Gute Texte wissen mehr
Heute vor 90 Jahren begann die Bekenntnissynode in Barmen. Albrecht Grözinger, Emeritus für Praktische Theologe an der Universität Basel, hat aus diesem Anlass nach dem heutigen Potenzial der Barmer Theologischen Erklärung gefragt, die damals dort verabschiedet wurde. Er sieht den Text – was manche erstaunen mag – auch und gerade als Zeugnis für Pluralismusfähigkeit.
Gute Texte wissen immer mehr als ihre Autor:innen. Die Hermeneutik von Jacques Derrida erinnert an die Mehrstimmigkeit von Texten. Und je reflektierter und elaborierter Texte sind, umso stärker ist in sie Mehrstimmigkeit eingeschrieben. Das gilt für poetische Texte auf jeden Fall. Es gilt aber auch für diskursiv-reflektierende Texte. Und deshalb tun wir gut daran, Texte immer in einer doppelten Richtung zu lesen – gleichsam nach hinten und vorne.
Die „Lektüre nach hinten“ fragt nach den Entstehungsbedingungen und Intentionen des Autors oder der Autorin. Die „Lektüre nach vorne“ fragt nach den Potenzialen eines Textes, die dessen Entstehungsbedingungen und ursprüngliche Intentionen übersteigen. In diesem Sinne möchte ich heute eine „Lektüre nach vorne“ der Barmer Theologischen Erklärung unternehmen (im Folgenden als BTE abgekürzt).
Entstehungshorizont eingeschrieben
Bekenntnisse und Theologische Grundsatztexte entstehen immer in einem konkreten Kontext. In manchen Texten ist dieser klar erkennbar, in manchen eher verborgen. Weniger erkennbar sind für uns heutige die Kontexte etwa der altkirchlichen Bekenntnisse. Wenn wir heute im Gottesdienst das Apostolikum oder das Nicaenum sprechen, dann stiftet dies Identität, auch wenn der konkrete Entstehungskontext den Sprechenden nicht präsent ist. Und dann gibt es Texte, in denen der Entstehungshorizont unübersehbar eingeschrieben ist. Dazu gehört zweifellos die BTE, aber auch – um ein weiteres Beispiel zu nennen – das reformierte Belhar-Bekenntnis aus den Jahren 1982/86, das sich gegen die Apartheid in Südafrika wandte.
Ein guter Text weiß immer mehr als seine Autor:innen. Das gilt auch für die BTE. Eine „Lektüre nach vorne“ entdeckt in ihr mehr, als von den Menschen „gewusst“ wurde, die die BTE am 31. Mai 1934 in Wuppertal-Barmen verabschiedet haben. Der Entstehungskontext ist klar: kräftiger Widerspruch gegen die „Deutschen Christen“ mit ihrer Theologie und Kirchenregiment, weniger kräftig, aber – und das soll auch gesagt sein – mutiger Widerspruch gegen die nationalsozialistische Politik.
„Nach-Vorne-Lektüre“
Dieser doppelte Widerspruch spiegelt sich in der argumentativen Struktur der BTE. Sie benennt Differenzen, die in sechs Etappen zunächst als positive These, dann als daraus abgeleitete Verwerfungsthesen ausformuliert ist. Die Differenzen selbst sind noch einmal differenziert: Sie formulieren negative Abgrenzungsdifferenzen und positive Beziehungsdifferenzen. An diesen positiven Beziehungsdifferenzen möchte ich mich in meinen folgenden Überlegungen orientieren. Denn in diesen positiven Beziehungsdifferenzen scheint mir jenes „Mehrwissen“ zu bestehen, dass das „Wissen“ der in der Entstehungssituation Agierenden „übersteigt“. Beschränken möchte ich mich dabei auf die „Nach-Vorne-Lektüre“ der ersten, vierten und fünften These.
