„Obsession mit Israel“

Zwischen Solidarität und Verurteilung: der Streit in der Ökumene um Israel
Im polnischen Krakau tagte die 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) mit mehr als tausend Lutheranern aus 99 Ländern. Unser Foto zeigt das Abendmahl im Eröffnungsgottesdienst.
Fotos: epd-bild/Thomas Lohnes
Im polnischen Krakau tagte die 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) mit mehr als tausend Lutheranern aus 99 Ländern. Unser Foto zeigt das Abendmahl im Eröffnungsgottesdienst.

Der Konflikt zwischen Israel und Palästina belastet auch die Ökumene mit ihren Weltbünden. Während für die einen der Vorwurf des christlichen Antijudaismus laut wird, werten die anderen die Kritik als zu einseitig. Der Frankfurter epd-Redakteur Stephan Cezanne gibt einen Überblick.

Die Stimmen der Kirchen des globalen Südens gewinnen innerhalb der ökumenischen Bewegung immer weiter an Gewicht. Das betrifft auch die Haltung zu Israel: Die lange Zeit betonte uneingeschränkte Solidarität mit Israel und dem jüdischen Volk scheint nicht mehr selbstverständlich. So hatte sich der heute mehr als 580 Millionen Christen zählende Weltkirchenrat zwar bei seiner Gründung dazu verpflichtet, Antisemitismus in jeder Form anzuprangern. Doch gerade dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) wird in der Bewertung des Nahost-Konflikts immer wieder vorgeworfen, er stehe mehr auf der Seite der Palästinenser als auf der Israels.

Sehr zu Unrecht, sagt der Vorsitzende des Zentralausschusses des Weltkirchenrates, Heinrich Bedford-Strohm. Zum Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 erklärt der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und bis Ende 2023 Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, auf diese zugespitzte Situation „hat natürlich auch der ÖRK reagiert“. Der Weltkirchenrat habe sehr darauf geachtet, „dass bei den Stellungnahmen, auch da, wo sie kritisch etwa mit den Bombardements durch die israelische Armee umgehen, die Morde der Hamas verurteilt werden“. Die Morde der Hamas „haben noch mal sehr deutlich unterstrichen, dass es eine Konfliktgeschichte ist, die zwei Seiten hat“.

Bedford-Strohm verweist auf die Erklärung des ÖRK-Exekutivausschusses zum Krieg in Palästina und Israel auf seiner Tagung im nigerianischen Abuja kurz nach den Terrorangriffen der Hamas im November 2023. Darin wird die auf der 11. ÖRK-Vollversammlung in Karlsruhe 2022 ausgesprochene kategorische Verurteilung tödlicher und zerstörerischer Gewalt wiederholt – unabhängig davon, ob sie von der israelischen Armee oder von bewaffneten Palästinensergruppen verübt wird. Im Exekutivausschuss seien auch die Kirchen vor Ort vertreten, denen das palästinensische Leid besonders nahe ist. „Aber wir haben das am Ende im Konsens verabschiedet“, betont Bedford-Strohm, der an den Universitäten im südafrikanischen Stellenbosch und in Bamberg Theologie lehrt.

Bedford-Strohm: „Das steht einfach im Widerspruch zu einer verbreiteten Wahrnehmung des ÖRK, die sagt, der Weltkirchenrat ist immer auf Seiten der Palästinenser und sieht die israelische Seite nicht.“ Natürlich gebe es aber einen „systemischen Grund“ dafür, dass das Leiden der Palästinenser immer einen starken Stellenwert hatte und auch haben müsse, sagt der frühere EKD-Ratsvorsitzende: „Denn der Weltkirchenrat ist ein Zusammenschluss von 352 Kirchen weltweit. Wenn wir uns zu irgendwelchen Situationen auf der Welt äußern, hören wir auf die Mitgliedskirchen vor Ort. Da sitzt nicht jemand in Genf, der dann irgendwelche Sachen sagt, sondern wir sind in engem Kontakt mit den Mitgliedskirchen. Und in diesem Fall gibt es natürlich keine jüdische Mitgliedskirche“, unterstreicht der 2022 in Karlsruhe zum Vorsitzenden des ÖRK-Zentralausschusses gewählte Theologe: „Der Blick der jüdischen Seite wird trotzdem immer wieder eingespeist – etwa durch den seit fast 50 Jahren bestehenden Dialog mit dem ‚International Jewish Committee for Interreligious Consultations‘ (IJCIC). Und natürlich orientieren sich unsere Stellungnahmen immer auch am internationalen Recht.“

