Über den Tod spricht man nicht gerne. Und wo er uns real begegnet, stellt sich leicht ein Gefühl ein, das irgendwo zwischen Verunsicherung, Ohnmacht und Grauen angesiedelt ist. Oder es ist eine Mischung aus allem. Die Bilder, die das in der Corona-Zeit in mir am meisten wachgerufen haben, waren die Leichen, die in New York von Gabelstaplern in Kühllaster gehoben wurden, weil kein Platz in Kliniken oder Bestattungsinstituten mehr war. Tote kennen wir fast nur noch aus dem Fernsehen – am meisten aus Krimis. Bei einer Kinderuni-Vorlesung an der Universität Bamberg zum Thema „Ist Sterben wirklich so schlimm?“ habe ich vor Jahren einmal gefragt, wer schon einmal eine echte Leiche gesehen hat. Von den 150 Kindern meldeten sich nur zwei. Der eine hatte im Museum eine Moorleiche gesehen, die andere war ein Aussiedlerkind und hatte, noch in Kasachstan, ihren toten Opa gesehen.
Könnte es sein, dass uns gerade bei diesem Thema der Schatz der alten Texte der Bibel einen neuen Horizont eröffnen kann? „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!“ – heißt es in Psalm 90. Mein Lieblingskinderbild, das gerahmt neben meinem Schreibtisch hängt, hat zwei Bildhälften. Auf der Linken in kühlen Blautönen ein Bett mit einem Menschen drin. Und auf der Rechten ist ein Mensch zu sehen, der von hellem Licht umgeben ist. Einer meiner Söhne hat es gemalt, als sein geliebter Großonkel „Uncle Bob“ weit weg in den USA im Sterben lag. Vielleicht hatte ich ihm aus der Bibel vorgelesen. „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Johannes 8,12).
Es ist ein ungeheurer Reichtum von Bildern vom Leben nach dem Tod, der in der Bibel zu finden ist. Das Weizenkorn, das sterben muss, damit etwas Neues daraus wachsen kann (Johannes 12). Die neue Erde und der neue Himmel, in dem alle Tränen abgewischt sind und alles neu wird (Offenbarung 21). Die Auferstehung der Toten am jüngsten Tag (1. Thessalonicher 4). Es sind Bilder für etwas, was kein Mensch in seinem irdischen Leben sehen oder gar beweisen kann. Aber sich auf diese Bilder einzulassen, ist nicht weniger rational als zu glauben, dass wir nach dem irdischen Leben ins Nichts entgleiten.
Martin Luther hat den Übergang vom irdischen ins ewige Leben einmal mit der Erfahrung des Sekundenschlafs verglichen. Für einen Moment verschwimmt die Kategorie der Zeit. So – sagt Luther – ist es auch mit dem Leben nach dem Tod. Wenn die Toten am Jüngsten Tag von Christus auferweckt werden, dann wissen sie nicht, wie lange sie geschlafen haben: „Sobald die Augen sich schließen, wirst du auferweckt werden. Tausend Jahre werden sein gleich als du ein halbes Stündlein geschlafen hast. Gleich wie wir nachts … nicht wissen, wie lange wir geschlafen haben, so sind noch vielmehr im Tod tausend Jahre schnell weg. Ehe sich einer umsieht, ist er schon ein schöner Engel.“
Uncle Bob hat das per Eilpost in die USA geschickte Bild seines Großneffen übrigens noch zu sehen bekommen. Kurz danach ist er friedlich eingeschlafen.
Heinrich Bedford-Strohm
Heinrich Bedford-Strohm ist Landesbischof in München, EKD-Ratsvorsitzender und Herausgeber von zeitzeichen.