Gras anfassen und Rollenwechsel üben
Nachdem die sinkenden Kirchenmitgliedszahlen der evangelischen Kirche vor kurzem veröffentlicht wurden, starteten die üblichen Diskussion zur Zukunft der Kirche. Wie kann diese gelingen? Mit Leuten ins Gespräch kommen, nicht nur senden und organisieren, sondern hören und geschehen lassen, das ist Teil der Lösung, meint unser Onlinekolumnist Philipp Greifenstein.
Wollen wir noch einmal über das Schrumpfen der Kirche sprechen? Im Nachgang der Veröffentlichung der Kirchenmitgliedschaftszahlen für das Jahr 2023 der Evangelischen Kirche vor einer Woche gab es wieder eine Runde der üblichen Diskussionen über die zukünftige Gestalt der evangelischen Kirchen, ihre Handlungsfelder und selbstredend natürlich auch über den Sonntagsgottesdienst. Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass sich – gerade auch digital auf den Social-Media-Plattformen – immer wieder Menschen finden, die diese Fragen mit hohem Blutdruck diskutieren. Das ist eine – wenn auch schwindende - Ressource, meine ich, von der die evangelische Kirche zehren könnte.
Aber es ist auch auffällig, dass die Diskussionsrunden kleiner werden. Das hat viele Gründe. Und leider wird der Überdruss an den anlässlich der Veröffentlichungsrunden ventilierten einfachen Antworten nur einen geringen Teil der Motivation ausmachen, den Debatten über die Zukunft der Kirche fernzubleiben. Vielmehr macht sich bemerkbar, dass die Nachfrage nach der Kirchenmitgliedschaft schon arg gesunken ist. Allzumal unter jenen, die (digitale) Öffentlichkeit mitgestalten. Es werden derer weniger, die ernsthaft und nicht nur als „bürgerliche Kasualie“ über die Zukunft der Kirche beraten wollen.
„Zentralrat der Hobbylosen“
„Religion ist Privatsache“ ist einer der Slogans der Kampfatheisten rund um den sogenannten Zentralrat der Konfessionsfreien (sic!), einer vom Aktivisten Philipp Möller angeführten Ausgründung der Giordano-Bruno-Stiftung. Aber was der „Zentralrat der Hobbylosen“ nur fordert, wird von vielen – auch engagierten – Christ:innen inzwischen selbstverständlich gelebt. Auch die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der vergangenen Jahrzehnte zeigen das: Das eigene Frömmigkeitsleben wird im privaten Nahbereich geführt und lokal, gebunden an Kirchturm, Pfarrer:in und vertraute Kirchenmitarbeiter:innenschaft, an die Gemeinde und Familien. An den vermeintlich großen Diskursen über „die Zukunft der Kirche“ nehmen viele dieser Menschen nicht teil – und man wird sie auch nicht durch Angstmacherei vor dem „Durchregieren“ von Kirchenoberen und deren „richtigen und wichtigen“ Reformideen davon abbringen. Auch das eine Ressource, meine ich, an hübsch widerständiger Provinzialität, an der sich die Kirche durchaus laben könnte.
Wozu also Kirche? In einem bemerkenswerten Gespräch für die „Junge Kirche“ (der man gerne mal eine neue Website angedeihen lassen darf) befragt Klara Butting Fulbert Steffensky, der seine Antwort kurzfasst: „Gott und das Brot der Armen. […] An Gott ist schon gedacht, wenn an die Armen gedacht ist. Das ist wahr. Aber es bleibt die Frage an die Kirche, an ihre Predigten und Gottesdienste, an ihre Seelsorge, an ihre Lieder und Gebete: Sucht sie Gott, sucht sie ihn glücklich, verzweifelt?“
Gegen die Lamentation
Seinem Eindruck nach eher verzweifelt, möchte man sagen, denn angesichts des Schrumpfungsdiskurses empfiehlt er: „Ich würde zunächst alle Kirchenleute, vor allem Theologinnen und Theologen, Spottlieder lehren über die eigene Weinerlichkeit. Wenn die Lamentation unser Hauptkirchenlied ist, verlieren wir die Lust an uns selbst. Wir verlieren den Stolz, ohne den uns niemand achten kann.“ An Steffenskys halb-prophetischen Worten kann man sich ein wenig aufrichten: Wie er über die Schönheit des Glaubens und der überlieferten Formen spricht, über die Bergpredigt, die er im Gepäck hat, und über den Gottesdienst: „Ich gehe sonntags in den Gottesdienst, nicht weil ich so fromm bin, eher aus dem Gegenteil: Mein kärglicher Glaube reicht nicht. Im Gottesdienst stoße ich auf den Glauben meiner Geschwister. Wir teilen unsere dünne Glaubenssuppe, und wir werden alle halbwegs satt.“
Nun wird man nicht nur fragen dürfen, ob die Gottesdienste in unseren evangelischen Kirchen dieses Kommunikationsgeschehen unter Geschwistern tatsächlich ermöglichen, inszenieren und feiern, sondern auch, ob man in knappen Sätzen über die gegenwärtig so offensichtlichen Gewaltpotenziale (in) der Kirche hinweggehen kann: „Doch, die Kirchen haben Gewalt ausgeübt, Gewalt geduldet. Wer das verschweigt, ist ein Betrüger. Es gibt aber auch eine andere Form des Betrugs, des Selbstbetrugs. Er besteht darin, den Reichtum und die Schönheit zu verkennen, die in den Kirchen überliefert sind.“ Steffensky hält dafür, dass Christ:innen „die unerbittlichen Wächter und Richter ihrer eigenen Kirche“ sein sollen, aber auch mit einem eigenen „Stolz“ die „Schönheit des eigenen Hauses“ achten dürfen.