Verstehensprozesse ließen sich etwa an unterschiedlichen Kontexten in Deutschland und in Südafrika zeigen: „Die Menschen dort bringen, wenn sie sich für die Schwachen und für Gerechtigkeit einsetzen, eine ganz bestimmte Erfahrung mit, nämlich die Erfahrung der Befreiung von der Apartheid, bei der etwa das Wort ‚Boykott‘ eine große Rolle gespielt hat. In Südafrika war dieses Wort der erste Schritt in die Freiheit“, sagt Bedford-Strohm. „Wenn ich in Südafrika bin“, fügt er hinzu, „weise ich in meinen Gesprächen über den Umgang mit dem Nahost-Konflikt darauf hin, dass das Wort ‚Boykott‘ für Jüdinnen und Juden in Deutschland der erste Schritt in die Gaskammer war. Das wird dann mit Betroffenheit gehört. Und deswegen ist es aus meiner Sicht einfach falsch, wenn jemand in Südafrika von Boykott spricht – etwa mit Blick auf Israel –, dann sofort zu sagen: Der ist Antisemit.“

Einen christlichen Antijudaismus in der Ökumene beobachtet dagegen das Theologenpaar Gabriele und Peter Scherle. „Den gibt es ganz eindeutig. Und man kann das rekonstruieren in den theologischen Texten des Weltkirchenrates. Man hat sich zwar von Anfang an, als der ÖRK 1948 gegründet wurde, gegen Antisemitismus als gesellschaftliches Phänomen positioniert. Man hat aber die eigene antijüdische christliche Tradition nicht aufgearbeitet, sondern sogar noch fortgeführt“, sagt Peter Scherle, bis 2020 Professor für Kirchentheorie und Kybernetik am Theologischen Seminar Herborn und Visiting Lecturer für Ökumenische Theologie und Sozialethik an der Irish School of Ecumenics (Trinity College Dublin).

Keine Aufarbeitung

Ab der dritten ÖRK-Vollversammlung 1961 in Neu-Delhi erlangten die südlichen Mitgliedskirchen mehr Einfluss, ergänzt Gabriele Scherle. „Die Kirchen des Südens und des Ostens, also die Orthodoxen, hatten ohnehin die Haltung, christlicher Antijudaismus ist gar kein Thema für uns, damit haben wir nichts zu tun. Das war im Lichte des Holocaust sozusagen das Thema der Kirchen des Nordens“, so die frühere Pröpstin für Rhein-Main der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und Vorstandsvorsitzende der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main: „Das heißt, die haben sich fast gar nicht damit befasst, Arbeit an der antijüdischen Tradition gab es eigentlich nur in Westeuropa und in Nordamerika.“

In westlichen Kirchen habe es einen Lernprozess gegeben, etwa in den Formulierungen von der bleibenden Erwählung der Juden, so Peter Scherle: „Dieser Lernprozess hat sich aber im Weltkirchenrat nur bis Mitte der 1960er-Jahre vollzogen. Dann wurde das durch den Sechstagekrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien 1967 völlig politisiert.“ In der Folge hätten sich sowohl die Linke wie auch Solidaritätsgruppen in den Kirchen, im Westen und im Norden, pro-palästinensisch positioniert. „Israel wird überhaupt nicht mehr theologisch mit der Frage des Judentums in Kontakt gebracht, sondern wird nur noch politisch betrachtet.“

