Fatale Reaktionen

Die Reaktion der weltweiten Ökumene auf das Pogrom vom 7. Oktober und die antijüdische Ikonografie des Weltgebetstags
Eine israelische Flagge weht an der Kölner Synagoge in der Roonstraße gegenüber dem Rathenauplatz (12. November 2023).
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Eine israelische Flagge weht an der Kölner Synagoge in der Roonstraße gegenüber dem Rathenauplatz (12. November 2023).

Nach dem terroristischen Pogrom der Hamas gegen Menschen in Israel waren die Reaktionen großer christlicher Weltorganisationen empathielos und einseitig Israel-kritisch. Und die Bildsprache des Weltgebetstags trug schon vor dem Massaker vom 7. Oktober klar antisemitische Tendenzen. Welche theologische Denken und welche Weichenstellungen diesen  Haltungen zugrunde liegen könnten, analysiert der Bochumer Theologieprofessor Günter Thomas.

Der Angriff des militärischen Arms der Hamas auf die Bevölkerung der grenznahen israelischen Dörfer war ein Pogrom. Programmatisch, gezielt und stolz sind die jüdischen Menschen vergewaltigt, gequält, gefoltert und ermordet worden. Ohne militärische Ziele, ohne jegliche auch nur versuchte Unterscheidung von Kämpfenden und Kindern. Der Kontext der Ereignisse vom 7. Oktober 2023 ist die lange Geschichte von Pogromen gegen Juden. Einfach weil sie Juden waren oder – wie die nichtjüdischen Opfer – zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren. Die Hamas-Terroristen als „Kämpfer“ oder als „Miliz“ zu bezeichnen ist ein absurder Euphemismus, der den Terror verschleiert. 

Die Charta der Hamas von 1987 ist ganz eindeutig. Die Vernichtung Israels und die unterschiedslose Ermordung der Juden ist ein religiöser Akt, ja ein religiöser Auftrag, auf den alle Muslime sich verpflichten lassen müssen. Und die stolzen Mörder begreifen sich als Gotteskrieger. Spätestens seit 2007 zeigt die Hamas, dass ihre Charta keine Lyrik ist, sondern eine Gebrauchsanweisung, ein theo-politisches und militärisches Programm. Wer die religiöse Basis der Hamas bestreitet, versteht nicht, warum diese die säkular-marxistischen Fatah-Anhänger in Gaza von den Dächern warf: „Gewalt als Gottesdienst“ (vergleiche das gleichnamige Buch von Hans Kippenberg).

Der Judenhass des Nationalsozialismus ist eine der nachweisbaren ideologischen Quellen, aus denen die 1928 gegründete Muslimbrüderschaft und damit auch die in Palästina politisch und religiös breit unterstützte Hamas bis heute ihren Hass auf Ju-den speist. Das Credo der Muslimbruderschaft ist: „Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran unsere Verfassung. Der Dschihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch.“ (Handbook of Contemporary Islam and Muslim Lives). All dies scheint schwer zu begreifen zu sein. Es ist dieses aus dem politischen Konflikt nicht herauszurechnende religiöse Element, das selbstkritisch nach der Positionierung der christlichen Kirchen fragen lässt. Die Frage steht im Raum: Wie verhielt sich die christliche Internationale in den ersten zeitnahen Reaktionen zum Pogrom? Wie positionierte sich in der ersten Woche der Lutherische Weltbund, wie die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, wie der Ökumenische Rat der Kirchen? 

„Beide Parteien müssen sich mäßigen“

In seinem Statement vom 8. Oktober „zeigt sich“ der Lutherische Weltbund (LWB) mit einer distanzierenden Empörung „tief besorgt über die eskalierende Gewalt und den sich zuspitzenden Konflikt im Heiligen Land“. Man reibt sich die Augen. Der LWB benennt zwar die Hamas, spricht aber nur von Angriffen und disqualifiziert die Israelische Verteidigung sogleich als „Vergeltung“. Die Generalsekretärin Dr. Anne Burghardt sieht sich bemüßigt zu erklären „Beide Parteien müssen sich mäßigen“, so als handle es sich nicht um ein Pogrom durch eine Terrororganisation, sondern um einen Streit im Sandkasten. 

