Wenig Wissen, viele Unterstellungen

Die deutsche Debatte über Nahost nach dem 7. Oktober 2023
Pro-Palästina-Demonstration am 3. Februar 2024 in Berlin.
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Pro-Palästina-Demonstration in Berlin am 3. Februar 2024.

In der Diskussionen über Palästina und Israel wird viel Haltung mit wenig Kenntnis vermischt. Dies bedauern die Tübinger Religionswissenschaftlerin und Politologin Katja Buck und der Theologe Jens Nieper, der lange Jahre das Nahostreferat der EKD leitete. Die beiden Nahostexperten meinen, der Antisemitismus-Vorwurf dürfe nicht zum „Totschlag-Argument für unbequeme Meinungen“ werden und begründen dies ausführlich.

Spätestens seit dem 7. Oktober wird wieder viel und heftig über Palästina und Israel diskutiert. Und je näher der Weltgebetstag am 1. März rückt, bei dem weltweit nach einer Liturgie aus Palästina Gottesdienst gefeiert wird, desto lauter werden hierzulande die Stimmen der Kritiker. Auffallend dabei ist, mit wie viel Halbwissen, Vorurteilen und Dogmatismus in Hinblick auf alles Palästinensische argumentiert wird. 

Jüngstes Beispiel: Der Artikel „Fatale Reaktionen“, der Anfang Januar auf zeitzeichen.net erschienen ist. Darin wirft der Bochumer Theologe Günter Thomas dem Weltgebetstag Antisemitismus sowie der weltweiten Ökumene Empathielosigkeit und einseitige Israelkritik vor. Seine Argumentation weist erstaunliche Lücken, Fehlannahmen und Unterstellungen auf, die typisch sind für die Auseinandersetzung mit Palästina in den deutschen Kirchen. Ganz abgesehen davon muss sein theologischer Ansatz deutlich hinterfragt werden.

Es fängt mit der Bezeichnung an, mit der man das, was die Hamas am 7. Oktober angerichtet hat, benennt. Viele TheologInnen, die ihre akademische und geistliche Heimat im jüdisch-christlichen Gespräch haben, greifen auf den Begriff „Pogrom“ zurück. Der brutale Angriff auf die israelische Zivilbevölkerung müsse „im Kontext der langen Geschichte von Pogromen gegen Juden“ gesehen werden, schreibt auch Thomas.

Aber ist „Pogrom“ hier überhaupt der richtige Begriff? Bezeichnet er doch ein Massaker an einer schwachen Minderheit ausgehend von einer Mehrheitsbevölkerung innerhalb eines gemeinsam besiedelten Territoriums. Zur Erinnerung: Die Hamas-Terroristen hatten einen stark gesicherten Grenzzaun zwischen zwei getrennten Territorien überwunden und wahllos Menschen im souveränen Nachbarland niedergemetzelt. Ja, die meisten davon waren israelische Jüdinnen und Juden, doch auch asiatische Landarbeiter und arabische Israelis wurden abgeschlachtet. Eben alle, die sie greifen konnten. 

Judenhass maßgebliche Triebfeder?

Wer sich für den Begriff „Pogrom“ entscheidet, kann damit den tiefsitzenden Judenhass der Hamas betonen. Dass dieser in deren Ideologie eine Rolle spielt, steht außer Frage. Doch mit welcher Sicherheit lässt sich sagen, dass Judenhass die maßgebliche Triebfeder für das Massaker am 7. Oktober war? Wäre die Hamas weniger brutal vorgegangen, wenn das Land des Feindes zum Beispiel ein buddhistischer Staat gewesen wäre? Ging es den Terroristen bei ihrem mörderischen Treiben nicht vor allem darum, aller Welt und insbesondere Israel die eigene Brutalität und damit die eigene Macht vor Augen zu führen, um Terror zu verbreiten? 

Auffallend in der hiesigen Debatte ist, wie viele sich zu Palästina melden, ohne selbst je in den palästinensischen Gebieten gewesen zu sein – also hinter der Mauer oder gar in Gaza. Auf Kontakte, Austausch, vielleicht sogar Freundschaften zu PalästinenserInnen oder palästinensischen Theologenkollegen können nur die wenigstens zurückgreifen. Stattdessen werden am Schreibtisch in Deutschland Schriften und Dokumente studiert. Einen besonderen Hype unter Palästina-kritischen TheologInnen erlebt gerade die Gründungscharta der Hamas. Auch Thomas hat dazu schnell mal bei Wikipedia und dem Handbook of Contemporary Islam and Muslim Lives vorbeigeschaut – und pickt sich das raus, was in seine Argumentation passt: den Israelhass der Hamas, das religiöse Element des politischen Islam und den ideologischen Einfluss des Nationalsozialismus auf selbigen. 

Pauschal und unterkomplex

Das ist zwar nicht falsch, bleibt in seiner Pauschalität aber unterkomplex und wird der Wirklichkeit vor Ort mitnichten gerecht. Nicht umsonst diskutieren Historiker, Islamwissenschaftler und muslimische Theologen seit Jahrzehnten genau über diese Punkte – und zwar kontrovers. Thomas und anderen selbsternannten „Hamas-Kennern“ reichen dagegen ein paar wenige Sätze aus einem Online-Lexikon, um ein endgültiges und umfassendes Urteil über die Hamas zu fällen. 

