„Schöne Welt, wo bist du?“

Religiöse Suchbewegungen in den Romanen der irischen Schriftstellerin Sally Rooney
Auf der Suche nach gelingenden Sozialbeziehungen in ihren Romanen: Sally Rooney.
Foto: Kalpesh Lathigra
Auf der Suche nach gelingenden Sozialbeziehungen in ihren Romanen: Sally Rooney.

In diesen Tagen erscheint Intermezzo, der neueste Roman der Schriftstellerin Sally Rooney. Wer Rooney liest, vermag auch in der komplexen Gegenwart der Moderne noch „eines Gottes Spur“ zu erblicken, weiß der evangelische Theologe Karl Tetzlaff, der sich mit der Romanwelt der Irin beschäftigt hat.

Im Titel ihres dritten Romans zitiert Sally Rooney ein Gedicht von Friedrich Schiller. „Schöne Welt, wo bist du?“, lautet der Vers, den sich die irische Autorin aus „Die Götter Griechenlands“ für das gleichnamige Buch geborgt hat. Schillers Gedicht von 1788 wirft einen wehmütigen Rückblick auf die griechische Antike. Damals sei die Welt noch mythisch durchformt und „alles eines Gottes Spur“ gewesen. Heute hingegen zeige „keine Gottheit sich meinem Blick“. Allenfalls in der Poesie könne noch eine „goldene Spur“ dessen, was „ohne Wiederkehr verloren“ ist, lebendig werden.

Dieses (nicht nur) bei Schiller um 1800 laut gewordene Verlustempfinden gilt einer göttlich begründeten Ordnung, die mit der seinerzeit andrängenden Moderne für immer brüchig geworden ist. Man will sie nicht eins zu eins zurück, aber ohne ihre einheitsstiftende Kraft fehlt es doch irgendwie an Sinn und Orientierung – so lässt sich ein seither umlaufendes Selbstverständnis beschreiben. Demgemäß unterstreicht auch Sally Rooney (* 1991) im Rahmen eines Zeitungsinterviews die befreiende Wirkung des Machtverlusts kirchlicher Institutionen und verweist zugleich darauf, dass die so entstandene Leerstelle nur schwer zu füllen sei. „Wie“, das fragt sie dort etwa, „trösten sich Menschen in Phasen ungeheuren Leidens“, wenn sie von den religiösen Sinnquellen abgeschnitten sind? Der Kapitalismus habe darauf keine Antwort und die Lektüre von Karl Marx, so fügt die kommunistischen Ideen nicht abgeneigte Autorin hinzu, könne ebenfalls keinen existenziellen Trost spenden. Rooneys Figuren suchen denn auch nach tiefergehenden Sinnper­spektiven, worin sich die religiöse Signatur ihrer Romane zeigt.

Francis zum Beispiel, die Protagonistin von Rooneys Debütroman Conversations with friends (2017), verschlägt es gegen Ende des Buches in eine Kirche. „Ich war seit meiner Kindheit nicht mehr in einer Kirche gewesen“, stellt die Anfang Zwanzigjährige fest, die „als Kind Religion gehasst“ hat. Was sie dennoch wieder in eine Kirche führt, ist eine sich im Laufe der Erzählung stetig verschärfende Krisenlage: eine schließlich enttarnte Liebesaffäre mit einem verheirateten Mann, zerbrechende Freundschaften und eine plötzliche Erkrankung lassen Francis das altehrwürdige Gebäude in der Dubliner Thomas Street aufsuchen.

Beten zu Gott

„Ich sitze tatsächlich hier und bete zu Gott, damit er mir hilft“, geht es ihr dort leicht verwundert durch den Kopf. „Ich wusste“, heißt es, „dass man ein göttliches Ordnungsprinzip glauben musste, bevor man um etwas bitten konnte und ich glaubte nicht.“ Trotz des ihr fehlenden Glaubens überkommt Francis in der konzentrierten Atmosphäre des sakralen Raums aber etwas, das sie eine „spirituelle Erweckungserfahrung“ nennt. Auf einmal leuchtet ihr ein, dass sie in ihrem Schmerz nicht allein, sondern mit allen anderen verknüpft ist, dass zwischen den Menschen eigentlich eine unsichtbare Verbundenheit herrscht. „Ein fast friedliches Gefühl“ befällt sie angesichts dieser Einsicht und sie fragt sich, „ob Gott schließlich doch etwas damit zu tun hatte. Nicht, dass Gott auf irgendeine materielle Weise existierte, aber als eine gemeinschaftliche kulturelle Praxis, die so weit verbreitet war, dass sie materiell erschien“. Als Idealtypus einer solchen zwischenmenschlichen Praxis, in der Gott sich zu materialisieren scheint, kommt das Handeln Jesu an einigen Stellen des Romans zu stehen. Mehrfach fällt Francis nämlich darin die Bibel ihrer Mutter in die Hände. „Meine Lieblingsstelle in den Evangelien“, heißt es einmal, „war bei Matthäus, als Jesus sagte: Liebet eure Feinde“. Analog dazu spricht Rooney im Interview von einer „Philosophie der radikalen Selbstaufopferung und der radikalen Liebe für andere“, die dem Christentum eigen und im Blick auf die sie aller religionskritischen Skepsis zum Trotz ein „fan of Jesus“ sei.