„Vermenschlichung“ der biblischen Botschaft (These 1)
Der ersten These[1] kommt im Ganzen der BTE eine besondere Stellung zu. Sie ist in der argumentativen Konstruktion den anderen Thesen nicht gleichgeordnet, sondern vorgeordnet. Sie ist gleichsam das große Plus vor der Klammer.
Mich interessiert für unseren heutigen Kontext eine kleine Differenz, die nicht einmal das Hauptgewicht der These abbildet. Es wird unterschieden zwischen Jesus Christus als dem einen Wort Gottes, und der Heiligen Schrift, die dieses Wort bezeugt. Die Heilige Schrift ist also unterschieden vom Wort Gottes selbst. Sie ist das menschliche Zeugnis vom Wort Gottes, aber nicht mit ihm identisch.
Bibel vermenschlicht
Es war sicher nicht die große Frage der Autor:innen, in welcher Beziehung die Schrift zum Wort Gottes steht, und ihnen standen wohl auch nicht die weitreichenden Konsequenzen ihrer damaligen Formulierung vor Augen. Aber ein guter Text weiß immer mehr als seine Autor:innen. Die Bibel wird in der BTE gleichsam „vermenschlicht“. Sie ist menschliches, und damit auch fehlbares Zeugnis vom Wort Gottes. Damit öffnet die BTE den Weg sowohl hin zum Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns wie zum literarisch-realen Umgang Karl Barths mit der Bibel im weiteren kurvenreichen und ständigen Revisionen unterzogenen Verlauf seiner Kirchlichen Dogmatik.
Diese Differenz zwischen Wort Gottes und der Bibel, wie sie die BTE zeichnet, bedeutet nun aber keine Depotenzierung der Bibel. Gerade in der unterschiedenen Bezogenheit auf das Wort Gottes bekommt sie ihre eigene Würde. Wo die Bibel fundamentalistisch mit dem Wort Gottes gleichgesetzt wird, verliert sie gerade ihre Würde. Gerade in ihrer Bezogenheit auf das Wort Gottes wird damit auch biblische Überlieferung als irrtumsfähiges menschliches Zeugnis prinzipiell kritisierbar.
Innere Ordnung und Zeugnis
Daraus erwächst nun allerdings eine Aufgabe für die jeweils konkrete Praxis der Kirche. Gerade weil der Bezug der Bibel auf das Wort Gottes in ihrem konkreten Gebrauch nicht automatisch gesichert ist (das war ja gerade der Widerspruch der BTE gegen den deutsch-christlichen Umgang mit der Bibel), muss dieser Bezug jeweils aufs Neue unter sich stetig verändernden Bedingungen in Zeitgenoss:innenschaft „plausibilisiert“ werden – in, mit und unter allen Bereichen kirchlicher Praxis.
„Entsakralisierung“ des (Leitungs-)Amtes (These 4)
Die These 4 der BTE[2] hat die These 3[3] zur Voraussetzung. Dort wird klar gesagt, dass auch die Gestalt der Kirche in ihren inneren Ordnungen zum Zeugnis der Kirche gehört. Lutherische Theologie hatte ja die Frage der organisatorischen Gestaltung der Kirche eher als Adiaphoron (Nebensache) angesehen. In der Krise der Jahre 1933/34 merkte man dann allerseits, wie wichtig Fragen auch der kirchlichen Organisationsform – und das heißt auch immer Verteilung von Macht – sind. Dies konkretisiert sich für die BTE in der Frage der Ämter.
Ein Faible, sich selbst als „mit besonderen Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer(n)“ zu sehen, gab es nicht nur bei den „Deutschen Christen“, sondern auch innerhalb der Bekennenden Kirche, wenn man sich Personen wie Otto Dibelius, August Mahrarens, Hans Meiser oder auch Theophil Wurm vor Augen stellt.