Im gleichen, jegliche Kausalität und ethische Parteinahme verweigernden Moderatorenstil erklärt sich dann der LBW pauschal „solidarisch mit all denjenigen, die von diesem Konflikt betroffen sind“. Zu diesem Zeitpunkt war Israel noch mit der Suche von Mördern in den Kibbuzen beschäftigt! Am 11. Oktober werden dann „alle Angriffe auf die Zivilbevölkerung in Israel und Palästina“ verurteilt – ohne jegliche Unterscheidung zwischen einem gezielten Pogrom durch eine Terrororganisation wie der Hamas und einer Selbstverteidigung eines demokratischen Staates, der damit kämpft, dass die Terroristen menschliche Schutzschilde benutzen.) Und der indirekte Vorwurf, der nicht fehlen darf: Die Ermahnung speziell an die Israelis, sich an das humanitäre Völkerrecht zu halten. Hat sich die Hamas am 7. Oktober 2023 daran gehalten? Wirkliche Sorge und Empathie zeigt der LWB nur hinsichtlich des Schicksals der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen.

Die Weltgemeinschaft der Reformierten Kirchen (WGRK) veröffentlichte am 9. Oktober eine Pressemeldung – man weiß nicht, ob es Bosheit, Nachlässigkeit, schlichte Dummheit, tiefe Weisheit oder bittere Ironie ist (– mit einem Bild von der israelischen Schutzmauer bei Jerusalem). Mit einer die Grenze zum Zynischen überschreitenden vermeintlichen Unparteilichkeit bringt die WGRK „ihre tiefe Besorgnis über die jüngsten Feinseligkeiten zwischen Israel und Palästina zum Ausdruck“. Die Hamas wird genauso wenig erwähnt wie deren Verbrechen. Als hätten die arabischen Staaten die Hand geführt, erklärt die WGRK zwei Tage nach dem Pogrom relativierend und oberlehrerhaft, „dass die gegenwärtige Situation im Heiligen Land in einen historischen Kontext eingebettet ist“. In postkolonialem Neusprech geht es weiter: „der seine Wurzeln in einer komplexen Geschichte von Imperialismus, Kolonialismus, Antisemitismus und Islamophobie hat“.

Die jüdische Perspektive auf das Land und seine Konfliktgeschichte ist vollständig eliminiert. Wieder von weit oben herab formuliert, ist sich die WGRK „darüber im Klaren, dass der Kern des Konflikts ein politischer und kein religiöser ist.“ Man fragt sich: Hat die WGRK den Machtwechsel in Gaza von der Fatah zur Hamas verschlafen und kann sie die Charta der Hamas nicht lesen? 

Mit einer geradezu absurden moralischen Arroganz fordert die WGRK dann – wie gesagt, zwei Tage nach dem Mord an 1400 Israelis – „den Abriss von Mauern – sowohl im wörtlichen wie übertragenen Sinne –, [sowie die] die Wiederherstellung des Rechts auf Freizügigkeit“. Ein Ende von Selbstmordattentaten (die, nota bene, zum Bau der Mauern und zur weitgehenden Schließung der Grenze zum Gazastreifen führten) oder ein Ende der Raketenangriffe auf Israel zu fordern, kommt dieser Weltgemeinschaft nicht in den Sinn. Folgerichtig ruft die WGRK am Ende nur dazu auf, „insbesondere … auf die Stimmen der palästinensischen Christen zu hören“. Warum sollte man auch auf die Juden hören? Die moralisch bemäntelte kalte Empathiefreiheit gegenüber Israel ist mehr als erstaunlich. Sie ist erschütternd. Noch deutlicher könnte die Parteinahme nur sein, wenn zum Hören auf eine Terrororganisation aufgerufen würde. 

Jüdische Opfer werden übergangen

Der Blick auf die Reaktion des Ökumenischen Rates (ÖRK) zeigt Ähnliches. Gabriele Scherle, Pröpstin und Vorstandsvorsitzende der Bildungsstätte Anne Frank e.V. Frankfurt, hat gemeinsam mit Peter Scherle diese Reaktion  in der FAZ vom 2. November (€) schon analysiert. In der Pressemitteilung vom 9. Oktober ruft der ÖRK  ruft der ÖRK zur „sofortigen Beendigung der tödlichen Gewalt auf“ und erwähnt immerhin die „Angriffe“ der Hamas. In einer fragwürdigen Symmetrie zwischen Terrororganisation und angegriffenem Staat Israel bittet er „beide Parteien um eine Deeskalation der Situation“. Die jüdischen Opfer werden ebenso übergangen wie die jüdischen Geiseln. Ist dies naiv putzig, illusionsgesättigt oder ein Zynismus höherer Ordnung? Ich weiß es nicht.

