Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Wandel, Ständiger Mitarbeiter der "zeitzeichen".
Kritik der Elche
4. Sonntag nach Trinitatis,14. Juli
Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? (Lukas 6,41)
Vier Verse vorher steht Jesu Warnung, Mitmenschen zu richten. „Die Warnung vor dem Richten über andere hat in der Ethik Jesu einen zentralen Platz“, stellt der römisch-katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff in seinem Buch Die Bergpredigt fest. Aber ist ein Verzicht auf das Richten, auf Urteile realistisch? Lässt er sich im privaten und im öffentlichen Bereich des Lebens umsetzen?
Wir verurteilen Menschen, die einem Mitmenschen Böses zugefügt haben, moralisch. Und wenn er dabei auch Gesetze übertreten hat, urteilt ein Gericht. Geschähe das nicht, wären bei Nacht alle Katzen grau, würde der Rechtsstaat abdanken, würde der Täter über das Opfer triumphieren.
Richten, urteilen ist also notwendig und sinnvoll. Aber es hat auch eine problematische Seite. Daran erinnert die Warnung Jesu, über dem Splitter im Auge des Mitmenschen den Balken im eigenen zu übersehen. Und dabei geht es nicht nur um Heuchelei. „Die Kritiker der Elche waren selber welche“, hat der im vergangenen Jahr gestorbene Satiriker F.W. Bernstein geschrieben. Ja, Urteile über andere fallen oft dann besonders hart, ja brutal aus, wenn sie Dinge tun, die wir auch gerne tun würden. Oder wenn (Un-)
Taten uns faszinieren und wir darüber erschrecken und uns schämen.
Wer die erwähnten Worte Jesu bedenkt, kann Selbsterkenntnis erlangen. Er kann und wird auf das Richten nicht ganz verzichten. Aber Urteile über Mitmenschen werden vielleicht nicht mehr so schnell gefällt. Und sie fallen nicht so absolut aus. Denn im Unterschied zu Gottes Urteil steht das von Menschen immer in der Gefahr, ungenau oder gar falsch zu sein.
Chance und Gefahr
5. Sonntag nach Trinitatis, 21. Juli
Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, auch keine Tasche für den Weg, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken. (Matthäus 10,9–10)
Der Papst und andere römisch-katholische Bischöfe begründen die Ablehnung, Frauen zum Pfarr- und Bischofs-amt zuzulassen, damit, dass Jesus nur Männer zu Aposteln berufen habe. Und deren Nachfolger seien die Prälaten, die sich dem Bischof von Rom unterordnen. Kritiker weisen süffisant darauf hin, dass die Männer, die Jesus berief, Juden waren. Und das trifft auf römisch-katholische Geistliche nicht zu.
Außerdem könnte man auf die karge Ausstattung hinweisen, die Jesus den Berufenen verordnet (siehe oben). Man muss nicht an das luxuriöse Badezimmer des ehemaligen Bischofs von Limburg erinnern, um den Unterschied zwischen den Aposteln und denen zu erkennen, die behaupten, ihre Nachfolger zu sein. Aber die Zeiten haben sich nun einmal geändert, auch die Gesellschaft, in der Bischöfe wirken. Wenn sie viel unterwegs sind und während der Fahrt arbeiten müssen, ist zum Beispiel ein größerer Dienstwagen angemessen. Sicherer Arbeitsplatz, Dienstwohnung, beamtenähnliche Besoldung kirchlicher Amtsträger und der Wohlstand vieler Kirchenmitglieder (die ja ebenfalls zur Nachfolge Jesu berufen sind), haben wie jeder Besitz ein Doppelgesicht. Er macht frei und unfrei. Wer sich nicht mehr um das irdische Brot sorgen muss, kann sich um das himmlische Brot kümmern und es weitergeben. Andererseits besteht die Gefahr, dass man sich an die Gesellschaft und Wirtschaftsordnung bindet, die den Wohlstand ermöglicht. Und woran Du dein Herz hängst, das ist dein Gott, hat Martin Luther scharfsinnig bemerkt.
Hoher Anspruch
6. Sonntag nach Trinitatis, 28. Juli
Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, ein königliches Priestertum…, dass ihr verkünden sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht. (1. Petrus 2,9)
Zwischen den Aussagen „wir sind erwählt“ und „ihr seid erwählt“ besteht nicht nur grammatisch ein Unterschied, der zwischen erster und zweiter Person Plural. Würden Christen sagen, „wir sind erwählt“, klänge das nicht nur für kirchenferne Zeitgenossen anmaßend, überheblich, als seien Christen besser als die Anhänger anderer Religionen und Weltanschauungen.
Einem Erwählungsglauben steht man heute zu Recht kritisch gegenüber. Denn zu viel Unheil hat er in der Geschichte angerichtet. So hat er die Kolonisierung Afrikas gerechtfertigt, Antisemitismus und andere Spielarten des Rassismus, die schließlich in Faschismus und Nazismus kulminierten.
Im Ersten Petrusbrief behaupten die Getauften aber nicht selber, dass sie auserwählt sind, sondern es wird ihnen zugesprochen. Und der Zuspruch wird mit einem Anspruch verbunden.
Wenn Priester oder Pfarrer ordiniert werden, müssen sie ein Versprechen ablegen, das ein Leben lang gilt. Und das wird in Kirchen, die katholische Traditionen pflegen, dadurch sichtbar, dass die Geistlichen eine Stola bekommen. Sie symbolisiert das Joch Christi.
