische Funktion beansprucht, greifbar in ihrer Betonung der prophetischen Dimension öffentlich-kirchlichen Redens. – Die aktuelle Impf-Frömmigkeit knüpft also an eine bereits vorher akute Tendenz an; durch die Ausscheidung allen Kritikpotentials gibt sie allerdings der für diese Tendenz typischen Neigung zur Entdifferenzierung noch weiter nach.

Wie stark die kirchliche Lebenswirklichkeit mancherorts impfpolitisch überfrachtet ist, wird an einem Foto vom 18. Dezember deutlich, das auf den Internetseiten einer Leipziger Kirchgemeinde zu finden ist. Im Hintergrund des in den Chorraum hinein fotografierten Bildes ist der Altar zu sehen, auf dem ein großes Kreuz steht; die Funktion des Altarbildes wird durch ein Glasfenster mit der Darstellung des auferstandenen Christus übernommen. Im Vordergrund befindet sich – mittig vor dem Altar stehend – ein auf einem flachen Holzsockel stehendes Taufbecken, das die Form eines Kelches hat. Rechts im Bild ist eine amboartige Kanzel zu erkennen. Zwischen Kanzel und Taufbecken sind vier FFP2-Masken tragende Menschen zu sehen. In deren Mitte sitzt ein (im Unterschied zu den drei Erwachsenen am Oberkörper nur spärlich bekleidetes) Kind auf einem Stuhl; es hält die Hand einer erwachsenen Person, wohl eines Elternteils. Vor und hinter dem Kind agieren ein Mann und eine Frau; durchgeführt wird hier eine COVID-19-Impfung.

Was sich an diesem Bild – wenn vielleicht auch unbeabsichtigt – zeigt, geht weit über moralinsaure Nächstenliebe-Rhetorik hinaus. Die Predigt sowie die Sakramente der Taufe und des Abendmahls bilden das Fundament des kirchlichen Protestantismus. Die Predigt ist durch die Kanzel, beide Sakramente sind durch das kelchförmige Taufbecken repräsentiert. Allerdings: Es wird weder gepredigt noch getauft. Das Eigentliche spielt sich vielmehr zwischen Taufbecken und Kanzel ab: die Spendung des „Impfsakraments“, also der Vollzug desjenigen Initiationsritus, der die Bekehrung zur heilbringenden Mehrheitsmeinung signalisiert und ins gelobte Land zu führen verspricht. – Mehr Impffrömmigkeit ist schwerlich denkbar.

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Rochus Leonhardt

Rochus Leonhardt, Jahrgang 1965, ist seit 2011 an der Theologischen Fakultät der Universität seiner Geburtsstadt Leipzig Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik.


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