Um allen Missverständnissen an dieser Stelle einen Riegel vorzuschieben: Die Hamas soll hier nicht reingewaschen werden. Sie ist eine zynische Terrorgruppe, deren Tun und Handeln mit nichts zu rechtfertigen ist und die eine Ideologie verfolgt, in der andere Religionen abgewertet werden und nur eine Interpretation des Koran zugelassen wird. Doch wer zur Konfliktlösung beitragen möchte, sollte nicht unterkomplex argumentieren und wenigstens ansatzweise versuchen, so viel wie möglich von der Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort verstehen zu wollen. Die lässt sich auch in Gaza nicht allein mit Schwarz und Weiß beschreiben. Auf die Zwischentöne kommt es an. 

Wer das Verhältnis der Menschen in Gaza zur Hamas beschreiben will, kann nicht allein auf die Gründungscharta zurückgreifen, sondern sollte sich vergegenwärtigen, dass die Hamas seit 2007 die alleinige gesellschaftsgestaltende Kraft in Gaza ist. Wer dort eine Schule oder einen Kindergarten leitet, hat automatisch mit der Bildungsbehörde zu tun. Und die wird nun mal von der Hamas geführt. Wer ein Krankenhaus verwaltet, muss mit der Gesundheitsbehörde kooperieren und hat automatisch mit Leuten von der Hamas zu tun. Die Hamas hat es außerdem verstanden, sich bei bestimmten Bevölkerungsschichten einen guten Ruf zu verschaffen – und das nicht durch Terror, sondern durch Sozialleistungen. Wer als Muslim in Not gerät, dem hilft die Hamas auf unkomplizierte Weise finanziell und wirtschaftlich. Tatsache ist, dass in Gaza in den letzten Jahren niemand an der Hamas vorbeigekommen ist.

Das Label „Hamas-nah“ sollten wir deswegen dringend aus dem Werkzeugkasten der wohlfeilen Anschuldigungen gegenüber Palästinensern entfernen. Nicht, weil die Hamas gar nicht so schlimm wäre, wie sie ist, sondern weil es den Menschen in Gaza nicht gerecht wird. Sie mussten und müssen mit der Hamas leben, ob sie es wollen oder nicht. Das gilt für Christen und Muslime gleichermaßen. Und die Situation im Westjordanland ist dabei nicht grundsätzlich anders: auch dort ist die Hamas eine maßgebliche gesellschaftliche Kraft, gegen die sich Palästinenser nicht einfach positionieren können.

Mit wenigen Versatzstücken zu gefährlichen Thesen

Wer sich wie Thomas nicht für die Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort interessiert, dem reichen ein paar Versatzstücke über die Hamas, um die gefährliche These von einem religiösen Krieg zwischen Judentum und Islam zu untermauern. Dabei könnte man auch ganz banal sagen: Hier geht es zuallererst um ein Stück Land, das zwei Seiten für sich beanspruchen, und nicht um Religion. 

Wer sich aber für die Grundannahme „religiöser Krieg“ entscheidet, der sieht in anderen Religionen ein Problem, in diesem Fall im Islam. Das ist gefährlich. Denn so verbaut man zum einen den Blick auf die Friedens- und Versöhnungspotenziale, die es in allen Religionen gibt und die es dringend brauchen wird, um zu einem dauerhaften Frieden in dem Land zu kommen. Zum anderen blendet man damit aus, dass Muslime und Juden über die Jahrhunderte sehr wohl auch friedlich nebeneinander leben konnten und es bis heute zum Teil noch tun. Nicht alle Muslime hassen Juden und nicht alle Juden hassen Muslime. An solche guten Beispiele gilt es anzuknüpfen, anstatt Keile zwischen die Religionsgemeinschaften zu treiben. 

Gefragt werden muss auch, welche Rolle bei der These von einem religiösen Konflikt der kleinen Gruppe der palästinensischen Christinnen und Christen zukommt. Sie werden reduziert auf eine vom Islam bedrängte Minderheit. Fragt man sie selbst, hört man dagegen, dass sie – anders als in anderen Teilen der muslimischen Welt – eigentlich keine Probleme mit den Muslimen haben. 

Selbst wenn es wie überall auf der Welt auch in Palästina aufgrund des vorliegenden Mehrheits-Minderheitsverhältnisses von 98,5 Prozent Muslimen zu 1,5 Prozent Christen in der Bevölkerung zu Machtspielen kommen mag, so ist das Verhältnis zwischen Muslimen und Christen weitestgehend gut. Wer das anders sehen will, hat von der Realität vor Ort nicht viel verstanden und verschärft den Konflikt, anstatt zu dessen Lösung beizutragen. 