Wobei die Umstände auch sehr ambivalent sein konnten. Man kann dies sehr schön am Beispiel von Theophil Wurm und der Württembergischen Landeskirche sehen. Die Kirchenverfassung aus dem Jahre 1919 kannte keinen Landesbischof, sondern einen Kirchenpräsidenten und eine relativ starke Synode mit dem Namen Landeskirchentag. Als ein solcher Kirchenpräsident wurde Theophil Wurm im Jahre 1929 gewählt.
In den sich überschlagenden Ereignissen der ersten Monate des Jahres 1933 beschloss nun der ständige Ausschuss der Synode, dem Kirchenpräsidenten die umfassende Befugnis zu übertragen, auch ohne Befragung und Zustimmung der Synode alle ihm gebotenen Maßnahmen zu ergreifen. Ein Beschluss also in Analogie zu dem so folgenreichen „Ermächtigungsgesetz“ des Deutschen Reichstags vom 24. März 1933. Eine der ersten Maßnahmen, die Theophil Wurm ergriff, war, dass er sich selbst den Titel „Landesbischof“ verlieh. So kam die Württembergische Landeskirche zu ihrem Landesbischof.
Problematisches herrschaftliches Leitbild
Wie gesagt, das Ganze war ein hochambivalenter Vorgang. Denn aufgrund des kirchlichen Ermächtigungsgesetzes gelang es, die synodale Mehrheit der „Deutschen Christen“ gleichsam zu neutralisieren und die Württembergische Landeskirche in der Tat bis 1945 von einem maßgeblichen Einfluss der „Deutschen Christen“ freizuhalten. Barmenkonform war der Württembergische Sonderweg aber auf keinen Fall.
Problematisch war dann die Übernahme dieses herrschaftlichen Leitbildes in den Kirchen nach 1945. Wenn man auf die Leitungspersonen der neu gegründeten EKD blickt, so waren viele davon durchaus „Führerfiguren“, die sich „mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattet“ verstanden: Otto Dibelius, Hans Asmussen, Martin Niemöller, Joachim Beckmann. Und dieses personal vermittelte Leitbild strahlte aus auf das, was unter einem evangelischen Pfarrer verstanden wurde.
Und damit beginnt die unmittelbare Aktualität der 4. Barmer These. Die ForuM-Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und anderer Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche hat uns eindrücklich – und ich gestehe es offen: für mich auch überraschend – vor Augen gestellt, welche Bedeutung einer „geistliche Macht“ im Zusammenhang von sexualisierter Gewalt zukommt. Die entscheidenden Sätze in der Studie dazu lauten: „Auch im evangelischen Umfeld zeigt sich die besondere Rolle des (in unserem empirischen Material zumeist männlichen) Pfarrers als Beschuldigter, der mit großer Deutungsmacht ausgestattet wird und dem – zumindest in zurückliegenden Zeiträumen – die Betroffenen und oft auch ihr Umfeld nichts entgegensetzen konnten. Das Machtgefälle zwischen dem Beschuldigten und der betroffenen Person im Rahmen der seelsorgerischen Arbeit ist ein besonderer Risikofaktor für sexualisierte Gewalt im Verantwortungsbereich der evangelischen Kirche. Ein solches Machtgefälle muss unabhängig vom jeweiligen konfessionellen Hintergrund immer dort angenommen werden, wo sich sexualisierte Gewalt im Kontext spiritueller Begegnungen und Abhängigkeitsverhältnisse ereignet.“
Ein guter Text weiß immer mehr als seine Autor:innen. An den Kontext sexualisierter Gewalt haben diejenigen, die die BTE formuliert und beschlossen haben, mit Sicherheit nicht gedacht. Sie hatten andere Sorgen. Aber es spricht für die BTE, dass sie offensichtlich auch etwas zu dem zu sagen hat, was uns gegenwärtig ekklesiologisch auf ganz besondere Weise herausfordert.