So erstrebenswert sich die von Francis gelobte vorbehaltlose Hingabe Jesu an alle Menschen aber auch darstellt, sie ist schon im Kleinen nicht leicht zu praktizieren. Rooneys Romane sind von Figuren bevölkert, die sich nichts sehnlicher wünschen als eine erfüllende Liebesbeziehung, der sie sich ohne Zweifel hingeben können – und die genau daran immer wieder scheitern.

In Normal people (2018) sind das Marianne und Connell. Sie finden am Ende der Schulzeit zusammen, halten ihre Beziehung aber auf Connells Wunsch hin geheim, weil Marianne im schulischen Kontext als sonderbare Außenseiterin gilt. Es folgen die Trennung und ein überraschendes Wiedersehen an der Universität. Auch dort geht das Versteckspiel weiter. Anstatt eine klare Entscheidung füreinander zu treffen, wechselt ihr Verhältnis zwischen Nähe und Distanz hin und her. Zu groß ist die Angst, den jeweils anderen zu sehr unter Druck zu setzen, sich zu abhängig zu machen oder vor der Öffentlichkeit ein schlechtes Bild abzugeben.

Bleibende Distanz

Connell etwa kann sich nicht dazu überwinden, Marianne zu fragen, ob er vorübergehend bei ihr einziehen darf. „Er wusste, sie würde ja sagen. Er dachte, sie würde ja sagen, er konnte sich nur schwer vorstellen, dass sie nicht ja sagte. Aber er schob dieses Gespräch immer weiter auf, plante, es ihr gegenüber zu erwähnen, und schaffte es in letzter Sekunde doch nicht.“ Als ihm einmal eine ausdrückliche Liebesbekundung über die Lippen geht, bekommt er es später mit der Angst zu tun. Es war so, heißt es da, „als würde er sich selbst auf einer Überwachungskamera dabei zusehen, wie er ein schreckliches Verbrechen beging“.

Im Kontrast zu solchen Passagen, die die bleibende Distanz zwischen den Figuren unterstreichen, stehen Situationen einer starken Nähe. Auf eine Liebesbekundung Connells reagiert Marianne mit „Tränen, und sie schließt die Augen. Sie hat nie geglaubt, dass irgendjemand sie lieben könnte. Aber nun hat sie ein neues Leben, und dies ist der erste Moment, und selbst nach vielen Jahren wird sie immer noch denken: Ja, das war er, der Beginn meines Lebens.“

Wie eine Wiedergeburt wirkt sich die Erfahrung, geliebt zu werden, auf Marianne aus und auch Connell muss in ihrer Gegenwart endlich nicht mehr „die Seiten an sich verbergen, die er beschämend und störend“ findet. Beide schenken einander das Gefühl, wertvoll zu sein, indem sie sich dem jeweils anderen hingeben. Doch dies gelingt eben nicht auf Dauer, sondern beschränkt sich auf Situationen intimen Beieinanderseins. Der unbedingte Liebeswunsch steht im Konflikt mit einem gleichzeitigen Bedürfnis nach Unabhängigkeit und mit einer „Selbstunsicherheit“ (Eva Illouz), die aus dem Verlust eindeutiger Verhaltensmaßstäbe resultiert. Ständig sind Marianne und Connell stillschweigend damit beschäftigt, die (vermuteten) Reaktionen des jeweiligen Gegenübers richtig zu deuten, um ihr Verhalten entsprechend anzupassen.

