Der Titel des Briefbandes Über Grenzen sprechend ist von einem Gedicht Ingeborg Bachmanns hergeleitet und hat viele Facetten. Da sind zuerst die ganz realen Ländergrenzen: Ingeborg Bachmann schreibt aus Österreich, Italien und Deutschland. Nelly Sachs’ Briefe kommen aus Schweden. Hilde Domin schreibt aus Deutschland und Marie Luise Kaschnitz aus Deutschland und Italien. Spürbar sind die Altersunterschiede; Nelly Sachs, die älteste der Dichterinnen ist 1891 geboren, Bachmann 1926. Und es sind vor allem die Grenzen unterschiedlicher Lebensschicksale und der daraus erwachsenen Lebenserfahrungen und –erwartungen. Die Jüdin Nelly Sachs konnte 1940 mit dem letzten Passagierflugzeug aus Deutschland fliehen. Hilde Domin ging bereits 1932 mit ihrem Mann ins südamerikanische Exil und kehrte erst 22 Jahre später nach Deutschland zurück. Große Teile von Bachmanns Werk stellen eine Auseinandersetzung mit dem Nazireich und dessen Fortleben dar. Marie Luise Kaschnitz ist das Entsetzen über die Judenverfolgung und über die Schrecken des Zweiten Weltkriegs bis an ihr Lebensende nicht losgeworden.
Alle vier Dichterinnen waren sich der historischen Situation bewusst, in die hinein sie schrieben: eine verbrecherische Zeit lag hinter ihnen. An der Schwere dessen, was hinter ihnen lag, litten wenigstens die drei älteren von ihnen. Die Vorstellungen über das Kommende waren undeutlich.
Alle vier gehören zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zentralfigur des Buches ist Ingeborg Bachmann. Soweit die Korrespondenzen zwischen ihr und Kaschnitz, Domin und Sachs erhalten sind, werden sie hier veröffentlicht. Am herzlichsten, persönlichsten und umfangreichsten ist der Briefwechsel mit Marie Luise Kaschnitz. Er setzt 1955 ein und geht bis zu Bachmanns Tod 1973. Am kürzesten und am sprödesten ist der Briefwechsel mit Hilde Domin. Während Bachmann und Kaschnitz sich in Rom trafen, Anteil nicht nur an der Arbeit der anderen, sondern auch am persönlichen Ergehen nahmen (Tod von Bachmanns Vater, Tod von Kaschnitz’ Ehemann), ging es bei Hilde Domin häufig um Arbeitsvorhaben. Sie wollte Bachmann dafür gewinnen, in Schulklassen zu gehen und mit Jugendlichen zu arbeiten, mit ihnen zu reden. Bachmann lehnte ab und vermied persönliche Treffen. Dabei hatte sich Hilde Domin unmittelbar nach ihrer Ankunft in Deutschland um Bachmanns Gedichtband bemüht, war sie beeindruckt von dessen „großem Atem“.
Ähnlich begeistert äußert sich Nelly Sachs zu Bachmanns Gedichten, die herausgewachsen seien „aus der Nachkriegszeit europäischer Landschaft, karg und nacken“. Geradezu innig sind Nelly Sachs’ Briefe. Immer wieder kommt sie auf ein Treffen am Zürcher Flugplatz zurück, wo sie am 25. Mai 1960 unter anderem von Bachmann, Celan, seiner Frau und ihrem Sohn begrüßt wurde. Die große Dankbarkeit über die Zuverlässigkeit und Fürsorglichkeit der Freunde ist vor dem Hintergrund der traumatischen Erlebnisse nicht nur verständlich, sondern bewegend.
Bewegend ist der gesamte, von Barbara Agnese hervorragend kommentierte Briefband: Die Erfahrung von Shoah und Weltkrieg hinter sich, suchen die Dichterinnen Möglichkeiten für eine im besten Sinne menschenfreundliche, geistige und freie Gesellschaft, dabei schwankend zwischen Bangen und Hoffen. Neben aller literaturhistorischen Bedeutung dieser Texte spiegeln sie den europäischen Zeitgeist der 1950er- und 1960er-Jahre.
Vor allem aber ist die Lektüre der Briefe, besonders der von Kaschnitz und Sachs, ein großer ästhetischer Genuss.
Jürgen Israel
Jürgen Israel ist Publizist und beratender Mitarbeiter der "zeitzeichen"-Redaktion. Er lebt in Neuenhagen bei Berlin.