Kirche im Pluralismus (These 5)
Als Praktischer Theologe fasziniert mich diese 5. These[4] in jüngster Zeit immer mehr. Das „Nach-Vorne“-Potenzial der BTE scheint mir hier am dichtesten zu sein. Die Kernsätze der These lauten: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.“
Primär für Recht und Frieden sorgen
Zunächst einmal fällt auf, dass ein Begriff, der bis dato ein Kernbegriff lutherischer Theologie in ihrem Nachdenken über den Staat war, völlig fehlt – nämlich der Begriff der Ordnung. Der Staat wird zu einer klar definierten „Anordnung“ Gottes. Und dem Staat selbst wird nicht primär (primär!) eine Ordnungsfunktion zugeschrieben, sondern er hat primär für Recht und Frieden zu sorgen. Auch fällt auf, dass die jeder These vorausgestellte Bibelstelle, nicht – wie eigentlich zu erwarten – Römer 13,1 „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat“ wurde, sondern 1. Petrus 2,17 „Fürchtet Gott, ehrt den König“.
Drei Dinge scheinen mir daran bemerkenswert: Zum einen kommt die in diesem Kontext traditionelle Ordnungstheologie überhaupt nicht zum Zuge; zum anderen wird von vornherein die weltlich-politische Macht durch die Gottesfurcht begrenzt. Und schließlich taucht der politisch eigentlich überholte Begriff des Königs auf. Meiner Ansicht nach auch eine ironische Replik auf den angemaßten Begriff des „Führers“.
Man wird in diesen interessanten begrifflichen Entscheidungen nicht allein eine Annäherung lutherischer Theologie an die reformierte Sicht des Staates sehen können. Meines Erachtens manifestiert sich hier wirklich eine theologische Reflexion auf die Erfahrungen des ersten Jahres der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Mitten in einer unmenschlichen Diktatur erscheint in der theologischen Reflexion die Vision eines demokratischen Staates auf mit seinen grundlegenden Implikationen. Dies mag wiederum nicht allen Beteiligten in dieser Deutlichkeit klar gewesen sein – aber: Ein guter Text weiß immer mehr als seine Autor:innen.
Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie nun die Kirche dieser Vision eines demokratischen Staates zugeordnet wird. Auch hier folgt die BTE ihrer grundsätzlichen Argumentationsstruktur, indem sie nämlich eine Differenz aufzeigt. Kirche und Staat werden klar unterschieden, aber in einer positiven Unterscheidungsdifferenz: während der Staat, wenn notwendig unter Ausübung von Gewalt, für Recht und Frieden zu sorgen hat, ist es Aufgabe der Kirche, im gewaltfreien Medium des Wortes an Gottes Reich, Gottes Gebot und seine Gerechtigkeit zu erinnern.
Böckenförde-Diktum präfiguriert
Deshalb stelle ich die These auf, dass in der These 5 der BTE das berühmte Böckenförde-Diktum präfiguriert ist. Der spätere Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte sein Diktum zum ersten Mal im Jahre 1964, und es lautet in prägnanter Kürze: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Böckenförde blickt eindeutig auf die Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zurück. Dem Staat selbst soll es prinzipiell verwehrt sein, Werte zu setzen. Gleichwohl bleibt jedes Staatswesen darauf angewiesen, von Menschen getragen zu sein, die ihrerseits durchaus wertgeleitet sind. Die Bildung und Formulierung von Werten wird durch das Diktum aber dem Staat ausdrücklich untersagt und den zivilgesellschaftlichen Assoziationen als Aufgabe zugewiesen. Als Böckenförde sein Diktum formulierte, hatte die Theorie der Zivilgesellschaft noch nicht den Stellenwert von heute, aber ist bei ihm in ihrem Inhalt bereits vorausgesetzt.
In der kirchlichen Rezeption wird das Böckenförde-Diktum gerne als Privileg für Religion und Kirche und als Ausdruck von deren Unersetzbarkeit interpretiert. Aber bereits in den vielfältigen Ausführungen des Diktums, die bei Böckenförde selbst zu finden sind, ist die Aufgabe der Wertebildung gerade nicht privilegiert den Kirchen zugeschrieben, sondern dem ganzen Beziehungsgeflecht der Zivilgesellschaft, wie Kunst, Philosophie, aber auch den vielfältigen Vereinen, die den Wert und die Erfahrung von Gemeinschaft ausbilden können.