Gleiche Kultur, gleiche Geschichte

Der gute Ruf der Christen in der muslimischen Bevölkerung hängt vor allem damit zusammen, dass Christen in Palästina durch ihre Bildungs- und Sozialarbeit einen weit größeren Beitrag zur Gesellschaft leisten, als es ihre kleine Zahl vermuten lässt. So sind die Kirchen in der Westbank und Ost-Jerusalem nach der Palästinensischen Autonomiebehörde und der UNRWA, dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, der drittgrößte Arbeitgeber. 1,9 Millionen der insgesamt 5,5 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser erreichen sie mit ihren Schulen, Universitäten und Gesundheitseinrichtungen. 

Christen und Muslime in Palästina fühlen sich nicht nur der gleichen Gesellschaft verantwortlich, sie teilen auch die gleiche Kultur, die gleiche Geschichte und den gleichen Alltag. Und der ist nun mal einerseits von der Nakba 1948 geprägt, der Vertreibung von 750.000 Palästinenserinnen und Palästinenser im Vorfeld und Gefolge der Staatsgründung Israels, andererseits von der israelischen Besatzung seit 1967. Und so wie der Besatzungsalltag keinen Unterschied zwischen Christen und Muslimen macht, so wurden auch bei der Nakba Christen und Muslime gleichermaßen vertrieben. Bis heute bewahren die Nachfahren den Schlüssel der jeweiligen Häuser auf als Zeichen der Hoffnung auf eine Rückkehr. 

Dieses Symbol wird in Deutschland mittlerweile als vermeintlich antisemitisches „Hamas-Symbol“ geächtet, womit wir beim Thema Weltgebetstag wären, bei dem der Schlüssel eine gewisse Rolle spielt. Die Liturgie für den weltweiten Gottesdienst, der traditionell am ersten Freitag im März gefeiert wird, kommt dieses Jahr ausgerechnet aus Palästina. Dass dem so ist, hat nichts mit den jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten zu tun, sondern geht auf eine Entscheidung des internationalen Weltgebetstags-Komitees vor sieben Jahren zurück. Auch wurde die Gottesdienstordnung von den palästinensischen Christinnen bereits 2021 geschrieben und dann in die jeweiligen Landessprachen übersetzt. Auf Deutsch wurde sie Anfang 2023 veröffentlicht. Und weil man sich bewusst war, dass ein Gottesdienst für Palästina in Deutschland kein Selbstläufer sein würde, hatten die in Deutschland für den Weltgebetstag Verantwortlichen die Gottesdienstordnung auch gleich verschiedenen Stellen in den Kirchen zur Begutachtung vorgelegt, Antisemitismusbeauftragten, Verantwortlichen für das jüdisch-christliche Gespräch und auf evangelischer Seite auch der Evangelischen Mittelostkommission. Keiner legte ein Veto ein. 

Doch dann kam der 7. Oktober, und auf einmal wurden die Dinge ganz anders interpretiert. Der Deutsche Koordinierungsrat für die Gesellschaften für die Christlich-Jüdische Zusammenarbeit warf dem Weltgebetstag versteckten christlichen Antisemitismus vor, weil nicht explizit erwähnt werde, dass Jesus ein Jude war und der jüdische Kontext des Christentums bewusst ausgeblendet werde. Günther Thomas setzte in einem offenen Brief an die beiden großen Kirchen noch eins drauf und sprach von „eliminatorischem Antisemitismus“ und „einer Dämonisierung Israels“.

Ihre Kritik machten sowohl der Koordinierungsrat als auch Günter Thomas vor allem an dem Mottobild des Weltgebetstags, einem Bild der palästinensischen Künstlerin Halima Aziz, fest. Sie hatte drei palästinensische Frauen im Kreis sitzend und betend gemalt. Als Schmuck hatte sie ihnen kleine Schlüssel an Hals und an die Ohren gemalt – eben das Symbol für die Hoffnung auf Rückkehr. 

Eigene Interpretation zum Faktum erklärt

Dies sei „eine antisemitische Bildsprache“, kritisieren Thomas und andere. Denn die Rückkehrsehnsucht der Palästinenser sei „schlichter eliminatorischer Antisemitismus“. Mit dem Wunsch nach Rückkehr in die alten Häuser verknüpften die Palästinenser die Idee, den Staat Israel zu zerstören und alle Juden ins Meer zu werfen. Das ist zuallererst mal eine Unterstellung. Thomas wirft einen Blick auf weitere Werke von Halima Aziz und interpretiert daraus, dass sie die Rückkehrhoffnung „offensichtlich nicht auf das Palästina in den Grenzen von 1967“ beziehe. „Es geht um alles – ohne Israel, ,from the river to the sea‘“. Man kann die Gemälde von Aziz auch anders interpretieren. Bei Thomas wird die eigene Interpretation aber zum Faktum. 