Die ersten Reaktionen aus den Kirchenbünden der weltweiten Ökumene auf das Pogrom vom 7. Oktober müssen noch ergänzt werden durch einen Blick auf das internationale Material des Weltgebetstags der Frauen (WGT), der am 1. März gefeiert werden wird und dieses Mal von Frauen aus Palästina vorbereitet wird (siehe auch die Beiträge von Kathrin Jütte in zz 12/2023 und Simon Kuntze zz 1/2024 – beide €).

Auf großen äußeren Druck hin und aufgrund nachwachsender Einsicht überarbeitet aktuell das deutsche Komitee des WGT sein schon im September 2023 veröffentlichtes Material und hat, wie auch das österreichische Komitee, das aktuelle Mottobild zurückgezogen (nicht so die Schweiz). Darum möchte ich mich auf das weiterhin international verbreitete Material beziehen, speziell auf das in Deutschland zurückgezogene „Mottobild“, das international alle Materialen als einprägsames visuelles Motiv ziert. Es entstand durch die deutsch-palästinensische Künstlerin Halima Aziz in Abstimmung mit dem palästinensischen Komitee und der New Yorker Zentrale. Dieses Bild wird – Stand heute – im März 2024 als visuelles Tor zum Gottesdienst global millionenfach die Titelseiten der Liturgiehefte schmücken und als Aufsteller in Gottesdiensten präsent sein.

Dieses Leitbild mit den drei betenden Frauen ist stark geprägt von der Darstellung des sogenannten palästinensischen Mohns. Die roten Blumen bilden die Haarkränze der Betenden, werden von diesen in den Händen gehalten und verbinden die betenden Frauen mit dem Boden. Die internationalen Materialien erklären: "Poppy flowers are abundant and meaningful to Palestinians. They remind Palestinians of loved ones who have given their lives for their country”. Das Rot steht für das vergossene Blut der Kämpfer, die im Kampf gegen Israel in den Kriegen von 1948, 1967 und 1973 die Juden gerne ins Meer geworfen hätten, oder aber der Kämpfer, die später als Terroristen, als Mörder und Selbstmordattentäter der PLO, der Hamas und dem Islamischen Dschihad angehörten. Alles überzeugte Judenhasser. Dieses Blut haben – so die Symbolik des Bildes – die drei betenden Frauen an den Händen und ist ihr Stolz im Haar. Es ist das Blut der Kämpfer, die (abgesehen von der marxistischen PLO), sich mit islamischem Furor kompromisslos und explizit die Auslöschung Israels und den Tod der Juden auf die Fahne geschrieben haben. All dieses Blut im Bild steht für die Auslöschung Israels. 

Nicht in den Grenzen von 1967

Die Schlüssel um die Hälse der Betenden symbolisieren, so die Auskunft des Weltgebetstags, „the hope of return to Palestine.“ Doch diese Rückkehrhoffnung bezieht sich für die Künstlerin Aziz offensichtlich nicht auf das Palästina in den Grenzen von 1967. Es geht um alles – ohne Israel, „from the river to the sea“. Dass diese palästinensische Ein-Staaten-Lösung judenfrei ist, zeigt ein drittes Bild der Künstlerin mit der Al-Aqsa Moschee und einer Kirche – ohne Synagoge. Die Rückkehrsehnsucht entpuppt sich als schlichter eliminatorischer Antisemitismus. Wie empathiefrei dieser Antisemitismus gegenüber dem Pogrom des 7. Oktobers ist, zeigt noch das „Statement concerning the Situation in the Holy Land“ des Palästinensischen Komitees des WGT vom 16. Oktober 2023.

