Umgang mit dem Unentschiedenen

Krank oder gesund? Auch in dieser Hinsicht leben wir in nichtbinären Zeiten
Foto: privat

Vor vier Wochen ging ich zum Arzt, weil mein Fuß schmerzte. Das Röntgenbild zeigte dummerweise einen Knöchelbruch. Ich verließ die Praxis mit einer Orthese - so heißt heute das, was früher der Gips war -, einem strengen Verbot, den Fuß zu belasten, und einer Krankschreibung für fünf Wochen. 

Nachdem ich mich mühsam auf einem Bein in meine Altbauwohnung im dritten Stock bugsiert hatte, legte ich mich aufs Sofa und fragte mich, was das heutzutage eigentlich bedeutet: krankgeschrieben sein. 

Noch vor fünf Jahren wäre die Antwort leicht gewesen. Ich hätte alle Termine und Aufträge abgesagt und es mir mit einem Stapel Bücher respektive Netflix gemütlich gemacht. Anders wäre es gar nicht gegangen, denn für praktisch alle Aspekte meiner Arbeit hätte ich mich außer Haus begeben müssen: Daten und Archive waren stationär auf dem Computer im Büro, viele  Angelegenheiten wurden auf Papier abgewickelt, mussten also handfest gestempelt und unterschrieben werden. Sitzungen und Veranstaltungen fanden ausschließlich „in Präsenz“ statt und waren damit unerreichbar für Menschen mit Knöchelbrüchen.

Heute kann ich geschätzte 80 Prozent meiner Arbeit von zuhause aus erledigen. Daran ist natürlich Corona schuld. Seit der Pandemie wurde auch mein Arbeitsplatz, wie so viele, in die Cloud verlegt. Laut Institut der deutschen Wirtschaft arbeitet inzwischen ein Drittel aller Erwerbstätigen im Büro und geht damit einer Tätigkeit nach, die prinzipiell digitalisierbar ist. Nicht nur Telefonate und Mails erreichen mich zuhause, auch Daten und Archive kann ich abrufen. Vorgänge, die noch vor kurzem Papier erforderten, werden nun elektronisch gestempelt, Sitzungen finden oft auch dann per Zoom statt, wenn niemand fußkrank ist. Und falls doch mal nicht, kann ich mich einfach „dazuschalten“.

Andere Aktivitäten

Ich könnte also trotz Krankschreibung auch mit gebrochenem Fuß weiter arbeiten, aber sollte ich das? Als festangestellte Arbeitnehmerin geht es meinen Chef schließlich nichts an, was ich „habe“. Ich könnte doch auch mit Fieber, Kopfschmerz und schwerer Erkältung im Bett liegen und damit tatsächlich arbeitsunfähig sein. Mehr als eine Mail mit „Ich bin dann mal fünf Wochen nicht da“ bin ich meinem Arbeitgeber im Prinzip nicht schuldig. 

Dumm ist bloß, dass in meinem Leben auch noch andere Aktivitäten stattfinden. Und viele davon sind im Internet zu sehen. Den bereits angekündigten Live-Instagram-Stream zur Reform des Abtreibungsverbots zum Beispiel habe ich nicht abgesagt, denn ich wollte unbedingt dabei sein. Auch einen lange geplanten Vortrag in Zürich habe ich gehalten - dass ich nicht persönlich hinfahren konnte, war zwar schade, aber wozu gibt es Bildschirm und Internet. 

Doch damit stellte sich für mich die ethische Frage, ob es okay ist, per Zoom Vorträge zu halten, am Teammeeting aber nicht teilzunehmen. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie genau die rechtlichen Regelungen diesbezüglich sind und ob es überhaupt schon welche gibt für solche Situationen. Aber mir erschien es nicht richtig. Ich nahm also am Teammeeting teil. Und mehr noch: Ich beantwortete E-Mails, redigierte Artikel und stellte sie online, führte Interviews - und das alles nicht nur, weil ich so ein pflichtbewusster Mensch bin. Sondern auch, weil ein Großteil dieser Arbeit ansonsten liegenbleiben würde. Nach fünf Wochen käme ich dann ins Büro zurück und würde mich einem beängstigenden Berg an unerledigten Dingen gegenüberstehen. Dann doch lieber das ein oder andere gleich erledigen.

Ein Mittelding

Voll einsatzfähig war ich in diesen fünf Wochen natürlich nicht. Ich hätte mir niemals vorgestellt, wie umständlich ein Leben auf Krücken ist. Jeder Toilettengang dauert dreimal so lang, der Transport von Dingen ist eine logistische Herausforderung erster Kajüte. Kurz gesagt: Ich war zwar nicht krank, aber gesund eben auch nicht. Es war ein Mittelding.

Wir leben heute in jeglicher Hinsicht in nichtbinären Zeiten. Grautöne, Spektren, Uneindeutigkeiten sind die neue Norm. Statt Schwarz und Weiß, Ja und Nein, Entweder - Oder haben wir nur noch Sowohl als Auch. Mehr oder weniger. Dies nicht, aber das auch nicht. 

Das macht das Leben kompliziert, denn es gibt keine klaren Schubladen mehr mit festen Regeln, was in Fall A und was in Fall B gilt, was erlaubt ist und was verboten, was ich tun muss und was nicht. Wir müssen mehr denn je ausbalancieren, abwägen, argumentieren, selbst Entscheidungen fällen. Aber dadurch wird das Leben auch interessanter. Potenziell besser. Wir müssen nur noch eine gute Kultur für den Umgang mit dem Unentschiedenen entwickeln.

 

 

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