Großer Bachsommer

Festivalperspektiven aus Leipzig, Nürnberg, Appenzell und Köthen
Lachender Jesus-Darsteller im weißen Gewand mit Kreuz in der Hand.
Foto: Marco Borggreve
Faszinierend und umstritten: „Apocalypse“, eine konstruierte Oper von J. S. Bach beim Leipziger Bachfest 2024. In der Hauptrolle Florian Sievers (Tenor).

In jedem Jahr finden über die Sommer­monate viele Festivals statt, die sich in verschiedener kreativer Weise der Musik Johann Sebastian Bachs widmen. zeitzeichen-Chef­redakteur Reinhard Mawick konnte in den vergangenen Monaten bei vieren zumindest zeitweise dabei sein.

Es herrscht Unruhe auf den Fluren der Leipziger Oper. Gruppen von Menschen stehen zusammen. Die einen schütteln den Kopf und zischen: „So etwas! Das geht doch nicht.“ Andere hingegen rätseln: „Mensch, aus welcher Kantate oder welchem Oratorium war denn das da kurz vor Schluss?“ Es ist Pause bei der Leipziger Premiere der einzigen Oper, die es von Johann Sebastian Bach gibt. Also, die einzige, die es bisher gibt. Denn Johann Sebastian hat – zum Leidwesen vieler – eben keine Oper geschrieben. Anders als seine Zeitgenossen Händel und Telemann.

Gemischtes Echo

Aber in diesem Sommer feierte beim Leipziger Bachfest „Die Apocalypse“ Premiere – die Oper, die Bach zwar „nie geschrieben hat“, wie es in der Ankündigung hieß, aber die voll ist mit seiner Musik. Sie ist das Werk von Regisseur Serge van Weggel, dem Librettisten Thomas Höft und dem Barockspezialisten und Komponisten Panos Iliopoulos, die eine dramatische Opernhandlung über die Schreckensherrschaft der Wiedertäufer in Münster im 16. Jahrhundert konzipiert haben – unter Verwendung Bachscher Originalmusik und die Teile verbindender Neukompositionen von Iliopoulos. Das Echo am Premierenabend ist: gemischt. Aber über die genaue Herkunft der Bachschen Klangquellen muss man dann doch nicht diskutieren, denn im Programmheft steht weiter hinten alles genau aufgelistet.

„Die Apocalypse“ hatte bereits vor zwei Jahren in den Niederlanden ihre Premiere, und was immer man davon halten mag: Es dokumentiert, dass Johann Sebastian Bach und sein Werk weiterleben. Und zwar nicht nur darin, dass über die ganze Welt Menschen Bachs Werke musizieren und sich immer wieder aneignen. Sondern dass sein Werk ein Weltkulturerbe ist, das nicht im Status ehrwürdiger Musealität verharrt, sondern immer wieder Neuschöpfungen und Neuprägungen hervorbringt (der Autor dieser Zeilen fand die „Bach-Oper“ sehr anregend und würde das Werk gerne noch einmal erleben!). Die Leipziger Apocalypse war dafür ein spektakuläres Beispiel, an dem sich die Geister schieden, denn einige hatten und haben bei der Umdeutung geistlicher Musik Bachs zum Beispiel aus den Kantaten, den Passionen oder der h-Moll-Messe Bauchschmerzen. Hätte Bach so etwas jemals gemacht? Wahrscheinlich nicht. Erstens hätte ihm das Sujet der Wiedertäufer im 16. Jahrhundert ferngelegen, und zweitens war es zu seiner Zeit nur üblich, weltliche Musik im so genannten Parodieverfahren zu geistlicher Musik zu veredeln.

Anders schöpferisch als in Leipzig ging es einige hundert Kilometer südlich und gut zwei Monate später bei den Appenzeller Bachfesttagen zu: Dort schuf der Dirigent und Komponist Rudolf Lutz zusammen mit seinem Librettisten, dem Germanisten und renommierten Musikwissenschaftler Anselm Hartinger, eine neue Kantate, die den Titel „Unsere Väter hofften auf dich“ trägt. Das Objekt ihrer dichtenden und komponierenden Taten war die Bachkantate BWV 207 „Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten“, die Bach 1726 komponierte, um die Ernennung eines gewissen Gottlieb Kortte als Juraprofessor in Leipzig zu feiern – eine festliche, prachtvolle Musik mit Hörnerklang.