Rooneys Normal people lassen sich auch als literarischer Kommentar zur soziologischen Analyse moderner Liebesbeziehungen lesen, die Eva Illouz vorgelegt hat. Nach Illouz’ Diagnose wird im Zuge der Moderne das ursprünglich aus der christlichen Tradition stammende Ideal einer hingebungsvollen Liebe zunehmend entzaubert, weil sich „die Fähigkeit, Selbstaufgabe und Ekstase zu erfahren“, mehr und mehr abschwäche. Nichtsdestotrotz generiere das problematisch gewordene „Bild der Liebe als einer totalen Erfahrung“ nach wie vor starke Sehnsüchte. Sie spiegeln sich bei Rooney deutlich, inklusive ihres religiösen Hintergrunds. „Ich bin wirklich nicht religiös“, sagt Connell zwar einmal zu Marianne, „aber manchmal denke ich“, so fügt er gleichwohl hinzu, „dass Gott dich für mich erschaffen hat.“

Die Leere füllen

Beautiful world, where are you? (2021) heißt Rooneys dritter Roman. Die sentimentale Frage aus Schillers Gedicht gilt einer (imaginierten) Vergangenheit, in der man noch selbstverständlich Teil eines göttlich begründeten Ganzen war. Auch Rooneys Figuren sehnen sich nach einer „schönen Welt“, die sie jene erfüllende Liebe und Verbundenheit auf Dauer finden ließe. In Beautiful world, where are you? wird die Frage, wie man „die Leere füllen“ könne, „die die Religion hinterlassen hat“, sogar ausdrücklich gestellt. Alice, eine erfolgreiche Schriftstellerin, die mit ihrem Erfolg hadert, äußert den Eindruck, dass der Star-Kult genau einen solchen Religionsersatz bieten soll. Allerdings entdeckt sie darin vor allem den Versuch, sich eine zwischenmenschliche Nähe vorzugaukeln, die eigentlich gar nicht real ist. Nach wirklicher Nähe und moralischer Aufrichtigkeit verlangt es hingegen Alice und Eileen, deren Freundschaft – neben ihren Beziehungen zu verschiedenen Männern – im Zentrum des Romans steht. Immer wieder wird das Handlungsgeschehen von ihrem E-Mail-Austausch durchbrochen, der oftmals die Gottesthematik streift.

Auch wenn beide „die Überzeugung nicht abschütteln können“, dass ihre „aufrichtigsten Gefühle sich auf chemische Reaktionen reduzieren lassen und dass kein objektives Moralgesetz das Universum strukturiert“, sehen sie sich doch genötigt, nach einem „Mehr“ zu fragen. „Dass eine Erfahrung von Schönheit ernst zu nehmen ist“ und es nicht bloß beliebigen Setzungen folgt, was man als richtig oder falsch empfindet, legt es aus Alices Sicht durchaus nahe, „an eine absolute Moral zu glauben, also an Gott“. Nur kann sie sich zu diesem Glauben nicht überwinden, sondern bleibt in einer Art „philosophischem Niemandsland“ befangen.

Radikale Hinwendung

Eileen berichtet der Freundin an anderer Stelle von ihrer Begeisterung für Jesus, den sie in seiner radikalen Hinwendung an andere als Verkörperung von „so etwas wie moralischer Schönheit“ ansieht. Kehrseite dieser an Liebe grenzenden Begeisterung aber ist, dass ihr die eigene Existenz völlig trivial vorkommt, wenn sie sich mit Jesus vergleicht. „In der Öffentlichkeit rede ich immer über Care-Ethik und den Wert der menschlichen Gemeinschaft“, sagt Eileen, „aber in Wirklichkeit übernehme ich in meinem Leben keinerlei Fürsorgepflichten, außer für mich selbst.“ Die Zuneigung, die sie für die jesuanische Hingabe an andere verspürt, enthält zugleich eine Sehnsucht nach wahrer Verbundenheit. Doch hat es dieser Wunsch in Zeiten eines gesteigerten Unabhängigkeitsverlangens nicht leicht, wie Eileen beobachtet: „Als wir niederrissen, was uns einengte“, fragt sie etwa im Blick auf die Ehe, „womit planten wir, es zu ersetzen? […] Was haben wir jetzt? Stattdessen? Nichts.“

Dass Eileens resignative Feststellung aber nicht das letzte Wort behält, zeigt insbesondere eine Stelle des Romans, an der die beiden Freundinnen sich nach längerer Zeit auf einem Bahnhof wiedertreffen. Während einer „intensiven Umarmung“, so heißt es dort, „nahmen sie für den Moment etwas Tieferes, etwas unter der Oberfläche des Lebens Schlummerndes wahr, nichts Irreales, sondern eine verborgene Realität: die immerwährende, allgegenwärtige Präsenz einer schönen Welt“.