Dem gleichen Muster folgt er bei der Interpretation der Mohnblumen, welche Halima Aziz auf ihrem Bild den Frauen in die Haare geflochten und in die Hände gegeben hat. Was Thomas offenbar nicht weiß: In der palästinensischen Kunst spielt der Mohn seit langem eine wichtige Rolle. In Blüte und Stängel kommen schließlich alle vier Farben der palästinensischen Flagge vor: Rot, Schwarz, Weiß und Grün. Und so wie der Mohn in den Ländern des Commonwealth an die Kriegstoten aus dem Ersten Weltkrieg erinnert, so gilt er in Palästina als Symbol des Widerstands und des kulturellen Erbes. Ja, das Rot steht dabei für das vergossene Blut von denjenigen, die für die palästinensische Nation ihr Leben verloren haben. Anstatt den Palästinensern ihre eigene Symbolik zuzugestehen, assoziiert Thomas weiter und sieht in der Mohnblume „das Blut der Kämpfer, die sich mit islamischem Furor kompromisslos und explizit die Auslöschung Israels und den Tod der Juden auf die Fahne geschrieben haben. All dieses Blut im Bild steht für die Auslöschung Israels.“ Auch hier fußt sein Urteil wieder allein auf seiner eigenen Interpretation. 

Gesprochen hat er mit Halima Aziz nicht, die übrigens in Hannover lebt. Doch auch kein anderer ihrer scharfen Kritiker in Deutschland hat sie gefragt, wie sie ihre Kunst eigentlich verstanden wissen möchte. Angesichts der Vorwürfe verweigert sie sich mittlerweile jedem Gespräch, was die Sache nicht einfacher macht. Kurz nach dem 7. Oktober war ihr gegenüber der Vorwurf der „Hamas-Nähe“ erhoben worden. Sie habe sich in einem Post in den sozialen Medien öffentlich zur Hamas bekannt, hieß es. Bisher ist dieser Post aber nirgends als Beleg aufgetaucht. Der hehre Grundsatz, dass das Recht im Zweifel auf der Seite des Angeklagten ist, wird ohne mit der Wimper zu zucken vom Tisch gefegt. Würde man über einen jüdischen Künstler ein ebenso vorschnelles Urteil bilden, würde man sich zurecht den Vorwurf des Antisemitismus einhandeln. Halima Aziz dagegen kann man offenbar ungestraft unter Generalverdacht stellen, so wie alle und alles, was aus Palästina kommt.

Schließlich stellt sich die Frage, ob es überhaupt eine Symbolik gibt, die manche Kreise den Palästinensern zugestehen würden, ohne ihnen dann doch gleich wieder reflexartig antiisraelische oder antisemitische Intentionen zuzuschreiben. Offensichtlich ist manchen Kritikerinnen und Kritikern noch gar nicht (oder nicht mehr) bewusst, dass wir hier zwei Völker im Konflikt erleben.

Antisemitismus-Vorwurf schnell bei der Hand

Man kann nicht allen, die Kritik an der israelischen Besatzung üben und einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza fordern, unbesehen Antisemitismus vorwerfen, wie zum Beispiel den ökumenischen Großverbänden. Gabriele Scherle, Pröpstin in Frankfurt und Vorstandsvorsitzende der Bildungsstätte Anne Frank, hat dies zusammen mit Peter Scherle Anfang November 2023 im Feuilleton der FAZ vorexerziert. Die beiden werfen dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) eine „verschleiernde Sprache“ in Bezug auf die Hamas vor und attestieren der Institution einen „moralischen Bankrott“. Günther Thomas eifert ihnen nach, knöpft sich die Verlautbarungen der letzten Monate des ÖRK, des Lutherischen Weltbundes (LWB) und der Weltgemeinschaft der Reformierten Kirchen (WGRK) vor und wirft ihnen ebenfalls Relativierung des Hamas-Terrors vor. Er attestiert ihnen Zynismus, „absurde moralische Arroganz“, „aggressive Vernichtungsträume“ und „kalte Empathiefreiheit gegenüber Israel“ und spricht am Ende von einer „lebendigen Ökumene des Antisemitismus“. Sie hätten seiner Meinung nach den Terror der Hamas nicht angemessen genug verurteilt. Doch was ist eigentlich „angemessen“? 

Zuerst: Ja, es wäre begrüßenswert gewesen, wenn die kirchlichen Weltorganisationen deutlicher die Untaten der Hamas benannt und verurteilt hätten. Aber statt zu überlegen, warum die Weltbünde eher auf Seiten der Palästinenser stehen, schwingen Thomas, Scherle und all die anderen, die in den Feuilletons und sozialen Medien gegen die ökumenischen Kirchenbünde wettern, die Antisemitismuskeule und machen es sich damit allzu bequem. Dass Deutschland mit seiner Sichtweise auf Israel und den Nahostkonflikt nicht nur in der Ökumene, sondern auch im Rahmen der Vereinten Nationen (UNO) eine Minderheitenposition vertritt, lässt sich nicht einfach dadurch erklären, dass man alle anderen als „Israelhasser“ einordnet.

Dabei liegt es doch auf der Hand. ÖRK, LWB und WGRK sind kirchliche Lobbyorganisationen: Sie vertreten die Interessen und Ansichten ihrer Mitglieder. Weder das Judentum noch der Staat Israel sind in ihnen Mitglieder. Zwar sind einige Mitgliedskirchen auch im Staat Israel aktiv. Eine dezidiert „israelische“ Kirche gibt es aber nicht. Entsprechend kann es auch keinen Weltgebetstag aus Israel geben, wie es manch einer schon gefordert hat. Die Mitgliedskirchen im Heiligen Land wiederum erleben den Staat Israel nur bedingt als Partner. Sie sind mehrheitlich arabisch geprägt und erleben immer wieder, wie sie durch die tonangebende jüdische Seite benachteiligt werden und um ihre traditionellen Rechte ringen müssen. 