Die Musik dieser Kantate hat Bach dann neun Jahre später mit komplett geändertem Text für eine Huldigungsmusik anlässlich des Namenstages von Kurfürst Friedrich August III. von Sachsen am 3. August 1735 in großen Teilen wiederverwendet. Und Ende August desselben Jahres 1735 gab es anlässlich des jährlichen Ratswechsels auch eine festliche Musik – leider weiß man wie so oft bei Bach nur das „dass“, aber nicht das „was“, denn die Ratsmusiken sind nur sehr lückenhaft überliefert, und die Quellenlage ist bescheiden. Aber was läge näher, als dass Bach und sein Dichter wenige Wochen nach dem „Event“ des Namenstages diese prächtige Musik verwendet und, textlich „umgeswitcht“, erneut benutzt haben könnten?

Genialischer Organist

Dieser Hypothese hatten sich Lutz und Hartinger lustvoll bemächtigt und pünktlich zu den Appenzeller Bachtagen in diesem Jahr eine Parodie der Kantate BWV 207, respektive BWV 207a, vorgelegt. Arien und Chöre wurden einfach neu textiert und die Rezitative neu komponiert, zudem ein neuer Eingangschor, den Rudolf Lutz bewusst im barocken Stile gehalten und hierfür das Material aus einem Satz aus dem 1. Brandenburgischen Konzert verwendet hat. Das Werk der beiden Künstler, die sich augenzwinkernd zu diesem Behufe in „Johann Anselm Clauder“ (Hartinger) und „Johann Rudolf von Lutzenbach“ (Lutz) umbenannt hatten, wurde dann zum Abschluss der Appenzeller Bachtage in einem Festgottesdienst in der Evangelisch-reformierten Kirche in Teufen bei St. Gallen aufgeführt. Fazit dieses Versuchs aus dieser heiteren Bachwerkstatt: Die ambitionierte Kantate könnte durchaus ein Anfang sein, dass unter Wiederaufnahme des barocken Parodieverfahrens Bachs Kantaten mit neuem Text in ganz neuer Weise für den „musikalischen Alltag“ unserer Zeit erneut attraktiv werden. Material gäbe es ja genug ...

Es war die Botschaft dieses Bachsommers: Bachs Material lässt sich weiterdenken, es lässt sich damit weiterarbeiten, es regt die Kreativen an. Zum Beispiel Daniel Johannsen: Drei Tage nach der Leipziger Opernpremiere präsentierte der international renommierte Tenor ebenfalls im Rahmen des Leipziger Bachfestes seine „Winterreise von Wien nach Leipzig“. Damit führte der Sänger „die beiden Seiten meiner Medaille“ zusammen, wie er es ausdrückte, denn er ist besonders für seine Bacharien- und seine Schubertlied-Interpretationen bekannt. So reihte er Lieder der „Winterreise“ und ausgewählte Arien Bachs hintereinander, und es entstand ein berückender Dialog zweier musikalischer Welten. Besonders reizvoll war, dass sich Johannsen mit dem Atalante Quartett zusammengetan hatte, deren Bratscher Thomas Koslowsky eine Streicherbearbeitung der Winterreise erstellt hatte, die Johannsen bereits vor einigen Jahren aufführte. Nun wurde sie ergänzt durch existenziell aufrüttelnde Bacharien, deren hoffnungsvolle geistliche Texte mit den eher düsteren der Winterreise in ein bestechendes Zwiegespräch traten. Bach behielt das letzte Wort in Gestalt der großartigen Tenorarie „Bleibt ihr Engel, bleibt bei mir“ aus Bachs Michaeliskantate „Es erhub sich ein Streit“ (BWV 19). Ein berückende musikalischer Pas de Deux, der unbedingt einer Fortsetzung harrt, zumal alles, was Vokalkünstler Johannsen anfasst, zu Gold zu werden scheint.