Mit dem Leitbild für 2024 wird ein offener Antisemitismus mit christlich-religiöser Schubkraft versehen. Mit dem wahrhaft blutbegeisterten Bild des Weltfrauentages wird offen ausgesprochen, was die anderen internationalen Organisationen etwas vornehmer von sich geben. Es ist ein Faktum: Hinter dem Schleier einer moralischen Äquidistanz gegenüber allen Konfliktparteien und der Identifikation mit den palästinensischen Opfern gibt es eine lebendige Ökumene des Antisemitismus. In den vermeintlich als nach allen Seiten symmetrisch sprechende Friedensboten veredelt sich der israelbezogene Judenhass mit Gesten moralischer Überlegenheit. Aggressive Vernichtungsträume verpuppen sich in religiöser Barmherzigkeit. Wie das deutsche Komitee des WGT sich zu dem Antisemitismus des internationalen Zweiges des WGT stellen wird, bleibt abzuwarten. Auch ein Schweigen wäre sprechend. 

Angesichts dieses Befundes steht unübersehbar die Frage im Raum: Wie kommt es zu diesem neuen christlichen Antisemitismus? Welche Spuren finden sich an diesem theologischen Tatort? Meine These ist: Es ist der Tod des theologischen Anti-Antisemitismus, der das Tor zu einem neuen christlichen Antisemitismus weit öffnet. Doch wie kommt es zum Tod des Anti-Antisemitismus? Wie kommt es zum Abbau des besonderen Verhältnisses des Christentums zum Judentum – ein Verhältnis, das nach der Shoa zumindest auf protestantischer Seite mit guten Gründen entdeckt, durchdacht und gefeiert wurde? Was ist geschehen? 

Die Spuren am „Tatort“ deuten auf das Problem horizontaler Transzendenz. Es ist der theologische Umbau hin zu horizontaler Transzendenz, der die Sicherungen eines Anti-Antisemitismus verschwinden lässt und zugleich die Kirche auf fatale Weise verführbar macht.

Umstellung auf nach-theistisch horizontale Transzendenz

Dietrich Bonhoeffer formuliert am 14. August 1944 prägnant: „Unser Verhältnis zu Gott ist kein »religiöses« zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz –, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im »Dasein-für-andere«, in der Teilnahme am Sein Jesu. Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente. Gott in Menschengestalt! … Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ (Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Bd. 8, 558 ff.). 

Es ist die sich langfristig in den protestantischen Kirchen des Westens durchsetzende Umstellung auf eine nach-theistische horizontale Transzendenz, das heißt auf eine Gottesbegegnung nur im Zwischenmenschlichen, die im Lauf der Zeit eine fatale Alternative zeitigt: Entweder führt die Gottesbegegnung im Anderen bei einer realistischen Wahrnehmung einer Welt voller Gewalt, Dummheit und Egoismen zu einer pessimistischen Dämonisierung Gottes. Oder aber führt dieses Modell der Gottesbegegnung im Anderen zu einer geradezu grenzenlos selbstillusionierungsbereiten Verkennung der Möglichkeiten und Kräfte der politischen Weltgestaltung. 

Die große Transformation eschatologischer Themen in politische Programmformeln im Protestantismus der letzten Jahrzehnte dokumentiert die Wahl innerhalb dieser Alternative. Die vorzeitlich-utopische Integrität der Schöpfung oder auch die strikt eschatologische Kombination von Frieden und Gerechtigkeit werden zu leitenden ethischen Optionen in dieser im Rahmen von horizontaler Transzendenz selbsterzeugten und unausweichlichen Dilemmasituation. 

Es geht letztlich nicht mehr um einen jenseits von menschlichem Handeln angesiedelten Bund Gottes mit den Menschen und auch nicht mehr um Heil. Nein, es geht nur um die Bewahrung der Schöpfung und um die Arbeit zugunsten eines gerechten Friedens. Diese großformatige, auch Lieder und Liturgien einschließende Umstellung hatte zunächst im Verhältnis zum Judentum einen sympathischen Effekt.