Aufgejazzt und marktschreierisch
Viele der gegenwärtigen Debatten in der Kirche lösen keinen der beiden Ansprüche ein: Weder sind sie wirklich kritisch in einem ernsthaften Sinne noch eine Suche nach dem Schönen. Sie gleichen eher einem Spiel, in das man in unernster Manier eben einbringt, was man so oder nur ein wenig anders formuliert schon immer gesagt und gemeint hat. Ich sehe ja auch bei mir den wachsenden Unmut, mich umstimmen, begeistern oder empören zu lassen. Vielleicht ist das eine Folge des fortschreitenden Alterns oder einfach Abstumpfung oder ein Coping-Mechanismus, um mit der Fülle der empörenden, aufgejazzten und marktschreierischen Botschaften umzugehen. Vielleicht müssen wir einfach mal wieder Gras anfassen.
Mit diesem Hinweis versorgte man in Online-Diskussionen vergangener (Twitter-)Tage gelegentlich Leute, deren digitale Tiraden sich meilenweit vom „real life“ und einem bekömmlichen Emotionenhaushalt entfernt hatten. Heute traut man sich das kaum noch, weil ja alles fürchterlich ernst und wichtig und empörend ist. Und das stimmt ja auch. Es gibt viel zu fürchten. Umso mehr desto tiefer man sich mit den Sachen dann auch beschäftigt. Auch wenn einem dann die Empörung oder die Begeisterung sicher nicht mehr ganz so leichtfallen, weil sich Differenzierung und Komplexität leider empfindlich auf die Dichte von Hot Takes auswirken, die man so von sich geben kann. Aber dann könnte es tatsächlich ja wirklich kritisch werden – oder schön.
Kontakt mit der Realität
Also: Gras anfassen. Wie könnte das denn in unseren Kirchen ausschauen, eine neue Kontaktaufnahme mit der Realität, eine grundsätzliche Erdung, eine wohltuende Zentrierung? Sollen wir in die Natur ausschreiten? Sollen wir die Schönheit suchen, von der Fulbert Steffensky schreibt? Brauchen wir Ausflüge dahin, wenigstens zur zwischenzeitlichen Stärkung? Vielleicht. Aber mit Gras anfassen ist ja mehr gemeint, als die Schönheit des natürlichen Wachstums und die Ruhe des deutschen Waldes zu genießen, Paul-Gerhardt-Lieder zu summen oder Bach-Kantaten zu verkosten. Wo geht es bitte zum „real life“, und was ist mit jenen, mit denen ich doch meine Suppe gemeinsam auslöffeln soll?
Wirklich mit Leuten ins Gespräch zu kommen, keinen „Dialograum Kirche“ zu eröffnen, nicht nur zu senden und zu organisieren, sondern zu hören und geschehen zu lassen, das ist wohl Teil der Lösung. Katharina Scholl schrieb hier in den z(w)eitzeichen vergangene Woche von einer Kirche, die fragt: „Was brauchst Du heute?“ Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre hatte nicht ganz Unrecht mit seinem Verdikt: „Die Hölle, das sind die anderen“. Aber ohne die Tischgemeinschaft geht es halt nicht, hören sich die Bach-Choräle nur wie ein schwacher Trost an. Steffensky erzählt im „Junge Kirche“-Interview, das Sie unbedingt lesen sollten (PDF), „von der Erinnerung an Geschichten von gelungener Würde und von Erzählungen von der Möglichkeit des Lebens inmitten seiner Bedrohungen“, für die man die Kirche brauche. Aber solche Geschichten brauchen ja immer auch Erzähler:innen und Zuhörer:innen. Und spätestens dann, wenn einem niemand mehr zuhört, wird’s wohl Zeit für einen Rollenwechsel.
Philipp Greifenstein
Philipp Greifenstein ist freier Journalist sowie Gründer und Redakteur des Magazins für Kirche, Politik und Kultur „Die Eule“: https://eulemagazin.de