Die deutschen Kirchen haben aufgrund der jüngeren Geschichte eine besondere Sicht auf das Judentum und den Staat Israel. Während sie sich mit der Bürde, mit dem Nazi-Terror verbunden gewesen zu sein, mit christlichem Antijudaismus und Antisemitismus befassen, kommen die meisten Kirchen der Ökumene aus Ländern der einstigen Hitler-Gegner. Viele weitere Kirchen sind noch so jung, dass sie diese Phase der Geschichte gar nicht direkt betrifft. Das befreit diese Kirchen nicht von der Notwendigkeit, sich bezüglich des Verhältnisses zum Judentum bewusst zu werden, stellt diesen Prozess aber unter andere Vorzeichen.

Israel als Kolonialmacht?

Hinzu kommt, dass viele Kirchen aus Ländern stammen, die durch einen Unabhängigkeitskampf und gewaltsamen Widerstand selbständig wurden. Südafrika zum Beispiel. Sie sehen in Israel – zumindest bezogen auf den Gazastreifen und die Westbank – eine Kolonialmacht und solidarisieren sich mit der palästinensischen Seite.

Günter Thomas wie auch die Scherles machen ihr Urteil über die kirchlichen Weltbünde an einer punktuellen Beobachtung fest. Dass der ÖRK seit Jahrzehnten sich im christlich-jüdischen Dialog engagiert, wird unter den Tisch fallen gelassen. Und dass der LWB gerade erst im September 2023 das Studiendokument „Hope for the Future“ zur Erneuerung der jüdisch-christlichen Beziehungen vorgelegt hat, scheint gar nicht wahrgenommen worden zu sein. Solche Lapsus unterlaufen, wenn man nicht zwischen Volk Israel (Judentum), Land Israel und Staat Israel differenzieren will.

Man muss die Erfahrungen und Erkenntnisse aus der besonderen Begegnung und Beschäftigung mit dem Judentum nach Auschwitz für die Ökumene nicht aufgeben. Im Gegenteil: Es würde die weltweite Ökumene bereichern, wenn es gelingen würde, nicht-deutsche Theologinnen und Theologen an diesen Erfahrungen auf Augenhöhe teilhaben zu lassen. Wer aber anderen, die nicht sofort die eigenen Ansichten teilen, gleich minder entwickelte Theologie oder gar Häresie vorwirft, sollte sein Verständnis von Ökumene überdenken. Mit welchem Recht kann man deutschen Beiträgen zur Theologie oder zur kirchlichen Praxis eine höhere Maßgeblichkeit zuschreiben?! 

Ökumene ist die Begegnung verschiedener Glaubenstraditionen, die miteinander um eine Einheit in Verschiedenheit und Vielfalt ringen. Es gilt unterschiedliche Theologien und Sichtweisen auszuhalten und voneinander zu lernen. Stattdessen fordern manche von denen, die über die Palästinafreundlichkeit in der Ökumene nur verächtlich den Kopf schütteln, die deutschen Kirchen sollten ihre finanziellen Beiträge an die Weltbünde, von denen diese existentiell abhängen, einstellen, sollten diese nicht den deutschen theologischen Einsichten folgen. Das grenzt an paternalistische Erpressung.

Es ist ein fragwürdiges Ökumene-Verständnis, wenn man deutschen Beiträgen zur Theologie oder zur kirchlichen Praxis eine höhere Maßgeblichkeit zuschreibt. Und es ist nicht nur eine Anfrage an die weltweite Ökumene, weshalb beispielsweise Erkenntnisse des christlich-jüdischen Dialogs, die gerade auch in Deutschland erarbeitet wurden, nicht ökumenisch stärker wahrgenommen werden und Relevanz entfalten, sondern es ist auch eine Anfrage an die deutschen Kirchen – inklusive Universitätsfakultäten, Akademien, Forschungszentren et cetera: Liegt das tatsächlich nur am Antijudaismus, ja Antisemitismus der anderen? 

Zuhören können und wollen

Ja, Ökumene ist manchmal mühsam, auch herausfordernd, irritierend und erfordert Geduld, sowie die Bereitschaft zuzuhören. Die bringen die Wenigsten mit. Lieber haut man laut und mit dem alleinigen Anspruch auf Deutungshoheit auf palästinensische Theologie ein, die seit Jahrzehnten versucht, die Botschaft der Bibel auf dem Hintergrund der israelischen Besatzung zu verstehen. 

Doch Thomas spannt seine Kritik an den kirchlichen Weltorganisationen und am Weltgebetstag noch weiter auf und versteigt sich in eine theologische Grund- und Generalkritik. Dabei ist seine These, dass in der ökumenischen Bewegung die „vertikale“ (also eine auf Gott ausgerichtete) Theologie durch eine „horizontale“ (sich am Mitmenschen orientierende) ersetzt worden sei, wodurch es zu falschen Konsequenzen in Bezug zu Gott und dem Volk Israel komme.