Es gibt für Rooneys verunsicherte Figuren eben auch Momente, in denen sich eine Verbindung zu jenem tragenden Ganzen, zu jener ermangelten Einheit, zum Göttlichen bei ihnen herstellt. Sie ereignen sich zumeist im Kontext gelingender Sozialbeziehungen. Auch in ihrem neuesten Roman Intermezzo (2024) ist das so. Ivan und Peter, zwei ungleiche Brüder, sind die Protagonisten der Geschichte, in der von ihrer Beziehung zueinander und zu verschiedenen Frauen erzählt wird. Der eigenbrötlerische Ivan lernt Margaret kennen, mit der er erstmals die „Erfahrung gegenseitigen Verlangens“ macht: „Zu spüren, wie ihrer beider Gedanken einander durchdringen, sie anzusehen und tatsächlich ohne Worte zu wissen, was sie fühlt und was sie möchte“. Vom „Wunder“, das schon darin liegt, „auch nur einen Moment auf diese Weise in vollkommener Gemeinsamkeit auf Gottes Erdboden zu existieren“, ist aus Margarets Perspektive die Rede. Beide erleben in gewisser Weise darin auch eine Heilung vom Schmerz, zu dem ihr Beziehungsleben bislang geführt hat. „Alles Unglück“, heißt es über sie, ist „für einen Moment aufgelöst in dem Gefühl, der geteilten Vorstellung stiller Zufriedenheit.“

Solche geradezu idyllischen Augenblicke, in denen alles zusammenzupassen scheint, werden von Ivan schließlich auch religiös verstanden. Auf Margarets Frage, ob er glaube, „dass es da etwas gibt“, antwortet er mit einer Beschreibung ästhetischer Erfahrungen. Beim Hören von Musik etwa überkommt ihn angesichts der umwerfenden Schönheit des Klangs der Eindruck einer universalen Ordnung. „Wenn ich diese Schönheit empfinde“, sagt er, „lässt mich das an Gott glauben“.

Empfindsamer Jesus

Doch wird es in Intermezzo stellenweise auch sehr hässlich – insbesondere, wenn es zum Streit zwischen Ivan und Peter kommt. Die beiden Brüder betrauern den Tod ihres Vaters, auf den sie sehr unterschiedlich reagieren. Peter, der eigentlich extrovertierter als Ivan ist, lässt sich nach außen hin wenig anmerken. Im Inneren aber ist der erfolgreiche Anwalt ein unglücklicher Charakter, der noch immer einer verflossenen Liebe hinterhertrauert und für seine Gefühle keine Sprache findet. Einmal „verspürt“ er „den starken, plötzlichen Impuls, zu beten, […] und dann, über sich selbst erschrocken, hört er auf. Warum soll er beten: Vergebung, Anleitung. Durch wen, einen Gott, an den er kaum glaubt, empfindsamer Jesus, der uns gebietet, einander zu lieben.“ Weil er seinem Bruder das neue Beziehungsglück nicht gönnen kann, kommt es zwischen den beiden zum Bruch, über den sie erst gegen Ende des Romans wieder hinausgelangen. In der Schlussszene wird Peter von Ivan gefragt, ob er an Gott glaube. „Ich bin mir nicht sicher“, antwortet er, „Ich würde sagen, ich versuche es.“ Ivan reagiert ebenfalls vorsichtig auf die Gegenfrage: „Es funktioniert nicht immer, aber ich gebe mir Mühe.“ Auch wenn es nicht einfach ist, „etwas so Flüchtigem wie dem Leben einen Sinn abzugewinnen“, halten sie dennoch an der Möglichkeit einer „schönen Welt“ fest, die je und je Realität gewinnen kann. Dann scheint ihnen der Glaube an Gott nicht mehr fernzuliegen.

Rooneys Romane sind gerade in der Generation der so genannten Millennials zu vielgelesenen Welterfolgen geworden. Sie können als Hinweis auf ein höchst vitales Interesse an Religion genommen werden, das eng mit der Sehnsucht nach gelingenden Formen gemeinsamen Lebens verbunden ist. Wer Rooney liest, vermag also, auch in der komplexen Gegenwart der Moderne noch „eines Gottes Spur“ zu erblicken. 

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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