Verabschiedung von Heil, Bund, Versöhnung

Die faktische und operative Verabschiedung von Konzepten wie Heil, Bund, Versöhnung mit Gott oder auch einem göttlichen, die Menschen ausschließenden Handeln pro nobis führt zum Ende des klassischen Antisemitismus. Der Jahrtausende alte christliche Antisemitismus ist theologisch tot. Er hatte das Judentum in Sachen Heil ersetzt. Mit dem Aufkommen des Christentums, so die vielfach variierte These, sei die Stafette des Heils auf das Christentum übergegangen. Die Kreuzigung Jesu durch die Juden und die Zerstreuung in der Diaspora seien der Beweis. In dem Moment, wo weite Teile des westlichen Christentums mit Erlösung, Bund und Transzendenz nichts mehr anfangen können und die verschiedenen empirischen Religionen ohnehin irgendwie nur eine Variante derselben „Religion“ mit einer Praxis zugunsten der Bewahrung der Schöpfung und der Suche nach gerechtem Frieden sind, fällt der klassische theologische Antisemitismus in sich zusammen. Kurz und knapp: Wo es so etwas wie Heil nicht mehr gibt, entfällt der Streit. Es gibt schlicht nichts, was substituiert wird. 

So sympathisch das Verschwinden des klassischen christlichen Antisemitismus ist, so problematisch ist, was sich bei einem genaueren Blick erschließt: Auch der über Jahrzehnte erarbeitete Anti-Antisemitismus löst sich damit auf. Die deutschen Debatten der 1980er- und 1990er-Jahre um den Bund sind heute weithin weißes Rauschen oder Begriffsfolklore. 

Was oft übersehen wird: Die Verabschiedung von vertikaler Transzendenz und allen Theismen in einer dezidiert post-theistischen oder a-theistischen Theologie verändert das Verhältnis zum Judentum grundlegend. Ohne die prägnant theologische gefasste gemeinsame Wurzel des Judentums löst sich die besondere Stellung der christlichen Kirche zum Judentum auf zugunsten einer gleichen Nähe und Distanz gegenüber allen anderen Religionen. Es werden alle am Maßstab der Bewahrung der Schöpfung und der Suche nach Gerechtigkeit und Frieden gemessen. 

Von einem besonderen theologischen Verhältnis zu den Juden und zu Israel zu sprechen, wäre vor dieser Denkfolie geradezu diskriminierend. Dieses besondere Verhältnis mag hier und da noch als sprachliche Folklore mitgeführt werden, aber in der Sache geht es, folgt man dem Umbau hin zu horizontaler Transzendenz, um Menschenrechte und ökologische Gerechtigkeit. Das Verhältnis zum Judentum wird gewissermaßen normalisiert, sprich: vergleichgültigt. Für das Christentum hat das Schicksal der Menschen in der anderen Geschichte des Weltabenteuers Gottes keine besondere Relevanz. Ist da kein Gott jenseits des menschlichen Gerechtigkeits- und Friedenshandelns, so ist ein Festhalten an einer das Judentum und das Christentum verbindenden, weil übergreifenden Gottesgeschichte schlicht sinnlos – oder auf jeden Fall nicht entscheidungsrelevant. Wenn Dietrich Bonhoeffer wüsste, was die unbeabsichtigten Folgen seines entschiedenen Plädoyers für horizontale Transzendenz sind…

Wechsel des Mediums

Der Antisemitismus verschwindet nicht. Weder der allgemeine, noch der speziell christliche. Er wandelt sich. Letztlich wechselt er nur das Medium. Gönnte man den Juden früher nicht das Heil, so gönnt man ihnen heute nicht das Land. War früher für Juden das volle Bürgerrecht im Heiligen Römischen Reich unerreichbar, so wird ihnen heute das volle Bürgerrecht im Land der universalen Menschenrechte und der Humanität verweigert.

Der Menschenrechtsantisemitismus hat nichts gegen Juden an sich. Juden sind komisch, aber doch irgendwie okay, solange sie kein Land beanspruchen. Solange sich Juden mit der Vertreibung abfinden oder sich erneut vertreiben lassen, sind sie akzeptable Zeitgenossen. Aber die Beanspruchung und dann die Verteidigung des Landes machen sie nicht nur suspekt. Nein, als vermeintliche Siedler verlieren sie ihr Lebensrecht. „Free Palestine!“ „From the river to the sea!” – Land zu beanspruchen ist für viele im Westen nicht nur religiös archaisch und religiös peinlich. Es ist, so wird der Faden gesponnen, roh und räuberisch gewaltaffin. Im vernebelten Blick postkolonialer Theorie macht es sie zu Siedlern, die einer indigenen Bevölkerung das Land rauben. Und dies ist selbstredend ungerecht. 