Es ist zu hinterfragen, ob das „Entweder-Oder“ überhaupt stimmt, das Thomas dabei entwirft. Zum einen wäre zu prüfen, ob es diesen Wechsel tatsächlich gegeben hat. Zumindest beim ÖRK bilden ja zum Beispiel die orthodoxen Kirchen einen signifikanten Teil der Mitgliedskirchen: Gerade bei diesen sind diakonisches und politisches Engagement nicht primär profilbildend, sondern die Anbetung Gottes.

Und dann ist höchst fraglich, ob sich „horizontale“ und “vertikale“ Theologie tatsächlich gegenüberstehen. Will nicht der Gott der hebräischen und der christlichen Bibel einerseits gefürchtet und gefeiert werden, und verweist andererseits dieser Gott nicht ständig den Menschen auf seinen Mitmenschen? Der beste Beleg dafür findet sich in Lukas 10, wo der Jude Jesus von einem jüdischen Gesetzeslehrer gefragt wird, was denn zum ewigen Leben führe und Jesus ihm die Gegenfrage stellt, was denn in der Tora geschrieben stehe. Der Gesetzeslehrer zitiert aus der hebräischen Bibel, dem TeNaK[1]: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“. Thomas sollte eigentlich wissen, dass für die Theologie ein „Sowohl-als-auch“ gilt.

Wie fragwürdig und fehlerhaft Thomas' theologische Herangehensweise ist, verdeutlicht auch der emeritierte Züricher Ethiker Johannes Fischer in zwei aufschlussreichen Texten (siehe hier und hier).

Wohlfeile Schreibtischtheologie

Palästinensische Christen wehren sich gegen „westliche“ Schreibtisch-Theologie, die als Gedankenkonstruktion wunderbar klingt und schlüssig wirkt, die aber einerseits die verfassenden Theologen und -innen nichts kostet, da sie von den Folgen nicht betroffen sind, andererseits aber den tatsächlich Betroffenen die Existenz nimmt. Der Beitrag von Günter Thomas ist ein Paradebeispiel dafür.

Es stößt bitter auf, dass der Bochumer Theologe bei anderen Empathielosigkeit gegen die jüdische Seite reklamiert, zugleich aber die palästinensische Seite fast völlig ignoriert oder verzerrt. Über 26.000 – zumeist zivile – palästinensische Opfer im Gazastreifen sind nur für denjenigen ein Kollateralschaden, dem Menschen nicht gleichwertig sind. Palästinenser sind für Thomas einfach keine Gesprächspartner, und man hat den Eindruck, dass er sich weder mit einem der prägenden aktuellen Theologinnen und Theologen aus dem arabischen Kontext unterhalten hat, noch die Lebenswirklichkeit jenseits der völkerrechtlich illegalen israelischen Sperranlagen wahrgenommen (geschweige denn erlebt) hat. Dabei begegnet Thomas – und ihm ähnlich auch der Wiener Systematiker Ulrich H.J. Körtner– den Palästinensern mit einer grundsätzlichen „Hermeneutik des Verdachts“: Was von palästinensischer Seite kommt, kann dann nur antiisraelisch oder schlimmeres sein.

Die theologischen Ansätze aus Palästina werden unterschiedlich bewertet. Die einen bejubeln sie und schreiben ihnen „prophetisches“ Potenzial zu. Andere halten sie für fragwürdig, national unterlaufen und antijüdisch. Und selbstverständlich gibt es zahlreiche differenzierte Positionen zwischen diesen Extremen.

Jedenfalls ordnen sich die theologischen Ansätze beispielsweise eines Naim Ateek oder Mitri Raheb, einer Nora Carmi oder eines Munther Isaac, eines Michel Sabbah oder eines Jamal Khader Daibes der Befreiungs- beziehungsweise kontextuellen Theologie zu und greifen zum Teil die Empire-Theologie auf. Sie fügen sich in die weltweiten Postkolonialismus- und Imperialismus-Diskurse ein. Sie sind geprägt von einer gesellschaftlichen Situation, die durch jahrzehntelange Besatzung geprägt ist, wobei die Besatzungsmacht Israel heißt. Dadurch entsteht eine Spannung zu biblischen Texten, die diese Christen auf dem Hintergrund ihres Kontextes lesen. Teile des Besatzungssystems werden bewusst an biblische Traditionen angeknüpft, wodurch politische Vorgänge religiös aufgeladen werden. So lesen die Christen im Heiligen Land in der Bibel vom Volk Israel, dem Gott stellvertretend für alle Menschen sowohl Heil verheißt, aber auch ethische Regeln nahelegt. Gleichzeitig erleben sie, dass vor ihrer Tür Panzer eines Staates stehen, der Israel heißt, und die Politik dieses Staates Israel sie drangsaliert. Auf ihrem Land entstehen völkerrechtlich illegale Siedlungen, die sich zum Beispiel „Beth El“ (Haus Gottes) nennen, als würde damit wirklich einfach die Bibel verlebendigt und fortgeschrieben.