Die Orgel donnert um die Mittagszeit aus drei Richtungen. Das heißt, wir sind in Nürnberg, wo wie jedes Jahr im Juli die Internationale Orgelwoche Nürnberg – kurz ION stattfindet. Seit einigen Jahren sorgt dort Intendant Moritz Puschke für Furore, der das Festival in einzigartiger Weise in der Stadtgesellschaft verankert hat.

Bei der traditionsreichen IONsteht Bach nicht unbedingt im Mittelpunkt, aber bei den mittäglichen Orgelkonzerten in St. Lorenz ist er meist vertreten, wie zum Beispiel beim Auftritt des genialischen jungen Berliner Organisten Sebastian Heindl, der nicht nur Bachpräludien durch die Weite der ehrwürdigen Lorenzkirche donnerte, sondern auch noch die eigens komponierte Rock-Toccata hinterherschickte. In Nürnberg bei der ION zeigt sich ein großes Spektrum, so auch BAP-Barde Wolfgang Niedecken mit zwei ausverkauften Abenden, an denen er seinem großen Vorbild Bob Dylan huldigte. Kult!

Aufregend aber auch die scheinbar „klassischen“ Dinge: Zehn exzellente Sängerinnen und Sänger des Ensemble Polyharmonique stehen vor dem ebenso exzellenten Barockorchester aus dem polnischen Breslau und interpretieren Bachs h-Moll-Messe. Der Unterschied zwischen Tutti und Soli verschwimmt wohltuend, ein wunderbarer Fluss entsteht – atemlose Stille in den Weiten der ehrwürdigen Lorenzkirche, was für ein Abend! Und tags darauf gibt sich nebenan in St. Sebaldus, der anderen großen mittelalterlichen Nürnberger Kathedrale, Altmeister Frieder Bernius mit seinem weltberühmten Kammerchor Stuttgart die Ehre und zelebriert das Deutsche Requiem von Johannes Brahms, wie man es sich schöner und stimmiger kaum vorstellen kann.

Auch die kleinen Städte sollte der Festivalreisende im Sommer nicht vergessen, so zum Beispiel Köthen in Sachsen-Anhalt: Hier verlebte einst Johann Sebastian von 1717 bis 1723 als Kapellmeister des Fürsten Leopold seine schönsten Berufsjahre. Und in allen geraden Jahren, also 2026 dann wieder, finden dort die Köthener Bachfesttage statt: klein, aber sehr fein und mit vielen innovativen Konzertformaten in wunderbaren Räumen. Zum Auftakt gab es etwas ganz Besonderes: Die Geigerin Midori Seiler präsentierte mit zwei Tänzern drei Sonaten für Violine solo. Eine bezaubernde, fesselnde Darbietung, in der beide Tänzer die ständig und in allen Haltungen spielende Interpretin in ihre etwa einstündige Performance einbezogen.

In Köthen sind die Wege kurz und die Konzerte auch, manchmal dauern sie nur zwanzig Minuten. So feierte in diesem Jahr der isländische Startenor und weltberühmte Bachinterpret Benedikt Kristjánsson sein Debüt in Singer-Songwriter-Pose, als er unter anderem John Dowlands „Flow my tears“ und Eric Claptons „Tears in Heaven“ kombinierte. Sensationell! Für den Interpreten kein Wunder, schließlich, so sagte er, machten beide dasselbe, nur „400 Jahre nacheinander“. Wie auch immer: Sollte Kristjánsson mal die Lust auf Bach verlieren, was Gott verhüten möge, so wäre er auch im „Singer-Songwriter“-Fach bestens aufgehoben – wobei in Köthen klar wurde: Beides schließt sich keineswegs aus. 

 

Ausführliche Berichte auf zz.net
Bachfest Leipzig:
www.zeitzeichen.net/node/11205

Appenzeller Bachtage:
www.zeitzeichen.net/node/11357
www.zeitzeichen.net/node/11356

Köthener Bachfesttage:
www.zeitzeichen.net/node/11360
www.zeitzeichen.net/node/11363

 

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