Nach evangelischem Verständnis erfolgt die eigentliche Priesterweihe schon in und mit der Taufe. Und auch sie ist mit einer lebenslangen Verpflichtung verbunden. Daran erinnert der Erste Petrusbrief. Das zweite Kapitel fordert schon im ersten Vers die Getauften auf, Bosheit, Betrug, Heuchelei, Neid und üble Nachrede abzulegen. Es wäre schön, dies würde in Familie, Schule, Kirche, Wirtschaft und Politik beherzigt.
Der Erste Petrusbrief beschränkt sich aber nicht auf einen moralischen Appell. Er erinnert vielmehr daran, dass Gott die Getauften „berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht“. Und sie sollen das in allen Bereichen ihres Lebens zeigen, durch Wort und Tat. Wie das geschehen kann, steht nicht ein für alle Mal fest, sondern hängt von der jeweiligen Situation ab. Das wird von denen, die die Bibel unhistorisch auslegen, oft übersehen.
Die Lage der christlichen Gemeinden Kleinasiens, an die sich der Erste Petrusbrief wendet, ist anders, als die der Volkskirchen im Europa des 21. Jahrhunderts. Aber für beide gilt der Grundsatz: Die Erwählung der Getauften ist nicht mit Privilegien verbunden, sondern mit Pflichten.
Großes Geheimnis
7. Sonntag nach Trinitatis, 4. August
Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Johannes 6,35)
Menschen sehnen sich nach einem erfüllten Leben. Und das möchten manche Zeitgenossen erreichen, indem sie ihr Leben und das ihrer Kinder optimieren. Erreicht werden soll das durch bewusste Ernährung, Besuch von Fitnessstudios, Meditation, Stilberatung und Schulungen (coaching) für Bewerbungen und den Auftritt in der Öffentlichkeit.
Sicher ist es gut und sinnvoll, wenn Menschen ihr Leben in die eigene Hand nehmen, statt dies anderen zu überlassen. Aber das Angebot des christlichen Glaubens für ein erfülltes Leben unterscheidet sich markant von dem, was auf dem Markt der Sinnstifter oft zu finden ist. Jesus, genauer: was die Schriften des Neuen Testamentes von ihm erzählen, durchbricht das Kreisen des Menschen um sich, das manche Spielarten von Spiritualität noch verstärken. Jesus lenkt den Blick auf Gott und den Mitmenschen und erweist sich so als Brot des Lebens. Und das wird im Abendmahl anschaulich und erfahrbar. Menschen, die verschieden sind und sich mitunter angiften, essen von einem Brot und trinken aus einem Kelch.
So stiftet Jesus eine neue Gemeinschaft. Sie verbindet diejenigen, die um den Altar stehen, miteinander und mit Christen auf der ganzen Welt. Der Gemeinschaftscharakter des Abendmahls ist auch in evangelischen Kirchen lange unterbelichtet worden. Unter dem Einfluss des Feierabendmahls beim Kirchentag ist dieses Defizit angegangen worden. Aber die individuelle, ganz persönliche Seite des Abendmahls darf dabei nicht ausgeblendet werden. Das Sakrament kann den Einzelnen stärken und ihm Zuversicht vermitteln. Theologen aller Konfessionen betonen, dass Jesus im Abendmahl anwesend ist, sich hier in besonderer Weise als Brot des Lebens erweist. Theologen haben versucht, das Wie mit Hilfe der Philosophie zu erklären. Auch (Religions-) Psychologen können die aufbauende Wirkung des Sakramentes erhellen. Aber letztlich bleibt sie ein Geheimnis.
Erste Schritte
8. Sonntag nach Trinitatis, 11. August
Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln…Und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des Herrn! (Jesaja 2,4–5)
Einer meiner Urgroßväter, von dem meine Mutter viel erzählt hat, wurde 1847 geboren und starb 1938. Er hat also drei Kriege erlebt: 1866 kämpften seine sächsischen Landsleute mit Österreich gegen Preußen, 1870–71 mit Preußen gegen Frankreich und 1914 bis 1918 im Ersten Weltkrieg. Und hätte er ein Jahr länger gelebt, hätte er auch noch den Beginn des Zweiten Weltkrieges erlebt.
Die meisten Kirchenleute verstanden Kriege als Teil der „gefallenen Schöpfung“, nahmen sie hin wie Krankheiten und Naturkatastrophen. Und sie konnten darauf verweisen, dass Jesajas Friedensvision nur die „letzte Zeit“ beschreibt. Übersehen wurde dabei aber die Aufforderung Jesajas, „im Licht des Herrn“ zu wandeln. Und das heißt, dass sich Juden und Christen bei der Gestaltung der Welt an der Friedensvision des Jesaja orientieren sollen.
Wer die Überwindung des Krieges für unmöglich hält, sei an das erinnert, was schon möglich geworden ist: Konflikte zwischen dem Freistaat Sachsen und den Bundesländern, die einmal preußische Provinzen waren, werden heute nicht mehr auf dem Schlachtfeld ausgetragen, sondern im Bundesrat oder vor dem Bundesverfassungsgericht.
Jürgen Wandel
Jürgen Wandel ist Pfarrer, Journalist und ständiger Mitarbeiter der "zeitzeichen".