Die palästinensische Christenheit zieht außerdem eine Linie hin zur Ur-Kirche. Sie verstehen sich als Erben der ersten Christen, wobei sie sich historischer Brüche und „Umwege“, wie sie gerade für die im Heiligen Land „jüngeren“ Kirchen (etwa Anglikaner, Lutheraner, aber auch die römische Kirche) gelten, durchaus bewusst sind. Identitätsprägend ist dabei für die einheimischen Christen im Heiligen Land, dass sie mit den biblischen „Tatorten“ tatsächlich verbunden sind und das Land der Bibel ihre Heimat ist.

Daher ist es verständlich, wenn sie empfindlich reagieren, wenn ihnen die Existenz und die Existenzberechtigung abgesprochen werden. Etwa wenn sie als kirchengeschichtlicher „Unfall“ angesehen werden und ihnen nahegelegt wird, sich angesichts der Gegenwart Israels unterzuordnen oder gar zu verschwinden. Oder wenn man sie – wie Thomas es tut – knapp vor Terrororganisationen einordnet.

Die weit überwiegend arabischen Christen des Heiligen Landes sind Glaubensgeschwister, deren Beitrag zur weltweiten Kirche nicht minderen Ranges ist, sondern ein zunächst ernstzunehmender Diskursbeitrag, dessen Stichhaltigkeit, Konsistenz und Relevanz sich ebenso zu erweisen hat wie Beiträge etwa eines Professors aus Bochum. 

Gefährliche Land- und Staatstheologie

Palästinensische Christen sehen jedenfalls ihre Existenz tiefgreifend infrage gestellt, wenn etwa deutsche Theologen und Theologinnen wie Günter Thomas bezogen auf Israel eine Land- und Staatstheologie entwerfen, die ignoriert, dass Millionen nichtjüdische Menschen unfreiwillig unter dem Besatzungsregime eines Staates Israel leben, dass sie tagtäglich Stück für Stück ihre Heimat verlieren, dass ihnen ihr Land genommen und die Existenzgrundlage abgesprochen werden. Eine „vertikale“, dabei aber unmenschliche evangelische, ja christliche Theologie, die bereit ist, unter Verweis auf Gott Menschen zu opfern, ist hier nicht weiterführend, sondern gefährlich. Sollen wir Christen wirklich an einen Gott glauben, der will, dass Menschen (und darunter auch Christen) in Unfreiheit leben, ihre Heimat verlieren, entrechtet werden und in hoher Zahl sterben?

Wer neuzeitliche israelische Landnahme religiös verbrämt, gesteht zu, dass weit weg von Bochum oder Frankfurt a. M. ein angeblich gottgewollter Staat errichtet wird: Thomas würde dabei nichts verlieren. Das palästinensische Recht auf Heimat und Landbesitz wird einfach nachgeordnet. Die biblische Grundidee, dass das Land auch nicht den Juden, sondern Gott gehört – und somit von Israelis und Palästinensern gleichermaßen nur „geliehen“ ist – taucht bei Thomas nicht auf.

Dabei gibt es die eine jüdische Perspektive auf das Land Israel wie auch auf den Staat Israel nicht: Da ist die jüdische Diaspora, die gar nicht in Israel lebt. Oder die haredischen Juden, die die israelische Staatsgründung als Menschenwerk ablehnen. Und viele israelische Bürgerinnen und Bürger messen ihrem Staat überhaupt keine theologische Bedeutung bei, sondern wünschen sich einen säkularen, demokratischen Staat. Schließlich werden auch die nichtjüdischen Bürgerinnen und Bürger Israels in einer solchen Land- und Staatstheologie nicht bedacht. Sie alle haben in Thomas‘ Gedanken keinen Platz. Vielmehr verbündet er sich letztlich nur mit dem nationalreligiösen Strang des Judentums.

Dem israelischen Staat eine exklusive Dignität, ja Gottverbundenheit zuzuschreiben, die keinem anderen Staat zukommt, sondert wieder einmal Juden aus, anstatt sie gleichberechtigt Bürgerinnen und Bürgern anderer Staaten gleichzustellen: Jüdische Israelis müssen sich, wenn man Thomas‘ theologischen Ansatz zu Ende denkt, nicht an internationale Konventionen halten, weil ihr Staat eine eigene, einer menschlichen Beurteilung entzogene Kategorie bildet.

Wer wie Thomas definiert, dass der Staat Israel eine Konkretion, ja Inkarnation des Weges Gottes ist, geht weit über die Aussagen etwa des Rheinischen Synodalbeschlusses von 1980 hinaus, die dem israelischen Staat eine semiotische Bedeutung zuschreibt: Mit dem Synodalbeschluss wird die Möglichkeit eröffnet, in der Existenz dieses Staates ein Handeln Gottes zu sehen – oder auch nicht. Wenn daraus aber ein Fakt und Schibboleth konstruiert wird, wird aus der individuellen Glaubensaussage ein verpflichtendes Glaubensbekenntnis.