Daher gilt: Juden sind okay, solange sie sich mit dem kompromisslosen Anspruch auf das Land durch Palästinenser abfinden. Weil sie aber ihr Land begehren, sind sie Troublemaker. Da die Verbindung von Juden und Land archaisch, peinlich und ungerecht war und ist, muss man sich auch nicht eindeutig positionieren, wenn andere wieder einmal die Juden ins Meer werfen wollen.

Eine böse Ironie der Geschichte ist zweifellos, dass die Logik der Sakralisierung der hohen Moral und der Menschenrechte (vergleiche dazu Hans Joas, Sakralität der Person), das heißt deren faktische religiöse Aufladung, den neuen Menschenrechtsantisemitismus wieder sehr nahe an die alte Variante des Antisemitismus heranrückt. Nur so wird plausibel, warum gegenwärtig Juden weltweit mit geradezu heiligem Furor von Linken, Rechten und Muslimen geächtet werden. Nur darum kann sich der linke Menschenrechtsantisemitismus mit dem menschenrechtsfernen islamischen Antisemitismus so konfliktfrei verschwistern und diese Siedetemperatur der gewaltbereiten Empörung erreichen. 

Nicht wenige Christenmenschen möchten das Judentum anerkennen, ohne in den Schlamassel einer theologischen Anerkennung des politischen Israels zu geraten. Die christliche Israeltheologie ist, und dies ist zuzugestehen, ein religiös und politisch vermintes Gelände. Wer aber dieses Gelände – theologisch vornehm und religiös konfliktscheu – nicht betreten möchte, ist feige. 

Anerkennung muss nicht symmetrisch sein

Theologisch ist zunächst Dietrich Bonhoeffers Plädoyer für horizontale Transzendenz zurückzuweisen. Jede christliche Theologie nach der Shoa sollte aus der anerkennenden Einsicht leben, dass der trinitarisch zu begreifende Gott auch nach dem Christusereignis mit den Juden noch seine eigene Geschichte gestaltet. Dies schließt ein, dass sich das Judentum auf vielgestaltige Weise weiterentwickelt, selbstverständlich. Dies schließt für Christen auch ein, dass diese Anerkennung nicht symmetrisch sein muss. Die Mehrheit des gegenwärtigen Judentums wird weiterhin davon ausgehen, dass die Christen Götzendienst betreiben. Allerdings mindert dies für Christen nicht die Gültigkeit ihrer Einsicht. Wenn Christen die Psalmen beten, dann betreten sie schon immer als fremde Gäste das Haus Israel.

Was ist mitgesagt, wenn Christen das Judentum als ein nicht aufgegebenes und verabschiedetes, sondern weiter verfolgtes Projekt Gottes betrachten? Auch wenn das Judentum die Vertreibung und den Landverlust vielgestaltig theologisch verarbeitet hat, ist es von der Verheißung des Landes nicht zu trennen. Diese ist Teil der Verleiblichung des Heils.

Die Frage, die im Raum steht, lautet daher: Muss die christlich-theologische Anerkennung der jüdischen Verbindung zum Land den einen Schritt weitergehen und in diese Anerkennung die Wirklichkeit des politischen Staates Israel einschließen? Ist der Staat Israel für Christen Teil der von ihnen anerkannten anderen Gottesgeschichte, der Geschichte mit dem zuerst erwählten Volk? 

Hierüber wird in den evangelischen Kirchen gestritten. Ich denke, christliche Theologie kann an diesem Punkt nur entschlossen und entschieden ja sagen. Sie kann nicht anders. Die Zumutungen von jüdischer Seite sind klar: Das Dokument Dabru Emet spricht davon, dass Christen zu würdigen wissen, dass Israel den Juden als physisches Zentrum des Bundes zwischen ihnen und Gott versprochen – und gegeben wurde.  Wer theologisch zum Judentum Ja, aber zum Land Israel Nein sagt, weicht dem Ärgernis des Weges Gottes in die Konkretion, in die Leiblichkeit und in die Partikularität aus. In den Augen der „Free Palestine“-Christen dürfen und müssen die Juden dann wohl das Land denken und ersehnen, dürfen aber kein wirkliches Land haben. 