In diesem Zusammenhang ist für mich wichtig, dass hier die BTE ganz bescheiden formuliert. Wiederum fällt auf, dass drei wichtige Begriffe, die man hätte eigentlich erwarten können, an dieser Stelle fehlen: Es ist weder von einem Öffentlichkeitsanspruch der Kirche die Rede, noch von einem Wächteramt, und ebenso wenig wird ein prophetisches Amt für die Kirche reklamiert. Sondern die Kirche hat ein „Amt“ der Erinnerung, dass sie nur als Dienst an der gesamten Gesellschaft verstehen kann. Und zwar eine sehr konkrete Erinnerung – nämlich an „Gottes Reich, Gottes Gebot und Gerechtigkeit“. Nur mittels dieser spezifischen Erinnerung gewinnt sie ihr Profil und ihre Erkennbarkeit. Und genau durch diese Struktur konstituieren sich zivilgesellschaftliche Assoziationen: Sie nehmen eine spezifische Aufgabe wahr, die sie von anderen zivilgesellschaftlichen Assoziationen unterscheidet. Und deshalb ist in der BTE die Kirche – avant lettre! – als zivilgesellschaftliche Assoziation bestimmt ohne „staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würden“. Auch diese weitreichende Implikationen mögen den Beteiligten nicht präsent gewesen sein. An dieser Stelle denkt die BTE weit über den Rahmen ihrer eigenen Entstehungsbedingungen hinaus.
90 Jahre „nach Barmen“
Die BTE eignet sich nicht für Jubelfeiern, wohl aber für ein nachdenkliches Gedenken. Bei diesem Gedenken sollten wir nicht übergehen, dass die BTE auch ihre klaren Grenzen hat. Da ist zum einen eine markante „Leerstelle“: Von der staatlichen Verfolgung der Juden und Jüdinnen schweigt die BTE. Wahrscheinlich hätte die sehr heterogene Gruppe, die das Autor:innen-Team, aber auch die Synode selbst war, sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner einigen können.
Erschreckend antijudaistische Theologie
Manchmal denke ich, dass es vielleicht auch gut ist, dass die BTE diese Leerstelle hat. Wahrscheinlich wäre auch bei einem Sich-Einsetzen für die Juden und Jüdinnen dann doch eine letztlich antijudaistische Theologie zum Vorschein gekommen. Man kann dies deutlich an dem berühmten Artikel von Dietrich Bonhoeffer „Die Kirche vor der Judenfrage“ aus dem Jahr 1933 sehen. Auf der einen Seite setzt sich Bonhoeffer dort sehr mutig für die Juden und Jüdinnen ein (es fällt dort sogar die berühmte Formulierung „Dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“), und zugleich folgt der Artikel einer antijudaistischen Theologie, deren konkrete begriffliche Formulierung uns heute nur erschrecken kann.
Nein, im theologischen Antijudaismus waren wohl die allermeisten der Beteiligten befangen. Hätte sich die BTE konkret zu Juden und Jüdinnen geäußert, wäre das wohl nur mit antijudaistischen Implikationen möglich gewesen. Doch diese Leerstellen schmerzt HEUTE. Auch das wäre an einem Barmen-Gedenken zu sagen.
Zum Anderen: Die BTE eignet sich nicht für das interreligiöse Gespräch. Dies war überhaupt nicht im Horizont der Beteiligten. Besonders für das Gespräch mit jüdischer Theologie baut die BTE eher Hürden auf, als dass sie Brücken bildet. Die Formulierung von „Jesus Christus“ als dem „einen Wort Gottes“ würden wir heute wohl so nicht mehr wiederholen. Die theologische Neubesinnung einer „Theologie nach Auschwitz“ lässt eine derartige exklusiv christologische Formulierung doch als problematisch erscheinen. Theologisch stehen wir da heute wohl an einem anderen Ort.