Fragwürdiges Pflichtbekenntnis zum Staat Israel

Es ist letztendlich inkonsequent, wenn Thomas erst fordert, dem Recht des Volkes Israel auf Land und Staat sei uneingeschränkt zuzustimmen, er dann aber anmerkt, „Samaria“ und „Judäa“ könnten davon doch ausgeschlossen sein: Dann kann kein Nichtjude definieren, wo die Grenzen eines Staates Israel sein sollen. Und damit wird ein weiteres Dilemma eines theologischen Pflichtbekenntnisses zum Staat Israel deutlich. Die Bibel kennt unterschiedliche Landverheißungen: Wie will man nach der Logik von Thomas einem Landanspruch jüdischer Großisrael-Vertreter widersprechen, die das Land von Damaskus bis zum „Bach Ägyptens“ beanspruchen und für die auch das Ostjordanland gottgegeben ist?

Das Volk Israel hat in seiner Geschichte erlebt, dass es seine Eigenstaatlichkeit verloren hat. Wenn dem modernen Staat Israel eine göttliche Dignität zugeschrieben wird, dann stellt sich die Frage: Was ist denn die theologische Konsequenz, falls dieser Staat im Laufe der Geschichte wieder verschwinden würde (was wir nicht wünschen, was aber dem Staat Israel ebenso wie jedem anderen Staat geschehen könnte)? Wäre das dann auch göttliches Handeln und göttlicher Wille? 

Grundsätzlich hinterfragt werden muss die bei Thomas und zahlreichen anderen Vertreterinnen und Vertretern des jüdisch-christlichen Gesprächs die Einstellung, im Dialog mit dem Judentum hätte die christliche Seite – um nicht antisemitisch zu sein – alle jüdischen Positionen anzuerkennen, während asymmetrisch die jüdische Seite hingegen christliche Glaubensweisen ablehnen dürfe. Selbstverständlich dürfen auch Christen jüdische Sichtweisen ablehnen. Die Wahrnehmung der Differenz ist noch kein Antisemitismus. Sie wird erst zum Problem, wenn Unterschiede zu einer umfassenden Ablehnung und Herabwürdigung des Judentums führen.

Land als religiöse Kategorie?

So wie Juden die Messianität Jesu und die Inkarnation Gottes ablehnen, dürfen Christen Land beziehungsweise ein spezifisches Land als religiöse Kategorie als überwunden ansehen oder den Tempeldienst inklusive Opfer, die manche jüdische Gruppen wieder installieren wollen, für obsolet halten. Um für die Existenz des Staates Israel einzutreten, reicht das Völkerrecht völlig aus. Es braucht dafür keine theologische Begründung, die in fragwürdige und gefährliche Konstruktionen führt.

Fraglos hat der Horror des 7.Oktober offengelegt, dass ein „Weiter so!“ bezüglich Israel und der Palästinenser nicht tragfähig ist. Das muss auch Konsequenzen für die Kirchen in Deutschland wie in der Ökumene haben. Die oft von den deutschen Kirchen beschworene „doppelte Solidarität“ ist zu prüfen: War sie bisher wirklich ein doppeltes Denken an Israel und Palästinenser und ein Zur-Seite-Stehen beider? Oder erlaubte sie nur den einen, ungestört ihre jüdischen Verbindungen zu pflegen, und den anderen, sich fokussiert auf der arabischen Seite zu engagieren? 

Es ist dringend notwendig, dass die Evangelische Mittelost-Kommission (EMOK) der EKD und des EMW die eigene Position zu Israel und Palästina neu beschreibt. Die gültige Beschreibung stammt aus dem Jahr 2017. Seitdem haben sich die Umstände deutlich verändert. Zugleich müssten die Vertreter des christlich-jüdischen Dialogs überdenken, wie sie ihre Einsichten vermitteln, damit diese tatsächlich Breitenwirkung entfalten. Dies gilt sowohl für die kirchliche und gesellschaftliche Alltagswirklichkeit in Deutschland wie für den Austausch mit anderen Kirchen in der Ökumene.

Und dann müssen in der akademischen Theologie, aber auch insgesamt im gesellschaftlichen Diskurs, die Tugenden des Zuhörens, des Aushaltens von Differenzen und Argumentierens auf Augenhöhe wieder eingeübt und gepflegt werden. Der Antisemitismus-Vorwurf darf nicht zum Totschlag-Argument für unbequeme Meinungen werden. Für den dringend nötigen Kampf gegen tatsächlichen Antisemitismus, der in Deutschland ein erschreckendes Ausmaß angenommen hat, wäre dies ein Bärendienst.

 


 

 

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Katja Dorothea Buck

Katja Dorothea Buck ist Religionswissenschaftlerin und Politologin und arbeitet seit mehr als 20 Jahren zum Thema Christen im Nahen Osten, Ökumene und Dialog.

Foto: privat

Jens Nieper

Jens Nieper ist evangelischer Gemeindepfarrer in Dortmund und war zuvor unter anderem Referent bei der EKD für den Nahen und Mittleren Osten sowie für die kirchlichen Weltbünde, und er ist Vorsitzender des Unterausschusses für den Nahen und Mittleren Osten der Evangelischen Kirche von Westfalen.  


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