Landzusage umgebaut

Das Christentum hat, wie später auch die jüdische Diasporatheologie, die Landzusage umgebaut, zweifellos. Wer das Judentum theologisch anerkennt, kann ihm aber Israel als politische Verwirklichung der Verheißung nicht theologisch verweigern. Christen haben kein Recht, die Juden theologisch und politisch auf die Diasporasituation festzulegen. Sowohl die Landzusage als auch der Antisemitismus waren immer theo-politisch. 

Christologisch gewendet: Weil Jesus sehr konkret leiblich Jude war und darum Pilatus im apostolischen Glaubensbekenntnis steht, können Christen nicht zur jüdischen Sehnsucht nach dem Land Ja sagen und zu seiner physisch-politischen Verwirklichung in Israel heute theologisch Nein sagen. Wer theologisch einen Weg Gottes mit dem Judentum anerkennt, kann diesem Judentum die Möglichkeit des Landes nicht verweigern, sondern muss es ihm gönnen. Und wer dies anerkennt, muss all denjenigen nicht nur politisch, sondern theologisch widersprechen, die die Existenz des Staates Israel in Frage ziehen. 

Auf dieser Basis kann und muss Israel politisch kritisiert werden. Aufgrund dieses Ja zum Land ärgern sich Christen ganz besonders über Torheiten in der israelischen Politik. Nur: Weder eine vermeintlich befreiungstheologische und postkoloniale noch eine politische oder gar militärische Bestreitung des Existenzrechts Israels ist damit möglich. Das Blut derer, die sich die Vernichtung des Israels auf die Stirn binden, kann nicht gottesdienstlich gefeiert werden.

Ich möchte so weit gehen: Wer theologisch nicht entschieden Ja zu Israel sagt, lockert den Boden für all diejenigen, die auch politisch nicht Ja sagen wollen und den Hass säen. Wer nicht theologisch und in der Konsequenz dann auch politisch Ja zum Staat Israel sagt, ist am Ende doch ein lupenreiner religiöser Antisemit und praktiziert eine Wegbereitung für den eliminatorischen politischen Antizionismus. Darum bedurfte es nicht des Pogroms des 7. Oktobers, um in dem von Halima Aziz gemalten Bild des WGT einen israelbezogenen eliminatorischen Antisemitismus zu erkennen. Man kann, wie es der Nahostreferent des Berliner Missionswerks, Simon Kuntze, es wohl mit vielen anderen Menschen tut, mit dem WGT die Hoffnung auf ein Zeichen des Friedens verbinden (vergleiche zz 1/2024 €) . Mit dem Mottobild des internationalen WGT wird dies nicht gelingen. Es repräsentiert ikonographisch einen kulturellen Nährboden, in dem die Hamas ihre Wurzeln schlägt und auf dem lebend die Zivilbevölkerung nicht nur Opfer ist. Aus der selbstgewählten Falle, dass ein Ja zu palästinensischer Staatlichkeit ein Nein zu Israel einschließt, können sich nur die Palästinenser selbst befreien. Gefangen in dieser Falle, führte bisher jeder initiierte Krieg gegen Israel zu weiteren Verlusten – was das unvermeidliche Risiko eines Krieges ist.

Um an dieser Stelle keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Mit dem christlichen Ja zu der jüdischen Verbindung zum Land wird keine eigene christliche Israel- oder Landtheologie befürwortet. Damit ist auch keine Einordnung des Staates Israel in einen messianischen Fahrplan vorgenommen. Ebenso wenig ist damit gesagt, dass es eine Restitution Israels in den alten Kerngebieten Samaria und Judäa geben muss. Auch wird keiner Siedler-Ideologie gefrönt. Allerdings ist aber tatsächlich einer postkolonial-befreiungstheologischen wie auch einer palästinensischen Bestreitung des Existenzrechts Israels der Boden entzogen. Diese theologische Einsicht hat politische Konsequenzen. All denjenigen, die faktisch das Existenzrecht Israels bestreiten – „From the river to the sea!“ –, sind mit einer Hermeneutik des Verdachts zu konfrontieren. Dies gilt auch für palästinensische Frauen und selbsterklärte palästinenseraffine Linke. 

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