Schließlich: Im Gegensatz zum Apostolikum oder zum Nicaenum ist die BTE kein umfassender Bekenntnistext. Ich möchte hier gar nicht die Frage aufwerfen, ob der BTE der Status eines Bekenntnisses zukommt oder nicht. Dazu ist Vieles und Kontroverses gesagt worden. Die BTE ergreift zu konkreten und begrenzten theologischen Problemstellungen das Wort. Eine umfassende Bestimmung des Christlichen war nie ihre Intention. Sie ist ein innertheologisch-reflexiver Verständigungstext und eignet sich daher auch nicht – wiederum im Gegensatz zu Apostolikum und Nicaenum – nicht zum liturgischen Gebrauch. Diese Einschränkungen schmälern nicht die Bedeutung der BTE, sondern betonen deren besonderen Charakter und Bedeutung.
Eigen-Sinn des Evangeliums: Die Pluralismusfreundlichkeit der Barmer Theologischen Erklärung
Wenn man auf das Ganze der BTE blickt, könnte man sagen: Die BTE ist von dem theologischen und kirchenpolitischen Interesse geleitet, dem Eigen-Sinn des Evangeliums in einer ganz spezifischen und hoch konfliktuösen Situation sprachlich Ausdruck zu verleihen. Sie tut dies, indem sie Differenzen benennt – und zwar in einer doppelten Weise: Sie benennt negative Abgrenzungsdifferenzen und positive Beziehungsdifferenzen. Damit gewinnt die BTE – wenn mir der Ausdruck erlaubt ist – ihre Pluralismusfähigkeit.
Pluralismus lebt vom Eigen-Sinn
Wenn es um die Frage des Pluralismus geht, fiele wahrscheinlich den Meisten nicht unbedingt sofort die BTE ein. Und sie wurde nach 1945 auch eher als ein pluralismuseinschränkendes theologisches Dokument gelesen und interpretiert. Ich versuchte zu zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. In der BTE wurden entscheidende theologische Weichen gestellt, um die Stellung des Christentums und der Kirchen im Pluralismus zu bestimmen.
Eine offene pluralistische Gesellschaft lebt vom Eigen-Sinn oder besser gesagt von Eigen-Sinnen. Pluralismus entsteht dort – darauf gründet Hannah Arendt sogar ihren Begriff des „Politischen“ –, wo konturierter Eigen-Sinn auf anderen konturierten Eigensinn trifft. Wobei dieses Aufeinandertreffen von Eigen-Sinnen ein turbulentes Geschehen ist. Das macht offene Gesellschaften im Übrigen so verletzlich und angreifbar. Es gibt Eigen-Sinn, der anderen Eigen-Sinn bestreitet; es gibt Eigen-Sinn, der mit anderem Eigen-Sinn begrenzte Koalitionen eingeht. Und es gibt Eigen-Sinn, der sich mit anderem Eigen-Sinn befreundet. Den Ort von Evangelium und Kirche in diesem turbulenten Geschehen zu begreifen und zu formulieren, das hat die BTE versucht. Und dies ist ihr meines Erachtens auch erstaunlich gut gelungen, auch wenn das den Beteiligten nicht immer bewusst war – denn: Ein guter Text weiß immer mehr als seine Autor:innen …
[1]THESE 1:
Jesus Christus spricht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. (Joh 14, 6)
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und Räuber. Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden. (Joh 10,1.9)
Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.
[2]THESE 4:
Jesus Christus spricht: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener. (Mt 20,25.26)
Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen.
[3]THESE 3:
Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist. (Eph 4,15.16)
Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.
[4]THESE 5:
Fürchtet Gott, ehrt den König. (1. Petr 2,17)
Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.
Albrecht Grözinger
Dr. Albrecht Grözinger ist Professor em. für Praktische Theologie an der Universität Basel.