Eine Passage, die mich nicht mehr loslässt, findet sich etwa in der Mitte des Buches. Myriam, die nach dem Verbleib ihrer jüdischen Familie forscht, erhält erst Ende 1947 eine offizielle Mitteilung des Bürgermeisters des Dorfes, in dem ihre Familie zuletzt gelebt hatte. Es ist genau derselbe Bürgermeister, der während des Krieges und der Shoa die Deportation ihrer Familie unterzeichnet hatte und sich nach Abschluss der Deportationen selber dazu gratuliert hatte, dass sein Dorf endlich judenrein sei. 1945, so die Autorin, habe de Gaulle gezielt verfügt, die Beamten in den Verwaltungen zu belassen, da sie ja nur ihre Pflicht getan hätten und sich nun mit den Opfern versöhnen müssten. Für die Autorin eine Zumutung und Heuchelei ohnegleichen: „Der französische Staat sagte den Juden: Wir sind nicht schuld daran, dass eure Familien ermordet wurden. Sie sind ... nicht zurückgekehrt.“
Als Angehörige hat Myriam auf dem Amt mit eben dem Täter zu tun, der Jahre zuvor das Todesurteil ihrer Familie verfügt hatte. Auf den Todesurkunden steht nicht einmal die nackte Wahrheit, sondern verschleiernd: „nicht zurückgekehrt“ statt etwa „ermordet in Auschwitz“. Anne Berest prangert es an, das uralte Ritual der Verdrängung und Verleugnung nach Kriegen und anderen moralischen Katastrophen: Sie sind ausgebrochen und wurden nicht ausgebrütet. Sie haben sich ereignet und wurden nicht begangen. Die Täter haben ihre Pflicht getan, aber kein Unrecht verübt.
Danach will niemand mehr darüber reden. Man geht zur Tagesordnung über, als wäre nichts geschehen. Das Ausmaß der Mitwirkung der Franzosen an der nationalsozialistischen Agenda bis hin zur Shoa einschließlich der offiziellen Politik des Landes nach 1945 ist mir bislang nicht klar gewesen. Das unverblümt zu schildern, ist eines der Verdienste des Romans von Anne Berest. Die 1979 geborene Autorin ist auch Schauspielerin und Regisseurin. Vor allem versteht sie sich als Pariserin, wie ihre Mitwirkung bei dem Bestseller How to be a Parisian whereever you are zeigt. Mit ihrer Schwester zusammen hat sie eine romanhafte Biographie über das erste Drittel des langen Lebens ihrer Urgroßmutter Gabriële Buffet-Picabia verfasst, eine freigeistige Musikerin, der die Männer zu Füßen lagen. Anne Berest ist aber offenbar noch etwas: eine (säkulare) Jüdin. Davon zeugt nun dieser wunderbare Roman.
Er ist, zugegeben, lang geraten, mitunter etwas langatmig, aber dennoch eine großartige Lektüre für geübte Leser. Das Buch, unterteilt in drei Unterbücher, ist ein jüdisches Familienepos über mehrere Generationen. Es ist zugleich ein Erinnerungsroman, eine Liebes- und Detektivgeschichte sowie ein Dokument der Zeitgeschichte bis hinab zu deren tiefsten Abgründen. Es reicht bis in die Gegenwart. Die Tochter der Autorin bekommt den Antisemitismus bereits in der Schule zu spüren. Starke Frauen stehen in jeder Generation im Mittelpunkt. Nicht mehr die jüdische Religion, sondern die Menschlichkeit dieser Frauen, ihr Mut (etwa das Engagement in der Résistance) und ihre unablässige Suche nach der Wahrheit machen die Seele dieser Familie aus. Anne Berest bricht das beredte Schweigen ihrer Mutter. Deren Familienrecherchen bilden die Grundlage für diese Chronik, zu einem Roman gewoben durch weitere Detektivarbeit sowie verfremdete und fiktionale Inhalte. Wer bereit ist, lesend der ganzen Klaviatur menschlicher Gefühle nachzuspüren, wird bei diesem Buch auf seine und ihre Kosten kommen.
Martin Bauschke
Martin Bauschke ist Theologe und Religionswissenschaftler. Er wohnt in Berlin.