Auch der evangelische Theologe Kai Funkschmidt registriert, dass sich südliche Kirchen in der Ökumene bei den Themen Holocaust, Antisemitismus oder Antijudaismus nicht angesprochen fühlten. Der Wissenschaftliche Referent für Anglikanismus und Weltökumene im Konfessionskundlichen Institut im südhessischen Bensheim weist zugleich einen Vergleich von Kolonialismus und Rassismus mit der Shoah als völlig unangemessen ab. Den Vorwurf, westliche Kirchen würden den Holocaust über alles andere stellen, finde er „ehrlich gesagt obszön“. Der Rassismus sei ein universales Phänomen, der Kolonialismus auch: „Das ist ja keine westliche Erfindung in irgendeiner Weise.“

Insgesamt nimmt Funkschmidt geradezu eine „Obsession mit Israel“ in der Ökumene wahr. Trotz zahlreicher anderer Kriege und Konflikte auf der Welt, etwa auch in afrikanischen Ländern, gebe es die meisten Resolutionen gegen das Vorgehen Israels gegenüber den Palästinensern: „Das scheint mir kein Zufall zu sein. Diese obsessive Beschäftigung mit Israel könnte man tatsächlich eine Fortsetzung des alten Antijudaismus in neuem Gewand nennen.“ Denn es gebe sonst keinen Grund, „warum dieser eine Konflikt, der nun bei weitem nicht der schrecklichste ist, so im Vordergrund steht.“

Nicht nur der Weltkirchenrat steht wegen israelkritischer Äußerungen in der Kritik. Auf der 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) im September 2023 in Krakau wurde die Erklärung „Christian Presence and Life in the Holy Land“ veröffentlicht. Darin sei einseitig gegen den Staat Israel Stellung bezogen worden, kritisierte Funkschmidt. Beim Lutherischen Weltbund – der rund 77 Millionen Christen lutherischer Tradition repräsentiert – seien die Hintergründe ähnlich wie beim Ökumenischen Rat der Kirchen, so Funkschmidt: „Es gibt dieses Miteinander von Süd- und Nordkirchen, und es gibt einen Süd-West-Gegensatz. Nur ist der LWB ein bisschen weniger im Fokus.“

Einseitige Kritik

Florian Hübner vom Deutschen Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes wertet diese Kritik als einseitig. Sie verkenne das Thema der Erklärung. Die Resolution von Krakau schließe an LWB-Verlautbarungen der vergangenen Jahrzehnte an. Der Lutherische Weltbund setze sich seit langem für einen gerechten Frieden in der Region sowie eine Zweistaatenlösung ein und leistet Hilfe für Bedürftige. „LWB und ÖRK gehören – wie die Vereinten Nationen auf staatlicher Ebene – zu den großen Friedens- und Versöhnungsprojekten nach dem Zweiten Weltkrieg“, so Hübner weiter.

„Wir sehen das Leid auf beiden Seiten, nicht erst seit dem 7. Oktober“, so Hübner. Das Existenzrecht Israels und die Solidarität mit Israel stünden außer Frage. „Wir haben auch eine palästinensische Mitgliedskirche, die ganz enorm unter der Situation leidet. Sie fragt uns: ‚Wie unterstützt ihr das christliche Leben in Jerusalem, in Palästina? Ist es euch wichtig, dass hier christliches Leben ist?‘“ Diese Anfragen müssten LWB wie ÖRK ernst­nehmen „und genau diese Fragen thematisierte ja die Erklärung der Vollversammlung gerade“.

Der Sozialwissenschaftler Hübner gibt zudem zu bedenken, „dass natürlich unsere Sichtweise nicht die einzig gültige weltweit ist.“ International gebe es sehr unterschiedliche kulturelle, religiöse und regionale Perspektiven, die genauso ein Recht hätten, gehört zu werden. Hübner: „Unterschiede auszuhalten und zusammenzubringen ist eine der großen Aufgaben der Ökumene. Das ist nicht leicht.“ Der LWB mit 150 Mitgliedskirchen biete eine Plattform, „wo man miteinander im Gespräch bleibt, auch wenn man nicht immer gleich oder überhaupt zu einer gemeinsamen Position kommt.“ 

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Foto: Norbert Neetz

Stephan Cezanne

Stephan Cezanne ist gelernter Journalist und evangelischer Theologe. Nach Studium und Vikariat arbeitet der aus einer Waldenser-Familie stammende Autor seit 1993 in der Zentralredaktion des Evangelischen Pressedienstes (epd).


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